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Märchenbasar

Die geheimnisvolle Schatulle

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Endlich wieder Samstag. Auf diesen Tag freute sich Florentine schon Montags. Die Zwölfjährige liebte es, den wöchentlichen Flohmarkt stundenlang zu erkunden. Wunderbare alte Sachen, aus längst vergangenen Tagen, hatte sie hier schon gefunden und für wenig Geld erstanden. Aber heute schien sie kein Glück zu haben. Enttäuscht wandte sich Flo schon ab, als ein alter, in schmuddelige Lumpen gekleideter Mann sie ansprach:

,,Kleines Fräulein, bitte, kaufe mir doch dieses Kästchen ab. Es kostet dich auch nur drei Euro, und ich kann mir dann eine kleine Mahlzeit leisten.”

Das Mädchen wollte schon an dem Bettler vorbei gehen, zögerte dann aber und trat neugierig näher. Eine kleine goldene Schatulle, deren Deckel mit bunten Glassteinchen verziert war, weckte ihr Interesse. Sie nahm sie in die Hand, befühlte das kostbare Kleinod vorsichtig und wurde augenblicklich in seinen Bann gezogen. Florentine griff wie hypnotisiert in ihre Hosentasche, fischte fünf Euro heraus und gab sie dem Alten. Noch bevor er sich bei dem Kind bedanken konnte, war es in der Menge verschwunden.
Die Kleine presste ihre kostbare Beute fest an sich. Im Eiltempo lief sie heimwärts, gerade so, als wolle jemand das Kästchen stehlen.

Flo ging sofort in ihr Zimmer. Sie stellte das Schmuckkästchen vor sich auf den Tisch und betrachtete es von allen Seiten ganz genau. Es musste ein uraltes Stück sein, komplett von Hand gefertigt, kunstvoll zusammengefügt und in mühseliger Kleinarbeit mit Hunderten von winzigen Steinchen geschmückt.
Florentines Neugier nahm heftig zu. Was mochte die Schatulle für ein Geheimnis bergen? Alte Liebesbriefe, antike Goldmünzen, oder gar wertvollen Schmuck? Vergeblich suchte das Mädchen nach einem Öffnungsmechanismus. Weder am Deckel selbst noch an anderer Stelle fand es einen. Geduldig probierte es, auf verschiedenste Weise das Gefäß zu öffnen, drehte und wendete es immer wieder, bis ihm auf der Unterseite eine winzige Inschrift ins Auge fiel. Nur mit Hilfe eines Vergrößerungsglases war die Schrift zu entziffern. Mehrmals las Florentine laut: ,,Tsi uz saw enffoe.”
Auf einmal begann die Schatulle zu leuchten und mit einem leisen `Pling` sprang der Verschluss auf. Erschrocken wich Flo zurück, doch eine geheimnisvolle Kraft zwang sie, den Deckel ganz zu heben. Im Inneren lag ein einziges Schmuckstück auf purpurrotem Samt. Ein goldener, mit Diamanten besetzter Schmetterling funkelte in allen Farben. Behutsam entnahm Flo die Brosche, legte sie auf ihre flache Hand, um sie besser betrachten zu können. Doch oh Schreck, plötzlich bewegte der Falter seine Flügel, fing an zu wachsen und wurde immer größer. In Panik schleuderte Florentine ihn weg. Dann beobachtete sie fassungslos, wie aus dem Geschmeide eine zierliche, wunderschöne Maid mit Flügeln wurde, und die sprach zu ihr:

,,Hab keine Angst, Menschenkind, ich bin eine Elfe aus dem Reich Nehcream. Der König des Elfenreiches ist mein Vater, und er wird sehr erfreut sein, dass du mich erlöst hast.”

,,Aber, aber, wie bist du denn in das Kästchen gekommen?”, fragte Flo verwirrt.

,,Das habe ich dem garstigen Zaubertroll Oseif zu verdanken. Weil ich nicht seine Gemahlin werden wollte, verbannte er mich in dieses Gefäß. Aber du, gutes Kind, hast mich endlich, nach fast zweihundert Jahren, befreit. Deshalb nehme ich dich nun mit zu König Gutaldo.”

,,Oh, ich darf mit ins Elfenreich? Wie kann das denn gehen? Wird es schmerzen?”

,,Nein”, lächelte die Elfe Rosenblatt, “wir gehen einfach durch diese Tür dort.”

Ihre Hand wies auf die Wandfläche neben dem Fenster. An der sonst kahlen Stelle erschien eine kleine Pforte.

,,Ui, das kann ich doch nur alles träumen. Durch diesen Eingang gelangen wir in dein Reich?”

Rosenblatt nickte zustimmend, nahm Florentine bei der Hand und zog sie mit sich fort.

Knarrend schloss sich die Tür hinter ihnen.

,,Halt, bleibt stehen! Wer seid ihr und wo wollt ihr hin?”, drohte mit vorgestreckter Lanze ein dreibeiniges Wesen, halb Mensch, halb Tier. Vom Kopf bis zur Taille mehr menschlich. Nur an Stelle normaler Ohren prangten riesige Eselsohren. Von der Hüfte abwärts schwarzes, wuscheliges Fell. Zwei der Beine hatten Hufe, das dritte aber einen Menschenfuß. Hinten peitschten gleich zwei lange Rattenschwänze.

,,Bastardo, erkennst du mich nicht? Ich bin Rosenblatt, die Tochter des Elfenkönigs Gutaldo.”

,,Die kannst du unmöglich sein. Sie verschwand vor langer Zeit spurlos. Keiner weiß, was mit ihr geschehen ist.”

,,Doch, ich bin es wirklich, mein Freund, und ich kann es dir beweisen, denn nur mir allein ist dein richtiger Name bekannt.”

Argwöhnisch beugte er sich zu ihr herunter, dass sie ihm den Namen zuflüstern konnte.
Voller Ehrfurcht warf sich Bastardo vor der Elfenprinzessin in den Staub.

,,Steh auf, und geleite uns zu meinem Vater”, forderte sie ihn sanft auf.

,,Nur dich darf ich in das Reich hineinlassen. Einem Menschen ist das Betreten nicht gestattet!”

,,Ja, ich weiß, aber das Mädchen hat mich erlöst. Sie wird mich zum König begleiten und niemand wage es, ihr ein Haar zu krümmen”, erwiderte die Elfe energisch.
So machten sie sich auf den Weg zum königlichen Palast.

Florentine konnte sich an der üppigen Blumenpracht und der atemberaubenden, schönen Natur nicht satt sehen. Aber noch mehr staunte sie über viele eigenartige Wesen, die ihnen begegneten.
Da waren Trolle, sehr kleine Kerle, mit kurzen, krummen Beinen und viel zu langen Armen. Kopf, Füße und Hände ungleichmäßig groß. Sie wirkten durch ihre Beschaffenheit überaus komisch. Aber wehe, man lachte über sie, dann wurden die Kleinen sehr wütend und boshaft. Ihr Anführer war Oseif, der grimmigste von allen.

Doch am meisten gab es Elfen im Reich Nehcream. Sanfte, geflügelte, schöne Wesen. Sie benutzten ihre Zauberkräfte niemals, um zu schaden. Halfen allen, die ihrer Hilfe bedurften. Sie wachten über den Frieden und die Zufriedenheit im Lande.

Im Elfenreich lebten auch noch Geschöpfe wie Bastardo. Die waren vor ewiger Zeit mit ihrem Segelschiff hier gestrandet. Da sie keine bösen Absichten hegten, durften sie bleiben. Elfen und Tiermenschen verband bald eine tiefe Freundschaft.

,,Komm weiter, wir sind gleich da”, rief Rosenblatt Flo zu, die schon wieder stehen geblieben war.
Wenig später kamen sie vor dem schneeweißen Marmorpalast Gutaldos an. Die königliche Torwache verwehrte ihnen hartnäckig den Zutritt. Erst als der Herrscher persönlich nachschauen kam, was der Lärm bedeutete, erkannte jener seine verschollene Tochter. Das unerwartete Wiedersehen berührte den Elfenkönig so sehr, dass er Freudentränen vergoss, die als klare Diamanten zu Boden fielen. Nachdem der Tränenguss versiegt war, erblickte Gutaldo das Mädchen und seine Freude verwandelte sich in Zorn:

,,Was hast du getan, ungehorsame Tochter! Wie konntest du es wagen, eine Sterbliche hier her zu bringen? Dafür muss ich dich bestrafen und das Mädchen ist des Todes, oder bleibt als Dienerin für immer im Schloss.”

Eiskalte Angst umklammerte blitzschnell Florentines Herz, als sie die harten Worte des Elfenkönigs vernahm. Es wurde ihr schwindelig bei dem Gedanken, niemals wieder heim zu können. In ihrer Verzweiflung klammerte sie sich an Rosenblatt und flüsterte unter Tränen:

,,Bitte, das geht doch nicht, hilf mir, lass mich nicht sterben.”

Das konnte und wollte die Elfe auch nicht zulassen. Dieses Menschenkind hatte sie aus ihrer zweihundertjährigen Verbannung erlöst. Beherzt wandte sie sich an den Vater:

,,Nein, Majestät, Herrscher des Elfenreiches und mein Vater. Den Tod hat das Mädchen nicht verdient! Und was fühlte dein Herz, als ich dir genommen wurde? Eingeschlossen von Oseif in ein Goldgefäß, und ins Menschenreich verbracht? Auch das Kind hier hat einen liebenden Vater…”

,,Was sagst du, Tochter”, rief Gutaldo überrascht, “dieser Nichtsnutz von Troll ist an deinem Unglück Schuld? Dafür lasse ich den Zwerg einen Kopf kürzer machen.”
Er brüllte, dass es wie Donner durch den Palast hallte:

,,Waaaachen, schafft mir auf der Stelle diesen widerlichen Übeltäter herbei!” Dann schwieg er eine Weile, schaute Florentine dabei unentwegt an. Der anwesende Hofstaat wagte kaum zu atmen, um den Herrscher nicht beim Nachdenken zu stören. Endlich räusperte er sich und verkündete seine Entscheidung:

,,Im Reiche Nehcream gibt es Gesetze, die für alle gelten, auch für die Prinzessin Rosenblatt. Deshalb wird sie zur Strafe für ihr Vergehen sechs Monate die Flügel ablegen.
Die Sterbliche erhält vorerst Arrest, bis ich mir klar bin, was mit ihr geschehen soll.
Bringt sie in das Fensterlose Gemach.”

Die Flügel verlieren war für Elfen das Schlimmste mit, was ihnen passieren konnte, aber die Königstochter fügte sich klaglos. Flo wurde umgehend eingesperrt.

Der Arrestraum hatte tatsächlich keine Fenster. Lediglich durch ein Oberlicht fiel
spärliches Tageslicht in den Raum. Jedoch hatte man bei der Ausstattung nicht gespart. Wertvolle Möbel, dicke Teppiche und kostbare Wandbespannungen zierten das Gewölbe. Kunstvolle Kerzenständer, sowie feine Porzellanvasen mit stark duftenden Blüten, wohin die Augen blickten.
Verängstigt hockte das Kind in einem Zimmerwinkel. Draußen musste das Tageslicht schwinden, denn es wurde langsam immer dunkler. Kaum hörbar wisperte die Kleine:

,,Kann ich bitte, bitte Licht bekommen, und etwas zu Trinken? Ich habe so großen Durst.”

Im gleichen Moment flammten alle Kerzen wie von selbst auf. Erschrocken drückte sich Flo noch fester in die Ecke. Plötzlich schwebte ein kleines, gedecktes Tischchen auf sie zu und landete sachte vor ihren Füßen. Nach kurzem Zögern griff sie hastig das Getränk, stürzte die Flüssigkeit gierig hinunter, stellte das Glas ab und traute ihren Augen nicht. Es füllte sich einfach wieder von alleine. Nun bemerkte Florentine auch, dass das Wasser nicht wie solches schmeckte, sondern recht fruchtig und sehr erfrischend wirkte. Die Speisen auf den silbernen Tellern sahen überaus appetitlich aus. Vorsichtig probierte sie erst ein wenig davon, um dann ordentlich zuzulangen. Es mundete ihr vorzüglich und sie aß, bis sie keinen Bissen mehr herunter bekam.
Auf einmal wurde dem Mädchen wieder bewusst, was geschehen war und wo es sich befand. Erneut stiegen ihm Tränen in die Augen und es weinte sich leise in den Schlaf.

,,He, du, Mensch wach auf”, rüttelte es an dem Kinde herum.

Schlaftrunken fuhr es auf und erblickte einen kleinen, hässlichen Troll:
,,Geh weg! Wer bist du und was willst du von mir?”, fragte Flo voller Furcht.

,,Papperlapapp, du fragst zu viel. Ich bin gekommen, um dir zu helfen, reicht das nicht?”

,,Helfen? Nach Hause zu kommen?”

,,So ist es, du Balg, ich rette dich vor dem sicheren Tod, vor dem grausamen König Gutaldo”, log Oseif dreist. Er hatte sich mit List und Tücke dem Zugriff der Palastwache entzogen. In dem Mädchen sah er eine passende Gelegenheit, der gerechten Strafe zu entfliehen.
Der Zaubertroll packte Florentine fest am Arm und forderte sie auf:

,,Schließe deine Augen, denke ganz fest an das Portal, durch das du hier her gelangt bist.
Wenn du es vor dir siehst, dann sprichst du dreimal – Mu Rhek -, verstanden, Balg?”

,,Ja, schon, und ich komme dann wirklich hier raus? Kann das Elfenreich verlassen und zurückkehren?”

,,Ja doch, dumme Pute, beeile dich. Sonst werden sie dich erwischen und köpfen”, drängte der boshafte Gnom.
Das Mädchen tat, was ihm geheißen, schloss seine Augen und flüsterte dreimal die Formel. Sogleich glaubte es davon zu schweben und spürte, wie Oseif seinen Griff löste. Klopfenden Herzens blinzelte Florentine zaghaft, und atmete erleichtert auf. Vor ihr erschien die Tür, welche sie in ihre Welt zurück ließ. Noch einmal schaute sie sich um, niemand war ihnen gefolgt. Sie packte den Türknauf, drehte ihn, aber die Pforte blieb verschlossen. Ängstlich flehte sie den Troll an:

,,Wie bekomme ich den Eingang auf, bitte, so hilf mir doch weiter, bitte!”

Der garstige Zwerg genoss die Verzweiflung des Kindes. Schließlich brach er wortlos eine gelbe Blüte, spie darauf und murmelte unverständliche Worte. Statt der Blume lag nun ein alter, verrosteter Schlüssel in seiner Pranke. Kaum rastete dieser im Schlüsselloch ein, sprang die Tür laut quietschend auf. Blitzschnell trat das Mädchen auf die andere Seite, schlug die Pforte krachend zu und verharrte Sekundenlang bewegungslos. Langsam, ganz langsam drehte es sich um, und schrie vor Glück leise auf. Das unheilvolle Portal ins Elfenreich war verschwunden. Flo befand sich wohlbehalten in ihrem geliebten Zimmer. Völlig erschöpft von ihrem unglaublichen Abenteuer sank sie auf ihr Bett und fiel sofort in einen tiefen, Traumlosen Schlaf.

Unbemerkt kletterte der böse Zaubertroll Oseif zu dem Kind empor, zupfte an dessen Haaren und kicherte gehässig:

,,Danke, kleines Mädchen, dass du mich in die Menschenwelt mitgenommen, und vor König Gutaldos Strafe gerettet hast.” Dann verschwand er auf Nimmerwiedersehen.

 Quelle: Ulla Magonz

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