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Die drei Träume

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In einer Zeit, als die Menschen noch an Träume glaubten, lebte ein junger Königssohn einsam und allein auf einem verlassenen Schloss. Die Eltern hatten im Kampf den Tod gefunden, sein Bruder war verschollen und die Diener und Mägde hatten das Land verlassen, als wilde Horden Krieg und Elend über das Königreich gebracht hatten. Der Junge war von Kindesbeinen an auf sich gestellt gewesen, an andere Menschen vermochte er sich kaum zu erinnern. Nur die Krone, die er mit Stolz trug, erinnerte noch an seine Herkunft. Das verfallende Schloss zu verlassen, wagte er nicht, denn obwohl er sich die blutige Vergangenheit des Königreiches nach fast sieben Jahren kaum noch vor Augen führen konnte, hatte ihn der Verlust seiner Familie doch gelehrt, die Menschen samt ihren Waffen und Grausamkeiten zu fürchten. So genoss er das sichere Gefühl, in der Stille des Schlosses umherzustreifen, nur begleitet von ein wenig Getier, das sich in den Mauern niedergelassen hatte. Doch tief in seinem Inneren ahnte der Prinz, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, denn ihm wurde lange Zeit kein Schlaf zuteil. Nacht um Nacht lag er wach auf seinen Kissen, aber sobald er die Augen schloss und die Müdigkeit ihn übermannen wollte, ließ seine Seele ihn keine Ruhe finden. Eine dunkle, alles umfassende Leere schien sich vor seinen Augen auszubreiten, wann immer er sich zwingen wollte, einzuschlafen. Die Verzweiflung wuchs und ein erholsamer Schlaf wurde der dringlichste Wunsch des Kindes. Doch wieder und wieder wurde es enttäuscht, bis es schließlich in einer dunklen Herbstnacht so verzweifelt war, dass es in bittere Tränen ausbrach. In diesem Moment krabbelte aus einer Mauerspalte ein kleiner Marienkäfer, der nach dem Sommer dort ein Versteck für den Winter gefunden hatte. Es war ein ungewöhnliches Tier, denn drei goldene Punkte zierten seinen Rücken.
„Warum weinst du so jämmerlich, junger Prinz?“, fragte das Käferlein mit heller Stimme.
„Ich kann nicht schlafen, seit so langer Zeit nicht“, erzählte der Junge schluchzend, „doch ich bin so müde. Ich gäbe alles für eine einzige Nacht Schlaf. Ich möchte ruhen und träumen.“
„Wer träumen will, muss etwas erlebt haben“, gab das Tier weise zurück, „du aber bist stets allein hier im Schloss und streifst durch die immer gleichen Räume. Mit welchen Bildern soll dein Herz dich des Nachts erfreuen, wenn du doch keinerlei Eindrücke sammelst?“
Der Prinz dachte über die Worte des Marienkäfers nach und erkannte, dass er die Wahrheit sprach. Seine Verzweiflung wollte noch größer werden.
„Es ist niemand hier außer mir und ich wage es nicht, hinauszugehen. Das Land meiner Eltern wurde verwüstet, dort erwarten mich nur Elend und Einöde. Kannst du mir nicht helfen, du liebes Tier?“
Der Käfer bewegte seine Fühler bedächtig hin und her, während die Punkte auf seinem Rücken zu funkeln begannen.
„Ich kann dir helfen“, sprach er, „denn die goldenen Punkte auf meinem Rücken sind Träume, die ich von einer guten Fee bekam und an einen Menschen weiterverschenken kann. Ich will sie dir geben, damit du drei Nächte lang sehen kannst, was dein Herz ehrlich begehrt.“
Ohne ein weiteres Wort drehte der Marienkäfer sich um und verschwand durch eine Mauerspalte. Der junge Prinz jedoch fühlte, wie eine nie gekannte Schwere seine Glieder in Besitz nahm. Die Augen wollten ihm zufallen und kaum, dass er sich auf seinen Kissen niedergelassen hatte, versank er tatsächlich in einen tiefen Schlaf. In den folgenden zwei Nächten wiederholte sich das Geschehene und der junge Prinz wurde jeden Tag zufriedener. Nach der dritten Nacht suchte der Marienkäfer erneut das Schlafgemach des Jungen auf. Die goldenen Punkte waren von seinem Rücken verschwunden.
„Nun, Königssohn“, sagte der Käfer, „welche Träume haben dir meine Punkte gebracht?“
Der Junge strahlte das Tier an.
„Herrlich habe ich geschlafen, lieber Käfer, und so wundervolle Dinge habe ich gesehen. In der ersten Nacht erschienen mir meine geliebten Eltern. Sie sagten mir, ich wäre zu jung, um für mich selbst zu sorgen und versprachen, es würde sich jemand finden, der sich meiner liebevoll annimmt. In der zweiten Nacht sah ich eine Handvoll guter Diener, die sich um das Schloss kümmerten und fröhlich bei der Arbeit waren. Den sonderbarsten Traum jedoch hatte ich in der letzten Nacht. Du kamst darin vor.“
Zögernd sah der junge Prinz den Käfer an. Dieser war bei den letzten Worten des Jungen sehr aufgeregt geworden und krabbelte näher an ihn heran.
„Und“, drängte er, „was ist dann geschehen?“
Der Prinz setzte seine Erzählung fort.
„In meinem Traum sah ich mich selbst, wie ich meine Krone abnahm und sie dir gab. Ich weiß nicht, was dann geschah, denn plötzlich ging die Sonne auf und ich wurde geweckt. Sag, Käfer, verlangst du etwa meine Krone als Lohn für die drei Träume?“
Misstrauisch beäugte der Königssohn das Tier, das abwehrend den Kopf schüttelte.
„Nein, mein Junge, ich verlange keine Belohnung. Doch gib mir die Krone aus Vertrauen. Denke daran, was Träume bewirken können. Denke daran, dass Träume wahr werden können. Es soll dir nicht leid tun.“
Der Prinz dachte kurz nach. Doch die Bilder seiner Eltern und die Versprechungen einer besseren Zukunft waren gar zu eindringlich. Die Träume hatten ihm gezeigt, was seine Herzenswünsche waren und er war bereit, etwas dafür zu riskieren. So nahm er seine goldene Krone ab und legte sie vor den Marienkäfer.
Plötzlich wurde der ganze Raum von hellem Licht durchflutet. Wo eben noch der Käfer gesessen hatte, stand nun ein hochgewachsener junger Mann, der ein paar Jahre älter als der Prinz war.
„Wer bist du?“, fragte der Königssohn erstaunt.
„Ich bin dein älterer Bruder und endlich erlöst von meinem Fluch. Oh, kleiner Bruder, es ist so schön, dich nunmehr in menschlicher Gestalt zu sehen.“
„Was ist mit dir geschehen?“, fragte der Prinz.
Er erkannte die Ähnlichkeit der Familie im Antlitz des anderen und spürte, dass dieser die Wahrheit sprach.
„Als unser Land überfallen wurde, war eine Fee im Gefolge der Angreifer, die unser Elend lindern wollte, denn sie war gütig und hatte Mitleid. Sie konnte mich nicht retten, doch sie verwandelte mich in einen Käfer. Sie war es, die all die Jahre im Verborgenen für dich gesorgt hat. Ich jedoch sollte nach sieben langen Jahren die Möglichkeit bekommen, einmal mit dir zu sprechen und durch deine Träume zurückzukommen, sofern du mir die Krone übergibst. Zum Glück hast du auf mich gehört. Du bist nicht mehr allein, mein Bruder. Ich werde mich um dich kümmern und gemeinsam werden wir unser Land zu neuem Glanze führen.“
Die Brüder umarmten einander. Sie wussten, dass nun alles gut werden würde und waren dankbar, dass sie in einer Zeit lebten, als die Träume noch Macht besaßen.
 
Quelle: nicht angegeben

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