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Es war einmal ein altes Mädchen, das ohne Mann geblieben war, gewiß deshalb, weil es nie einen passenden gefunden hatte. Sie hatte die Vierzig überschritten und man sagte oft zu ihr aus Scherz: »Du wirst dich noch verheiraten, Margarete!« »Ja, ja,« pflegte sie zu antworten, »wenn der Tod kommt, mich heimzuführen.« An einem Augusttage war sie allein zu Hause und richtete gerade den Dreschern das Essen, als ein unbekannter Fremder plötzlich eintrat und sie fragte: »Wollt Ihr mich zum Manne nehmen?« »Wer seid Ihr?« sagte sie höchst überrascht. »Der Tod!« erwiderte der Unbekannte. »Dann will ich Euch gern zum Gatten nehmen!« Und sie warf ihren Breilöffel fort und lief in die Tenne: »Kommt zum Essen, wann Ihr wollt,« sagte sie zu den Dreschern, »ich gehe fort, ich verheirate mich!« »Das ist nicht möglich, Margarete!« riefen die Drescher. »Es ist, wie ich es euch sage; mein Bräutigam, der Tod, ist gekommen, mich abzuholen.« Der Tod sagte ihr, ehe er fortging, sie könne zur Hochzeit so viele Leute einladen wie sie wolle und er werde genau am festgesetzten Tage wiederkommen. Als der verabredete Tag gekommen war, erschien der Bräutigam, wie er es versprochen hatte. Man veranstaltete ein großes Mahl, und als der Bräutigam sich von der Tafel erhoben hatte, sagte er zu seiner Frau, sie solle sich von ihren Eltern und von den Hochzeitsgästen verabschieden, denn sie würde dieselben niemals wiedersehen. Er sagte ihr ferner, sie möge eine Brotkruste mitnehmen, um auf der Reise daran zu knabbern, wenn sie hungerte, denn sie hätten einen weiten Weg zu machen. Weiterhin solle sie ihrem kleinen Bruder, ihrem Patenkind, der noch in der Wiege lag, sagen, er möge sie besuchen, wenn er erwachsen sei. Er müsse dann immer gegen Sonnenaufgang zu wandern. Margarete tat, wie er sie geheißen hatte, dann reisten sie ab.
Sie schwebten auf den Flügeln des Windes: weit, sehr weit und immer noch weiter, so daß Margarete fragte, ob sie noch nicht bald am Ziele ihrer Reise ankämen. »Wir haben noch ein hübsches Stück Weges vor uns«, entgegnete der Tod. »Ich bin sehr müde und ich kann nicht mehr weiter, wenn ich nicht zuvor ein wenig geruht und ein wenig gegessen habe.« Sie machten halt und verbrachten die Nacht in einer alten Kapelle. »Nage an deiner Brotrinde, wenn dich hungert,« sagte der Tod zu seiner Frau, »ich meinerseits esse nichts.« Am nächsten Morgen machten sie sich wieder auf den Weg. Wieder gingen sie weit, sehr weit und immer noch weiter, so daß Margarete müde wurde und wieder sprach: »Gott, ist das weit! Sind wir noch nicht nahe am Ziel?« »Doch, wir sind nahe, siehst du nicht eine hohe Mauer vor dir?« »Ja, ich sehe eine hohe Mauer vor mir.« »Da wohne ich.« Sie kamen zu dem hohen Mauerwerk und traten in einen Hof. »Gott, wie schön ist es hier!« rief Margarete aus. Es war das Schloß der aufgehenden Sonne.
Jeden Morgen ging der Tod fort, um erst abends zurückzukommen, und er sagte seiner Frau nichts davon, wohin er ginge. Übrigens fehlte es Margarete an nichts, und alles, was sie sich wünschte, bekam sie auf der Stelle. Dennoch langweilte sie sich den ganzen Tag über in ihrer Einsamkeit.
Eines Tages, als sie im Schloßhofe spazierenging, sah sie jemanden vom benachbarten Gebirge herabsteigen. Dieses nahm sie Wunder, denn niemand als ihr Gatte näherte sich jemals dem Schlosse. Der Unbekannte stieg vollends vom Gebirge herab und trat in den Schloßhof. Da erkannte Margarete ihr Patenkind, ihren kleinen Bruder, der noch in der Wiege gelegen war, als sie das Haus ihres Vaters verlassen hatte. Sie fielen einander in die Arme und vergossen Tränen der Freude. »Wo ist denn mein Schwager, damit ich ihn begrüße?« fragte der junge Mann nach einiger Zeit. »Ich weiß nicht, wo er ist, mein teurer Bruder; jeden Morgen geht er frühzeitig auf Reisen und kommt erst abends zurück; nie aber sagt er mir, wohin er geht.« »Gut, ich werde ihn heute abend, wenn er heimkommt, fragen, warum er dich immer so allein läßt und wohin er geht.« »Ja, frage ihn, teurer Bruder!«
Der Schloßherr kam zu seiner gewohnten Stunde und bezeugte dem Schwager große Freude über seinen Besuch. »Wohin geht Ihr jeden Morgen, lieber Schwager,« fragte ihn dieser, »und warum laßt Ihr meine Schwester ganz allein zu Hause?« »Ich mache die Reise um die Welt, teurer Schwager!« »Jesus, Schwager, da müßt Ihr schöne Dinge sehen! Ich möchte gern einmal nur mit Euch reisen!« »Gut, morgen früh kannst du mich begleiten, wenn du willst; aber, was du auch siehst und hörst, frage mich nicht, sprich kein einziges Wort, oder du mußt auf der Stelle umkehren!« »Ich werde kein Wort reden, Schwager!«
Am nächsten Morgen gingen die beiden zusammen fort und hielten einander an den Händen. Sie gingen und gingen … Der Wind wehte den Hut vom Kopf von Margaretens Bruder, und er sagte: »Wartet ein wenig, Schwager, damit ich meinen Hut aufheben kann, der mir heruntergefallen ist!« Aber kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als er seinen Schwager aus dem Gesicht verlor, und er mußte allein ins Schloß zurückkehren. »Nun,« fragte seine Schwester als sie ihn allein heimkommen sah, »hast du etwas erfahren?« »Nein, wirklich nichts, meine arme Schwester: wir gingen so rasch, daß der Wind meinen Hut davontrug. Ich sagte zu deinem Gatten, er solle ein wenig warten, um mich ihn aufheben zu lassen; aber er setzte seinen Weg fort und ich verlor ihn aus dem Gesicht. Wie dem auch sei, morgen werde ich ihn wieder fragen, ob ich ihn begleiten darf, und ich werde kein einziges Wort reden, was auch kommen mag.«
Als der Schloßherr am Abend zur gewohnten Stunde heimkam, fragte ihn der junge Mann wiederum: »Wollt Ihr mir gestatten, Euch morgen früh zu begleiten, Schwager?« »Gern, aber sprich kein Wort, sonst geht es dir wieder wie heute morgen.« »Ich werde mich wohl hüten zu reden, seid dessen sicher.«
Am nächsten Morgen gingen sie wieder zusammen fort. Sie gingen und gingen … Der Hut von Margaretens Bruder flog wieder fort, aber diesmal in einen Fluß, über den sie gerade schritten, und er vergaß sich wieder und sagte: »Haltet ein wenig, Schwager, damit ich meinen Hut aufheben kann, der gerade ins Wasser gefallen ist.« Und wiederum wurde er auf der Stelle zum Boden herabgelassen – denn sie reisten durch die Luft – und fand sich allein. Ganz traurig und verlegen ging er ins Schloß.
Am folgenden Morgen erlaubte ihm sein Schwager wieder, ihn zu begleiten, aber nun zum letzten Male. Sie gingen und gingen, immer durch die Luft … Der Hut des Jünglings flog wieder davon, aber diesmal sprach er kein Wort. Sie schritten durch eine Ebene, deren Boden über und über mit weißen Tauben bedeckt war, und mitten unter denselben befanden sich zwei schwarze Tauben. Und die weißen Tauben lasen überall Grashalme auf und trockenes Holz und häuften es auf die schwarzen Tauben; als diese aber ganz davon bedeckt waren, legten sie Feuer an das Gras und das Holz. Der Bruder Margaretens hatte gute Lust zu fragen, was das bedeute; aber er redete nichts und sie setzten ihre Reise fort.
Dann schwebten sie über eine große Ebene, wo es viele Ochsen und Kühe gab, doch, obwohl das Gras rings herum auf das üppigste sproßte, waren Ochsen und Kühe derart mager und fleischlos, daß sie nur noch aus Haut und Knochen bestanden. Dies wunderte den Bruder Margaretens und er wollte gerade seinen Reisebegleiter nach dem Anlaß fragen, als er sich noch zur rechten Zeit erinnerte, daß er versprochen habe, keine Frage an ihn zu richten, und er verhielt sich schweigend.
Sie setzten ihre Reise fort und überschritten eine große Ebene, die war dürr und ganz mit Sand und Steinen übersät, und dennoch lagen auf diesem Sand Ochsen und Kühe, welche so fett waren und so zufrieden zu sein schienen, daß es eine Freude war, sie zu sehen. Der Bruder Margaretens sprach noch kein Wort, obwohl ihn dieses sehr seltsam dünkte.
Weiterhin erblickte er eine Schar Raben, die einander mit solcher Erbitterung und Wut bekämpften, daß ein Regen von Blut zur Erde troff. Er beobachtete fernerhin Schweigen.
Schließlich kamen sie auf den Hof eines Schlosses vor ein großes Tor. Der Gatte Margaretens trat durch das Tor und sagte zu seinem Schwager, er solle draußen warten. Er sagte ihm weiter, wenn er des Wartens müde werde und Lust bekäme, gleichfalls einzutreten, so brauche er nur einen grünen Zweig abzubrechen und unter dem Tore durchzustecken, dann würde ihm dieses Gelüste alsbald vergehen.
Während der junge Mann vor der Türe wartete, sah er eine Schar Vögel, die sich auf einem Lorbeergebüsch in der Nähe niederließen; die Vögel verweilten dort einige Zeit und zwitscherten und sangen. Dann flogen sie davon und jeder nahm in seinem Schnabel ein Lorbeerblatt mit, das sie aber alsbald wieder fallen ließen. Einen Augenblick später ließ sich eine andere Schar Vögel auf demselben Lorbeergebüsch nieder, sie zwitscherten und sangen noch länger und noch mehr als die ersten, und beim Fortfliegen nahm jeder in seinem Schnabel ein Lorbeerblatt mit, das er gleichfalls fallen ließ, aber ein wenig später als die vorhergehenden. Eine Weile später ließ sich schließlich eine dritte Schar Vögel auf dem Gebüsch nieder, sie zwitscherten und sangen noch besser und noch länger als die andern, und als sie fortflogen, nahmen sie in ihren Schnäbeln jeder ein Lorbeerblatt mit; aber sie ließen es nicht zu Boden fallen.
Der Bruder Margaretens sagte erstaunt über das, was er sah, zu sich selbst: »Was mag alles das bedeuten?« Da sein Schwager nicht zurückkam, wurde er des Wartens müde und brach einen Eichenzweig ab, der ganz von grünem Laub bedeckt war, und schob ihn unter der Türe durch, wie man es ihm geraten hatte. Sogleich wurde der Zweig bis zur Hand verzehrt. »Hola!« rief er, als er solches sah, »da drinnen muß es heiß sein!« Und er wünschte nicht mehr einzutreten. Endlich kam sein Schwager wieder heraus, da seine Stunde gekommen war, und sie kehrten gemeinsam zurück.
Auf dem Wege fragte Margaretens Bruder den andern: »Sagt mir bitte, Schwager, was bedeutet das, was ich gesehen habe, während ich Euch an der Türe des Schlosses erwartete: ich sah zuerst eine Schar Vögel sich auf ein Lorbeergebüsch niederlassen, und nachdem sie dort einige Zeit gesungen und gezwitschert hatten, flogen sie davon, indem jeder in seinem Schnabel ein Lorbeerblatt davontrug, das er aber alsbald wieder zur Erde herabfallen ließ.« »Diese Vögel stellen jene Leute vor, die in die Messe gehen, aber darin zerstreut sind, wenig beten und ihr Lorbeerblatt, das heißt das Wort Gottes, zu Boden fallen lassen da, wo sie ihren Gott vergessen.« »Und die zweite Schar Vögel, die sich sodann auf dem Lorbeerbusch niederließ, ein wenig länger zwitscherte und sang und dann ein wenig später ihre Lorbeerblätter zu Boden fallen ließ?« »Diese stellen jene Leute vor, die in die Messe gehen und dort aufmerksam sind und länger beten, aber dennoch ihren Lorbeerzweig gleichfalls zu Boden fallen lassen, das heißt das Wort Gottes vergessen.« »Und die dritte Schar Vögel, die viel länger und besser als die anderen zwitscherte und sang und auch ein Lorbeerblatt davontrug, das sie aber nicht zu Boden fallen ließ?« »Diese stellen jene Leute vor, welche gut, nämlich vom Grunde ihres Herzens, gebetet und das Wort Gottes nicht vergessen haben, bevor sie heimkehrten.« »Dann sah ich magere Ochsen und Kühe auf fetter Weide und fette Ochsen und Kühe auf magerer Weide, was bedeuten die?« »Die Ochsen und Kühe, die mager waren und fleischlos inmitten des üppigen und fetten Grases«, antwortete ihm sein Schwager, »sind die Reichen der Erde, welche alle Güter besitzen und dennoch arm und unglücklich sind, weil sie mit dem, was sie haben, nicht zufrieden sind und immer mehr haben wollen; die feisten und zufriedenen Ochsen und Kühe auf dem dürren und verbrannten Sande sind die Armen, die mit der Lage, in die sie Gott versetzt hat, zufrieden sind und sich nicht beklagen.« »Und die Raben, die einander mit Erbitterung bekämpften?« »Das sind die Ehegatten, die sich nicht verstehen und auf Erden nicht in Frieden leben können, die sich alle Tage veruneinigen und schlagen.« »Und die weißen Tauben, die ich auf einer Ebene gesehen habe, welche Gras und dürres Holz sammelten, um zwei schwarze Tauben, die in ihrer Mitte waren, zu verbrennen?« »Diese beiden schwarzen Tauben waren dein Vater und deine Mutter, welche man durch das Feuer gehen ließ, um sie von ihren Sünden zu reinigen. Sie sind nun im Paradies.«
In diesem Augenblick kamen sie ins Schloß. Bald darauf sagte der Bruder Margaretens zu seinem Schwager: »Ich will jetzt heimkehren.« »Heimkehren? Und warum, mein armer Freund?« »Um meine Angehörigen zu sehen und um mit ihnen zu leben.« »Aber bedenke doch, daß fünfhundert Jahre vergangen sind, seit du sie verlassen hast. Alle deine Verwandten sind lange tot, und da, wo ehemals euer Haus war, steht jetzt eine Eiche, die vom Alter ganz verfault ist …«
Sie schwebten auf den Flügeln des Windes: weit, sehr weit und immer noch weiter, so daß Margarete fragte, ob sie noch nicht bald am Ziele ihrer Reise ankämen. »Wir haben noch ein hübsches Stück Weges vor uns«, entgegnete der Tod. »Ich bin sehr müde und ich kann nicht mehr weiter, wenn ich nicht zuvor ein wenig geruht und ein wenig gegessen habe.« Sie machten halt und verbrachten die Nacht in einer alten Kapelle. »Nage an deiner Brotrinde, wenn dich hungert,« sagte der Tod zu seiner Frau, »ich meinerseits esse nichts.« Am nächsten Morgen machten sie sich wieder auf den Weg. Wieder gingen sie weit, sehr weit und immer noch weiter, so daß Margarete müde wurde und wieder sprach: »Gott, ist das weit! Sind wir noch nicht nahe am Ziel?« »Doch, wir sind nahe, siehst du nicht eine hohe Mauer vor dir?« »Ja, ich sehe eine hohe Mauer vor mir.« »Da wohne ich.« Sie kamen zu dem hohen Mauerwerk und traten in einen Hof. »Gott, wie schön ist es hier!« rief Margarete aus. Es war das Schloß der aufgehenden Sonne.
Jeden Morgen ging der Tod fort, um erst abends zurückzukommen, und er sagte seiner Frau nichts davon, wohin er ginge. Übrigens fehlte es Margarete an nichts, und alles, was sie sich wünschte, bekam sie auf der Stelle. Dennoch langweilte sie sich den ganzen Tag über in ihrer Einsamkeit.
Eines Tages, als sie im Schloßhofe spazierenging, sah sie jemanden vom benachbarten Gebirge herabsteigen. Dieses nahm sie Wunder, denn niemand als ihr Gatte näherte sich jemals dem Schlosse. Der Unbekannte stieg vollends vom Gebirge herab und trat in den Schloßhof. Da erkannte Margarete ihr Patenkind, ihren kleinen Bruder, der noch in der Wiege gelegen war, als sie das Haus ihres Vaters verlassen hatte. Sie fielen einander in die Arme und vergossen Tränen der Freude. »Wo ist denn mein Schwager, damit ich ihn begrüße?« fragte der junge Mann nach einiger Zeit. »Ich weiß nicht, wo er ist, mein teurer Bruder; jeden Morgen geht er frühzeitig auf Reisen und kommt erst abends zurück; nie aber sagt er mir, wohin er geht.« »Gut, ich werde ihn heute abend, wenn er heimkommt, fragen, warum er dich immer so allein läßt und wohin er geht.« »Ja, frage ihn, teurer Bruder!«
Der Schloßherr kam zu seiner gewohnten Stunde und bezeugte dem Schwager große Freude über seinen Besuch. »Wohin geht Ihr jeden Morgen, lieber Schwager,« fragte ihn dieser, »und warum laßt Ihr meine Schwester ganz allein zu Hause?« »Ich mache die Reise um die Welt, teurer Schwager!« »Jesus, Schwager, da müßt Ihr schöne Dinge sehen! Ich möchte gern einmal nur mit Euch reisen!« »Gut, morgen früh kannst du mich begleiten, wenn du willst; aber, was du auch siehst und hörst, frage mich nicht, sprich kein einziges Wort, oder du mußt auf der Stelle umkehren!« »Ich werde kein Wort reden, Schwager!«
Am nächsten Morgen gingen die beiden zusammen fort und hielten einander an den Händen. Sie gingen und gingen … Der Wind wehte den Hut vom Kopf von Margaretens Bruder, und er sagte: »Wartet ein wenig, Schwager, damit ich meinen Hut aufheben kann, der mir heruntergefallen ist!« Aber kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als er seinen Schwager aus dem Gesicht verlor, und er mußte allein ins Schloß zurückkehren. »Nun,« fragte seine Schwester als sie ihn allein heimkommen sah, »hast du etwas erfahren?« »Nein, wirklich nichts, meine arme Schwester: wir gingen so rasch, daß der Wind meinen Hut davontrug. Ich sagte zu deinem Gatten, er solle ein wenig warten, um mich ihn aufheben zu lassen; aber er setzte seinen Weg fort und ich verlor ihn aus dem Gesicht. Wie dem auch sei, morgen werde ich ihn wieder fragen, ob ich ihn begleiten darf, und ich werde kein einziges Wort reden, was auch kommen mag.«
Als der Schloßherr am Abend zur gewohnten Stunde heimkam, fragte ihn der junge Mann wiederum: »Wollt Ihr mir gestatten, Euch morgen früh zu begleiten, Schwager?« »Gern, aber sprich kein Wort, sonst geht es dir wieder wie heute morgen.« »Ich werde mich wohl hüten zu reden, seid dessen sicher.«
Am nächsten Morgen gingen sie wieder zusammen fort. Sie gingen und gingen … Der Hut von Margaretens Bruder flog wieder fort, aber diesmal in einen Fluß, über den sie gerade schritten, und er vergaß sich wieder und sagte: »Haltet ein wenig, Schwager, damit ich meinen Hut aufheben kann, der gerade ins Wasser gefallen ist.« Und wiederum wurde er auf der Stelle zum Boden herabgelassen – denn sie reisten durch die Luft – und fand sich allein. Ganz traurig und verlegen ging er ins Schloß.
Am folgenden Morgen erlaubte ihm sein Schwager wieder, ihn zu begleiten, aber nun zum letzten Male. Sie gingen und gingen, immer durch die Luft … Der Hut des Jünglings flog wieder davon, aber diesmal sprach er kein Wort. Sie schritten durch eine Ebene, deren Boden über und über mit weißen Tauben bedeckt war, und mitten unter denselben befanden sich zwei schwarze Tauben. Und die weißen Tauben lasen überall Grashalme auf und trockenes Holz und häuften es auf die schwarzen Tauben; als diese aber ganz davon bedeckt waren, legten sie Feuer an das Gras und das Holz. Der Bruder Margaretens hatte gute Lust zu fragen, was das bedeute; aber er redete nichts und sie setzten ihre Reise fort.
Dann schwebten sie über eine große Ebene, wo es viele Ochsen und Kühe gab, doch, obwohl das Gras rings herum auf das üppigste sproßte, waren Ochsen und Kühe derart mager und fleischlos, daß sie nur noch aus Haut und Knochen bestanden. Dies wunderte den Bruder Margaretens und er wollte gerade seinen Reisebegleiter nach dem Anlaß fragen, als er sich noch zur rechten Zeit erinnerte, daß er versprochen habe, keine Frage an ihn zu richten, und er verhielt sich schweigend.
Sie setzten ihre Reise fort und überschritten eine große Ebene, die war dürr und ganz mit Sand und Steinen übersät, und dennoch lagen auf diesem Sand Ochsen und Kühe, welche so fett waren und so zufrieden zu sein schienen, daß es eine Freude war, sie zu sehen. Der Bruder Margaretens sprach noch kein Wort, obwohl ihn dieses sehr seltsam dünkte.
Weiterhin erblickte er eine Schar Raben, die einander mit solcher Erbitterung und Wut bekämpften, daß ein Regen von Blut zur Erde troff. Er beobachtete fernerhin Schweigen.
Schließlich kamen sie auf den Hof eines Schlosses vor ein großes Tor. Der Gatte Margaretens trat durch das Tor und sagte zu seinem Schwager, er solle draußen warten. Er sagte ihm weiter, wenn er des Wartens müde werde und Lust bekäme, gleichfalls einzutreten, so brauche er nur einen grünen Zweig abzubrechen und unter dem Tore durchzustecken, dann würde ihm dieses Gelüste alsbald vergehen.
Während der junge Mann vor der Türe wartete, sah er eine Schar Vögel, die sich auf einem Lorbeergebüsch in der Nähe niederließen; die Vögel verweilten dort einige Zeit und zwitscherten und sangen. Dann flogen sie davon und jeder nahm in seinem Schnabel ein Lorbeerblatt mit, das sie aber alsbald wieder fallen ließen. Einen Augenblick später ließ sich eine andere Schar Vögel auf demselben Lorbeergebüsch nieder, sie zwitscherten und sangen noch länger und noch mehr als die ersten, und beim Fortfliegen nahm jeder in seinem Schnabel ein Lorbeerblatt mit, das er gleichfalls fallen ließ, aber ein wenig später als die vorhergehenden. Eine Weile später ließ sich schließlich eine dritte Schar Vögel auf dem Gebüsch nieder, sie zwitscherten und sangen noch besser und noch länger als die andern, und als sie fortflogen, nahmen sie in ihren Schnäbeln jeder ein Lorbeerblatt mit; aber sie ließen es nicht zu Boden fallen.
Der Bruder Margaretens sagte erstaunt über das, was er sah, zu sich selbst: »Was mag alles das bedeuten?« Da sein Schwager nicht zurückkam, wurde er des Wartens müde und brach einen Eichenzweig ab, der ganz von grünem Laub bedeckt war, und schob ihn unter der Türe durch, wie man es ihm geraten hatte. Sogleich wurde der Zweig bis zur Hand verzehrt. »Hola!« rief er, als er solches sah, »da drinnen muß es heiß sein!« Und er wünschte nicht mehr einzutreten. Endlich kam sein Schwager wieder heraus, da seine Stunde gekommen war, und sie kehrten gemeinsam zurück.
Auf dem Wege fragte Margaretens Bruder den andern: »Sagt mir bitte, Schwager, was bedeutet das, was ich gesehen habe, während ich Euch an der Türe des Schlosses erwartete: ich sah zuerst eine Schar Vögel sich auf ein Lorbeergebüsch niederlassen, und nachdem sie dort einige Zeit gesungen und gezwitschert hatten, flogen sie davon, indem jeder in seinem Schnabel ein Lorbeerblatt davontrug, das er aber alsbald wieder zur Erde herabfallen ließ.« »Diese Vögel stellen jene Leute vor, die in die Messe gehen, aber darin zerstreut sind, wenig beten und ihr Lorbeerblatt, das heißt das Wort Gottes, zu Boden fallen lassen da, wo sie ihren Gott vergessen.« »Und die zweite Schar Vögel, die sich sodann auf dem Lorbeerbusch niederließ, ein wenig länger zwitscherte und sang und dann ein wenig später ihre Lorbeerblätter zu Boden fallen ließ?« »Diese stellen jene Leute vor, die in die Messe gehen und dort aufmerksam sind und länger beten, aber dennoch ihren Lorbeerzweig gleichfalls zu Boden fallen lassen, das heißt das Wort Gottes vergessen.« »Und die dritte Schar Vögel, die viel länger und besser als die anderen zwitscherte und sang und auch ein Lorbeerblatt davontrug, das sie aber nicht zu Boden fallen ließ?« »Diese stellen jene Leute vor, welche gut, nämlich vom Grunde ihres Herzens, gebetet und das Wort Gottes nicht vergessen haben, bevor sie heimkehrten.« »Dann sah ich magere Ochsen und Kühe auf fetter Weide und fette Ochsen und Kühe auf magerer Weide, was bedeuten die?« »Die Ochsen und Kühe, die mager waren und fleischlos inmitten des üppigen und fetten Grases«, antwortete ihm sein Schwager, »sind die Reichen der Erde, welche alle Güter besitzen und dennoch arm und unglücklich sind, weil sie mit dem, was sie haben, nicht zufrieden sind und immer mehr haben wollen; die feisten und zufriedenen Ochsen und Kühe auf dem dürren und verbrannten Sande sind die Armen, die mit der Lage, in die sie Gott versetzt hat, zufrieden sind und sich nicht beklagen.« »Und die Raben, die einander mit Erbitterung bekämpften?« »Das sind die Ehegatten, die sich nicht verstehen und auf Erden nicht in Frieden leben können, die sich alle Tage veruneinigen und schlagen.« »Und die weißen Tauben, die ich auf einer Ebene gesehen habe, welche Gras und dürres Holz sammelten, um zwei schwarze Tauben, die in ihrer Mitte waren, zu verbrennen?« »Diese beiden schwarzen Tauben waren dein Vater und deine Mutter, welche man durch das Feuer gehen ließ, um sie von ihren Sünden zu reinigen. Sie sind nun im Paradies.«
In diesem Augenblick kamen sie ins Schloß. Bald darauf sagte der Bruder Margaretens zu seinem Schwager: »Ich will jetzt heimkehren.« »Heimkehren? Und warum, mein armer Freund?« »Um meine Angehörigen zu sehen und um mit ihnen zu leben.« »Aber bedenke doch, daß fünfhundert Jahre vergangen sind, seit du sie verlassen hast. Alle deine Verwandten sind lange tot, und da, wo ehemals euer Haus war, steht jetzt eine Eiche, die vom Alter ganz verfault ist …«
[Ernst Tegethoff: Französische Volksmärchen]