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Die falsche Enkeltochter

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Ein Mann ging auf die Jagd und tötete einen Adler. Als er ihn nach Hause gebracht hatte, sagte er zu seiner Frau: „Bereite mir diesen Adler zu. Du darfst aber nichts davon essen!“ Seine Frau hatte eine Tochter und einen Sohn, der eben entwöhnt worden war. Nachdem sie den Vogel gekocht hatte, brach sie sich eine Keule ab und aß sie auf. Bald darauf kam der Mann und wollte den Adler essen. Als er ihn ansah, fragte er: „Wo ist das eine Bein?“ Die Frau gab vor, nichts zu wissen, doch der Mann sagte drohend: „Du wirst es bald wissen.“ Da sprach die Frau zu ihrer Tochter: „Du, mein Kind, nimm deinen Bruder auf den Rücken und geh mit ihm zu eurem Großvater, denn dein Vater will mich umbringen.“
Das Mädchen kleidete sich an, nahm ihr Brüderchen auf den Rücken, setzte sich eine Kalebasse mit Fett auf den Kopf, nahm auch ihren Korb und ging fort. Unterwegs traf es Nwambilu-makokoro, jenes Tier, das aussieht wie ein Mensch, das aber einen kurzen Schwanz hat. Nwambilu war dabei, Raupen zu braten. Er sprach die beiden an: „Guten Morgen, meine Kinder, wohin geht ihr? Wollt ihr von meinen Raupen essen?“ Das Mädchen antwortete: „Nein, wir essen keine Raupen. Wir gehen zu unserem Großvater.“ Nwambilu bat sie, einen Augenblick zu warten, da er mit ihnen kommen wolle. Er aß seine Raupen auf, und dann gingen sie gemeinsam weiter. Als sie eine Zeitlang gelaufen und beinahe beim Großvater der Kinder angelangt waren, stiegen sie zu einem Fluss hinab. Nwambilu sagte: „Komm, lasst uns baden, sonst kommen wir schmutzig an.“ Das Mädchen war einverstanden, nahm die Kalebasse vom Kopf, band das Kind los und legte ihre Kleider ab. Auch Nwambilu zog sich aus, und gemeinsam gingen sie ins Wasser und tauchten unter. Nach kurzer Zeit schon kam Nwambilu wieder aus dem Wasser, zog die Kleider des Mädchens an und band sich das Kind auf den Rücken. Als das Mädchen aus dem Wasser kam, fragte sie: „Warum tust du das, du ziehst meine Kleider an, nimmst meine Decke und bindest dir das Kind auf den Rücken?“ Nwambilu meinte, dass sie sich nicht darum scheren solle, er wolle ihr später die Kleider zurückgeben. Das Mädchen fing an zu weinen, dann aber nahm sie den Rock von Nwambilu und zog ihn an. Als sie sich dem Dorf des Großvaters näherten, sagte das Mädchen zu Nwambilu: „Gib mir meine Kleider zurück!“ Nwambilu aber weigerte sich, und so langten sie beim Dorf an. Der Großvater der Kinder lief auf Nwambilu zu, grüßte und rief: „Meine Enkeltochter ist gekommen!“ Dann fragte er: „Ist das auf dem Rücken dein jüngerer Bruder? Und wer begleitet dich noch?“ Nwambilu antwortete: „Ja, das ist mein jüngerer Bruder, und das ist Nwambilu.“ Die Großeltern freuten sich. Es war aber die Zeit, wo die Vögel von den Feldern zu verscheuchen waren. Und so fragten sie ihre vermeintliche Enkeltochter: „Kann nicht jener Nwambilu auf das Feld gehen und die Vögel verscheuchen?“ Die wirkliche Enkelin ging also aufs Feld, kurz darauf folgte ihr Nwambilu. Als sich ein Vogelschwarm näherte, sagte er: „Da sind sie, Nwambilu.“ Das Mädchen aber rief: „Ich bin nicht Nwambilu, du bist es.“ Andere Vogeltreiber in der Nähe hatten das mit angehört. Am nächsten Morgen wurde das Mädchen wieder aufs Feld geschickt, weil man sie für Nwambilu hielt. Da wurde sie sehr traurig und sang ein Lied: „Ihr Vögelchen, die Mutter ist an allem schuld, weil sie von dem Fleisch gegessen hat, das ihr nicht gehörte.“ Und wieder hatten ihr andere Vogeltreiber zugehört. Als sie am Abend nach Hause kamen, erzählten sie die Sache dem Großvater: „Ach, dieses Kind ist beklagenswert. Es scheint nicht Nwambilu zu sein. Nwambilu ist derjenige, der die Kleider trägt. Wir haben gehört, wie er dem Mädchen die Vögel zutrieb und wie sie rief, dass sie nicht Nwambilu sei. Und dann sang sie ein Lied, um ihr Leid zu lindern.“ Die Großeltern versprachen, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Am nächsten Tag folgten sie dem Mädchen heimlich aufs Feld und konnten selbst hören, wie das Mädchen sich dagegen wehrte, dass sie Nwambilu genannt wurde, und wie sie das Lied sang: „Ihr Vögelchen, die Mutter ist an allem schuld, weil sie von dem Fleisch gegessen hat, das ihr nicht gehörte. Sie sagte: ‚Geh zu deinem Großvater. ‚ Aber ich habe keinen Großvater mehr.“ Da riefen die Großeltern: „Ja, tatsächlich, das ist unser Kind. Man sieht es an ihren Gesichtszügen, dass sie eine Enkelin von uns ist.“ Am Nachmittag gruben die Großeltern im Dorf ein Loch und entfachten darin ein Feuer. Als es glühte, breiteten sie Gras darüber und außerdem Matten. Dann sagten sie zu Nwambilu: „Komm mit, Enkelkind, wir wollen baden gehen, du bist sicher müde von der großen Hitze.“ Nwambilu merkte, dass man ihn entlarvt hatte, und weigerte sich, mitzukommen. Er wusste, dass sie seinen Schwanz sähen, wenn er seine Kleider ablegte. Immer wieder wich er zurück: „Ich will nicht baden.“ Schließlich zwang man ihn, sich auszuziehen. Er wurde in das Loch gestoßen und verbrannte in den Flammen. Die Großeltern nahmen die Kleider und gaben sie ihrer Enkelin zurück. Den Rock von Nwambilu warfen sie ebenfalls in das Loch.
Es vergingen einige Tage, und ein schwerer Regen zog über das Land. Aus dem Loch, in dem Nwambilu verbrannt war, wuchs eine Kürbispflanze empor, die einen großen Kürbis hervorbrachte. Eines Tages, als alle Dorfbewohner aufs Feld gegangen und nur einige Mädchen zu Hause geblieben waren, um das Essen zu kochen, löste sich der Kürbis von seinem Stiel und rollte auf die Mädchen zu. Er blieb vor den Mahlzeiten stehen, die die Mädchen aufgetan hatten, und fragte: „Wem gehört die hier?“ Die Mädchen antworteten: „Sie gehört dem Vater.“ Der Kürbis verschluckte die Mahlzeit und fragte, wem die nächste gehöre. Als er eine Antwort bekommen hatte, verschluckte er auch diese Mahlzeit. So ging es weiter, bis er das gesamte Essen verschlungen hatte. Dann rollte er wieder zurück und verband sich mit seinem Stiel. Die Mädchen wunderten sich, noch nie hatten sie einen Kürbis gesehen, der Essen verschluckt hatte. Als die Eltern vom Feld zurückkehrten, sagten sie: „Gebt uns etwas zu essen.“ Da erzählten die Kinder, was sie erlebt hatten. Doch die Eltern glaubten ihnen nicht und verprügelten sie. Am nächsten Morgen gingen die Erwachsenen wieder aufs Feld, die Knaben und Mädchen blieben zurück. Kaum hatten die Mädchen das Essen gekocht und aufgetan, rollte der Kürbis wieder herbei und verschluckte alle Mahlzeiten. Am Abend verlangten die Eltern das Essen, und wieder erzählten die Kinder ihnen vom Kürbis: „Er ist unersättlich, er hat alles aufgegessen. Es ist furchtbar, was ein Kürbis verschlucken kann.“ Nun waren die Eltern sehr verwundert, und einer der Männer schlug vor: „Prügeln wir unsere Kinder nicht. Ich werde mich selbst hinsetzen und sehen, ob es wahr ist, was sie erzählen.“ Als es tagte, gingen die Eltern aufs Feld. Die Kinder und jener Mann aber blieben zu Hause. Letzterer hatte sich eine Axt geschliffen und hielt sich versteckt. Die Kinder kochten das Essen, und als sie es auftrugen, löste sich der Kürbis von der Pflanze, kam herangerollt und verschluckte das Essen wie gewöhnlich. Als er aber zur Pflanze zurückrollen wollte, fiel der Mann mit seiner Axt über ihn her und hackte ihn in kleine Stücke. Die einzelnen Teile warf er in alle Himmelsrichtungen, bis der Kürbis gänzlich vernichtet war.

Quelle:
(Südafrika – Tsonga)

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