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Märchenbasar

Die Götter gehen spazieren

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Der Vater des ersten Kaisers der Ming-Dynastie war ein armer Bauer, der nicht wusste, wie er seine Familie ernähren sollte. Deshalb gab er seinen Sohn Tschu in ein Kloster, wo dieser lauter niedere Arbeiten verrichten musste. Eines Tages befahl ihm der Abt, die Tempelhalle zu fegen. Dort standen viele Götterstatuen, manche aus Holz, andere aus gebranntem Ton.
„Gib acht beim Fegen, dass du die Götter nicht beschädigst!“, mahnte der Abt. „Fege vorsichtig um die Standbilder herum und rücke sie ja nicht von ihrem Platz! Zu leicht könnte da ein Finger abbrechen oder ein Kopf auf den harten Boden fallen!“
„Wer sind die Götter?“, fragte Tschu. „Bitte sagt es mir, verehrter Meister, damit ich keinen Fehler mache, wenn ich mit ihnen spreche.“
„Dummkopf“, schalt ihn der Abt, „wie willst du Flegel mit den Göttern reden?“
„Ich möchte es versuchen“, beharrte Tschu. „Von den Göttern im Tempelsaal kenne ich zwar nur den Hagelgott, aber der war immer freundlich zu mir. So werden mich auch die übrigen gelten lassen.“
„Gut“, gab der Abt nach, „lass es aber nicht an Ehrerbietung fehlen! Der ganz Große in der Mitte ist der Himmelsherr. Vor ihm stehen die Mondgeister, rechts von ihm der Kriegsgott, der Gott des Feuers und der des Reichtums. An seiner linken Seite findest du den Gelben Alten, der in der Welt umhergeht, um allerlei Not zu lindern.“
„Halt“, rief Tschu. „Das muss ich wissen: wie soll ich ihn grüßen, damit er meine Bitte anhört?“
„Verneige dich ganz zur Erde und berühre mit der Stirn den Boden. Sag, dass du unwürdig bist und dann trag dein Anliegen vor. Außer dem Gelben Alten wirst du noch die Königinmutter des Westens sehen, die den Reigen der Feen anführt. Auch die acht Unsterblichen sind da. Sieh zu, dass du keinen der Götter und Unsterblichen anrempelst und nicht respektlos mit dem Besen rumfuchtelst!“
Damit beendete der Abt seine Unterweisung und Tschu versprach, alles aufs Beste zu verrichten. Er holte einen Besen und ging zur Tempelhalle. Aber als er eintrat, erschrak er. Da standen so viele Götter und Unsterbliche, dass er nicht wusste, wie er die Halle sauber bekommen sollte. So ging er zum Gelben Alten, warf sich vor ihm nieder, berührte den Boden mit der Stirn und rief: „Ich bin es nicht wert, Euch anzurufen, aber hört mich an!“ Der Gelbe Alte lächelte: „Kennst du mich, Söhnchen?“ „Ich kenne Euch“, sagte Tschu, „Ihr seid der Herrscher der Erde und helft denen, die in Not sind. Ich bitte Euch gütigst, wollt ihr nicht mit den andern Göttern einen Spaziergang im Hof machen, während ich die Halle fege?“
„Genehmigt!“, rief der Gelbe Alte laut. „Genehmigt!“, riefen auch die Götter. „Wir gehen schon mal voraus“, ließen sich die Unsterblichen vernehmen. „Lasst uns den Vortritt“, baten die Feen. Sie verneigten sich vor Tschu, der nur so staunte und sagten mit lieblicher Stimme: „Glaubt nicht, dass Ihr unwert seid. Ihr seid höchster Ehren wert. Das wird sich noch zeigen!“
Die Götter nickten, die Unsterblichen hoben den rechten Daumen und grüßten Tschu im Vorbeigehen. Nach kurzer Zeit war die Tempelhalle leer und Tschu begann zu fegen. Es ging wunderbar und er konnte mit dem Besen in die verborgensten Ecken gelangen. Zwischendurch sah er durch die offenstehende Tür in den Hof und sah die Götter beisammen stehen und eifrig reden.
Tschu war gerade fertig geworden, da kam der Abt aus den Gemächern in die leere Halle und sah Tschu auf seinen Besen gestützt dastehen. “Wo, wohin hast du unsere verehrten Götter getan“, rief er aufgebracht. Du Bengel, ich werde dich bestrafen, du nichtsnutziger Mensch!“
„Ich habe die Götter gebeten, einen Rundgang im Hof zu machen“, sagte Tschu, „dahin sind sie gegangen.“
„Lügenbeutel“, schimpfte der Abt, „erzähl mir keine Geschichten!“
„Ich sage die Wahrheit, verteidigte sich Tschu. Er trat unter die Tür und sagte laut: „Bitte kommt wieder herein, ihr Götter!“
„Wir kommen“, sagten die Götter, „der Spaziergang hat uns gut getan.“
Da merkte der Abt, dass Tschu kein gewöhnlicher Mensch war. Er bereute, ihn einen Flegel und Lügner genannt zu haben und behandelte ihn von da an achtungsvoll.
Diese Geschichte wurde bekannt, nachdem Tschu den Thron bestiegen hatte und der erste Kaiser der Ming-Dynastie wurde. „So geht’s“, sagten die Leute, „er war schon immer mit den Göttern gut bekannt. Mit ihrer Hilfe hat er die Mongolen vertrieben und jetzt ist er Kaiser geworden. Wer sich mit dem Gelben Alten gut versteht, der kann es zu was bringen!“
 
Fritz Mühlenweg, Das Schloss des Drachenkönigs, Chinesische Märchen, Freiburg 1961.

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