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Die Fiedel des Küfermeisters

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Es war einmal ein trauriger Küfermeister, der sein Leben lang in seiner kleinen Stube saß und Fässer machte. Das Holz wurde gespannt und gebogen, die Planken zusammengesetzt. Die Fässer wurden ausgebrannt, um sie abzudichten. Der Küfermeister zimmerte Deckel, hobelte Latten, setzte die Ringe auf.

Seine Frau und seine drei Söhne beobachteten ihn beim Arbeiten. Der Küfermeister war ein stiller Mann, der nur sprach, wenn es nötig war. Und er erwartete auch nicht, dass die anderen mit ihm sprachen. Er saß stumm an seinem Arbeitstisch. Sein einziger Genuss war ein Becher Rotwein, der immer in Reichweite stand. Daraus nippte er. Das ließ ihn vergessen, wie öd die Arbeit war.

Seine Frau machte den Haushalt, kümmerte sich um die Kinder, leistete ihm Gesellschaft und saß auf der Bank vor dem Kachelofen ihm gegenüber. Sie strickte und stopfte Kleidungsstücke, putzte, räumte und führte die Haushaltskasse. Die Leute bezahlten die Fässer bei ihr. Der Schreiner bekam von ihr das Geld für das angelieferte Holz. Ihr Mann rührte das Geld nie an.

Eines Tages kam der Zirkus in die Stadt. Die Söhne stürmten aufgeregt in die elterliche Stube: „Habt ihr es gehört? Ein richtiger Zirkus ist in der Stadt!“
Der Vater sah sie wortlos an, beugte sich wieder über sein halbfertiges Fass und setzte sein Tagesgeschäft fort.
„Können wir den Zirkus besuchen?“, fragten die Söhne also die Mutter.
„Wenn’s kein Geld kostet“, lautete die klare Antwort, und keins der Kinder wagte, nach dem Eintrittsgeld zu fragen.

Doch die Kinder hatten Glück, der Zirkus kam zu ihnen. Am nächsten Tag stand ein hagerer Mann – vielleicht ein Italiener, vielleicht ein Zigeuner – an der Gartenpforte.
„Guten Tag, ich heissen Franco. Wieviel kosten?“, fragte er und zeigte auf die aufgestapelten Fässer an der Hauswand.
Die Jungs holten ihre Eltern aus dem Haus. Der fremde Mann wiederholte seine Frage.
„50 Mark“, erklärte der Küfermeister grußlos.
„Pro Fass?“
Der Küfermeister nickte.
„Viel Geld“, murmelte der Zirkusmann.
Die Küfermeisterfamilie wartete.
Der Südländer kratzte sich den Kopf: „Ich zahlen nach Aufführung.“
Der Küfermeister schüttelte den Kopf: „Jetzt.“
Franco überlegte noch, da drehte sich der Küfermeister wieder um und ging in sein Haus.

Am nächsten Tag war der Mann aus dem Zirkus wieder da. Er winkte den Küfermeister vertraulich zur Gartenpforte und erklärte: „Ich brauchen drei Fässer für Kunststücke. Ich lassen Geige als Pfand.“ Und er zog aus einem grauen Tuchsack eine wunderschöne Fiedel aus Rosenholz. Der Küfermeister bekam große Augen, denn er sah, dass die Geige sehr schön und fein gearbeitet war.
Der Zirkusmann sah die Begeisterung in den Augen des Handwerksmanns und fügte hinzu: „Du kommen mit Frau und Kinder zu Zirkus. Ich zahlen nach Aufführung.“

So saß die Küfermeisterfamilie zum ersten Mal in einer Zirkusaufführung. Clowns balancierten auf den Fässern des Küfermeisters; die Akrobaten bauten einen Turm aus ihnen; der Zauberer ließ die schöne Seiltänzerin aus einem Fass erscheinen. Der Südländer stellte sich auf eins der Fässer und spielte eine langsame Ballade auf einer anderen Geige.
Die Küfermeisterfamilie verfolgte das Spektakel genau und ließ sich nichts entgehen. Noch nie hatten sie so etwas gesehen. Am Ende der Vorstellung applaudierte sogar der zurückhaltende Küfermeister.
Das Publikum pfiff und johlte. Die Aufführung war sehr gelungen.
Die Küfermeisterfamilie ging froh nach Hause; der Küfermeister hatte das Gefühl, eine andere Welt betreten zu haben.

Am nächsten Tag wartete er, dass der Südländer ihm die Fässer zurückbrachte oder sie bezahlte. Aber der Fiedler aus dem Zirkus kam nicht.
Auch am nächsten Tag kam der Fremde nicht. Hatte Franco sie vergessen? Hatte er kein Geld?
Die Frau des Küfermeisters ging zum Nachbarn und fragte ihn Rat. Der Nachbar sagte ihr, dass der Zirkus schon abgefahren war.
Da war der Küfermeister traurig und wütend zugleich. Er berührte den lackierten Geigenkörper. Was sollte er jetzt machen? Er schlug einen Nagel in die Wand neben dem Kachelofen, nahm eine Kordel und hängte die schöne Fiedel an die Wand.
Dort hing das Musikinstrument Wochen und Monate.
Doch Franco kam nicht zurück zum Zahlen.
Im nächsten Jahr kam ein Zirkus, aber es war ein anderer, und Franco gehörte nicht dazu.

Der Küfermeister machte weiterhin seine Fässer stumm. Er nahm einen Schluck aus dem Rotweinbecher und schaute von Zeit zu Zeit zur Geige an der Wand. Gerne hätte er Franco noch einmal spielen gehört.
Er berührte den wunderbar geformten Körper der Geige, doch der Lack war etwas brüchig geworden und hatte jetzt feine Risse.
Also fragte er seinen ältesten Sohn: „Kannst du die Geige spielen?“
Sein ältester Sohn zog erstaunt die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf.

Ein Jahr später fragte der Küfermeister seinen zweiten Sohn: „Willst du Geige spielen lernen?“ Auf der Geige lag eine feine Schicht an Aschenstaub, den der Ofen in der Stube verbreitete. Sacht wischte der Mann das Musikinstrument ab.
Sein zweiter Sohn dachte nach und meinte danach ernst: „Wenn’s kein Geld kostet, will ich’s gern versuchen, Vater.“
Nur das Geige spielen lernen kostete Geld beim Musiklehrer. Und das wollte der Küfermeister nicht ausgeben.

Ein weiteres Jahr später fragte der Küfermeister seinen dritten Sohn: „Ich würde dir gern Musikunterricht geben lassen, wenn du Geige spielen lernen willst.“
Doch der Jüngste war ein einfacher Junge: „Vater, darauf verstehe ich mich nicht. Das wäre verlorene Zeit.“

Da wurde der Küfermeister noch trauriger. Doch er sagte nichts.

Eines Tages knallte es in der Stube, und alle schauten auf. Eine Saite der Geige hing zerrissen am Steg, sie war geplatzt.

Die Söhne des Küfermeisters wurden junge Burschen. Der erste half dem Vater beim Fässermachen; der zweite machte eine Ausbildung als Gemeindehelfer; der dritte wurde Schmied.

Der Küfermeister und sein Frau wurden älter. Sie saßen in der Stube, arbeiteten, und der älteste Sohn übernahm immer mehr ihre Arbeit.

Eines Morgens fiel es dem Küfermeister schwer, aufzustehen.
Doch das machte nichts. Denn Franco kam herein in die Stube.
Und mit ihm kamen auch seine drei Söhne. Sein Ältester trug die Geige in der Hand, hob sie ans Kinn und begann zu spielen. Und die Fiedel sang vor Freude und summte von Trauer.
„Ich habe nur auf diesen Tag gewartet“, sagte der Küfermeister glücklich.
Als seine Frau nach ihm sah, weil er nicht aufgestanden war, sah sie, dass er friedlich eingeschlafen war.

Quelle:
(Wolfgang Urach)

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