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Die Flussprinzessin

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Vor langer Zeit, als das Angesicht der Welt noch anders beschaffen war, lebte ein junger Holzfäller in seiner ärmlichen Hütte tief in den dunklen Wäldern, die damals das Land bedeckten. Er tat seine Arbeit gut und war geschickt in allen Dingen, die mit Sägen, Hacken und dem Fällen der großen Bäume zu tun hatten, doch tief im Herzen sehnte er sich danach, fortzuziehen und die weite Welt zu sehen, von deren Schönheit und Fremdartigkeit er Tag und Nacht träumte.
Als der Jüngling eines Tages durch den Wald schritt, hörte er ein leises Stimmchen um Hilfe rufen. Unter einem umgefallenen Baum begraben fand er einen Zwerg, der verzweifelt versuchte, sich zu befreien. Der junge Holzfäller zögerte keinen Augenblick, ihm zu Hilfe zu eilen, und mit aller Kraft gelang es ihm, den Stamm hochzuheben, sodass das seltsame Wesen herauskriechen konnte.
“Habt Dank!”, rief der Zwerg, sobald er wieder fest auf beiden Beinen stand und sich Blätter und Erdkrümel von den Kleidern gestrichen hatte. “Euch verdanke ich mein Leben, junger Mann. Gibt es einen Wunsch, den ich Euch erfüllen kann?”
Der Holzfäller hatte gerne geholfen, aber der Gedanke an eine Belohnung schien ihm verlockend und so erwiderte er erfreut: “Wünsche habe ich viele, doch weiß ich nicht, ob die Erfüllung in Eurer Macht liegt. So sagt, was ihr mir anzubieten habt, und ich will wählen.”
Der Zwerg kratzte sich nachdenklich am Bart und antwortete etwas zerknirscht: “Wie ich sehe, unterschätzt Ihr meine Fähigkeiten. Nun gut! Lasst mich überlegen, was einem Menschling Freude bereiten könnte. Soll ich Euch anstatt Eurer alten, rostigen Axt eine neue schenken – aus purem Gold vielleicht? Auch könnte ich anstelle Eurer Hütte einen prächtigen Palast für Euch erbauen lassen!”
Der junge Mann lächelte, schüttelte aber den Kopf.
“Ich sehe, Ihr besitzt große Macht und viele Reichtümer, aber was soll ich mit einer neuen Axt, wenn ich meine Arbeit kein bisschen liebe, und einem Palast, wenn ich mit ganzem Herzen wünsche, nicht einen Tag länger hierzubleiben? Wisst Ihr nicht lieber ein Abenteuer, das ich bestehen und dabei die schöne weite Welt sehen könnte? Gibt es vielleicht einen Schatz zu heben oder ein Ungeheuer zu erschlagen?”
Der Zwerg dachte eine Weile nach und sagte dann: “Schätze sind sehr begehrt und ich wüsste keinen mehr, der nicht schon vor langer Zeit gefunden, davongetragen und wieder verprasst worden wäre. Die Ungeheuer, wie ihr sie nennt, sind meist friedliche Wesen, solange sie nicht von euch ungestümen Menschen gejagt und getötet werden und ich würde mich schämen, Euch ihre Verstecke preiszugeben. Ich weiß aber eine Geschichte, die Euch gefallen wird. Also hört gut zu und entscheidet selbst, was Ihr mit diesem Wissen anfangen wollt: Vor langer Zeit lag hinter dem großen Meer im Osten ein prächtiges Königreich. Ich selbst war nie dort, doch man erzählte mir von fruchtbaren Feldern, kostbaren Edelsteinminen und fischreichen Flüssen. Eines Tages aber entbrannte ein schrecklicher Krieg. Man stürzte den König und tötete seine Familie, wie auch die letzten Getreuen. Nur die jüngste Prinzessin konnte sich retten. Allein segelte sie in einem kleinen Boot aufs Meer hinaus, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden und Hilfe suchen sollte. Nach vielen bangen Tagen und Nächten schließlich gelangte sie an die Küste unseres Landes. Aber auch hier fand sie keinen Schutz vor ihren Feinden. Unter diesen war nämlich eine mächtige Hexe, die der Prinzessin – einer schwarzen Krähe gleich – nachgeflogen war und der das arme Mädchen in diesem fremden Land in die Hände fiel. Sie verwandelte die Prinzessin mit Hilfe einer verzauberten Perle in einen klaren Fluss und verfluchte sie, sodass das Mädchen auf ewig in dieser Gestalt bleiben muss, bis einer mutig genug ist, die Perle vom Grund des tiefen Stroms heraufzutauchen. Ihr kennt den Fluss bestimmt! Noch immer fließt er durch diesen Wald bis zum Meer. An jener Stelle, an der das unglückliche Mädchen verwandelt wurde, künden nur noch drei Ebereschen von ihrem furchtbaren Schicksal. Wenn Ihr die Prinzessin also erlösen wollt, dann sucht diese Stelle auf und holt die Perle vom Grund des Flusses.”
Der Holzfäller dankte, und schon am nächsten Tag machte er sich auf den Weg und folgte dem Fluss gen Meer. Tatsächlich kam er bald an eine Stelle, wo sich drei alte Ebereschen schwer von ihrer roten Beerenlast wie alte Trauerweiber über die weißen Fluten beugten. Als der Wind durch ihre Blätter fuhr, schien es dem Jüngling, als flüsterten sie mit seltsamen Stimmen: “Verloren … verloren. Der Fluss fließt und fließt und das arme Mädchen träumt von Fischen und kalten Steinen.”
Der Wind aber trug auch die Wolken davon, die bisher den Himmel verdunkelt hatten, und als die Sonne auf das klare Wasser schien, sah der Holzfäller weit unten den hellen Schimmer einer Perle. Ohne zu zögern, sprang es ins Wasser und tauchte tatsächlich kurz darauf mit der Perle in der Hand auf, die er, kaum hatte er sich ans Ufer gezogen, rasch ins Gras fallen ließ. Der Zwerg hatte ihn vor seinem Abschied noch gewarnt, sie nicht mehr zu berühren, denn noch immer lag ein Zauber auf der Perle, der jeden, der sie in seiner Hand hielt, verwandelte. Als der junge Holzfäller jedoch den Kopf hob, staunte er, denn neben ihm rauschte nicht mehr der Fluss, sondern an seiner Statt lag ein blasses Mädchen im Gras, dessen Gesicht unter seinem wirren dunklen Haar verborgen lag. Erst hielt der Jüngling es für tot, doch als er nach seiner Hand fasste, war diese warm und er spürte seinen Herzschlag voller Lebenskraft. Die Prinzessin hob den Kopf und sah den Jüngling erstaunt an.
“Ich habe wieder Hände und Füße. Und Augen, mit denen ich dich ansehen kann”, flüsterte sie. “Fort ist das kalte Wasser, das dahineilte und nimmer zur Ruhe kam. Wer hat mich zurückverwandelt?”
Da zeigte der Holzfäller ihr die Perle und berichtete alles, was er wusste.
“Jahre über Jahre müssen vergangen sein”, staunte das Mädchen und sah sich verwundert um. “Als ich hierher kam, stand dieser Wald noch nicht und nun sind die Bäume hoch und viele Menschenleben alt.”
Der Jüngling aber lächelte und sagte: “Kein Grund, dich zu sorgen, denn längst gibt es keinen mehr, der nach deinem Leben trachtet. Nun kannst du in Frieden in diesem Land hier leben.”
Sie saßen den ganzen Abend beisammen unter den Zweigen der alten Ebereschen und die Prinzessin lachte laut und fröhlich über die Erzählungen des Holzfällers. Doch bald bemerkte er, dass ihr Blick immer wieder ins Dunkel des Waldes abschweifte und dann ein Schatten der Trauer über ihr schönes Gesicht kroch.
“Was hast du?”, fragte er schließlich. “Was betrübt dich?”
“Ach, ich genieße das Menschsein zu sehr”, sagte das Mädchen traurig. “Und bald schon geht die Nacht vorüber und ich muss wieder als Fluss einsam dahineilen.”
Erschrocken sprang der Holzfäller auf und rief: “Nein, niemals wieder wirst du zurückverwandelt werden! Ich werde nicht zulassen, dass dir noch einmal solch ein Unheil wiederfährt.” Doch die Prinzessin schüttelte traurig den Kopf.
“Als ich an dieser Küste landete”, begann sie leise, “war dies hier ein trostloses Land aus seelenlosen Steinen und rissiger Erde. Nichts grünte, nichts lebte hier. Erst als ich verwandelt wurde und den Boden mit meinem Wasser tränkte, begannen Pflanzen zu wachsen und Menschen und Tiere zogen her. Wenn es nun keinen Fluss mehr gibt, dann wird alles, was grünt und wächst, bald wieder zu Staub vergehen.” Sie vergrub das Gesicht in ihren Armen und begann zu schluchzen. Vergeblich versuchte der junge Holzfäller, sie zu trösten und schließlich fragte er: “Ist denn das Schicksal eines Flusses so schrecklich?”
“Oh, du hast Recht. Ich sollte nicht klagen. An manchen Tagen ist es schön, durch vielerlei Länder zu fließen und die Welt zu sehen. Doch nach all den Jahren sehne ich mich nach Ruhe und meiner vertrauten Gestalt.”
Bald darauf schlief das Mädchen erschöpft ein, der junge Holzfäller jedoch lag wach, dachte an die große weite Welt und fasste endlich einen Entschluss.
Als die Prinzessin am nächsten Morgen erwachte, lag sie alleine im Gras. Entsetzt sprang sie auf, doch der Jüngling war verschwunden. An seiner Statt strömte ein schneller Fluss dahin. Da weinte sie lange, denn sie hatte den Holzfäller sehr lieb gewonnen und wünschte ihm ihr Schicksal nicht. Doch sie suchte vergeblich in den kalten grünen Fluten nach der Perle, denn der Jüngling hatte sie tief in seiner Rocktasche verborgen, sodass sie nun unerreichbar unter dem Sand des Flusses lag. Als sie erkannte, dass ihr Streben vergeblich war, baute sie sich neben den drei Ebereschen eine Hütte und blieb bis an ihr Lebensende dort, wo sie tagtäglich am Ufer saß und mit dem Fluss sprach wie mit einem verlorenen Geliebten.
Der junge Holzfäller aber bereiste in seiner neuen Gestalt viele Länder und bestaunte so wunderbare, fremdartige Dinge, wie selbst der tüchtigste Wandersmann sie in seinem Leben nicht zu sehen bekommt.

Quelle: Miyax

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