Weit, aber tausend Stunden weit von den Ufern der vielen Flüsse, lebte der Stamm der gelben Vögel – der Kraniche. Nachdem ihnen der große Manitou goldene Federn gegeben hatte, ließ er ihren Häuptling Latakini holen und sagte dann mit ernster Miene: „Latakini, du bist der Häuptling der schönsten aller Vögel, denn kein anderer Stamm hat von mir ein goldenes Gefieder bekommen, nur ihr allein. Zum Dank dafür müsst ihr für alle Zeiten in der Gegend bleiben, die ich euch als Wohnsitz angewiesen habe.“
„Warum dürfen wir nicht an andere Orte fliegen?“ fragte Latakini.
„Weil euer Gefieder sonst seine schöne goldene Farbe einbüßen würde“, antwortete der große Geist. Dann entschwebte er und verlor sich in den Wolken. Aber in den Kronen der nahen Kiefern hing noch für eine Weile der Hauch seines Atems.
Latakini glättete mit dem langen Schnabel sein glänzendes Gefieder, schlug ein paar Mal mit den mächtigen Flügeln und erhob sich majestätisch in die Luft. Er flog zu seinem Stamm zurück, um ihm die Botschaft des großen Geistes zu überbringen.
Der Sommer wurde älter und älter und hoch oben im Norden, wo Latakini lebte, kreisten die ersten Schwärme der kanadischen Gänse und Wildenten, der Tauchergänse und Wasserhühner und riefen das ganze Volk der Wandervögel zur großen Reise nach dem Süden zusammen.
Latakini wurde unruhig. Tagelang verfolgte er die immer dichter werdenden Reihen der am Horizont verschwindenden Vögel und nachts lauschte er den Flügelschlägen, die den nächtlichen Himmel durchschnitten. Als er eines Morgens sah, dass die Kraniche ganz allein in der Gegend zurückgeblieben waren, konnte er der Versuchung nicht mehr widerstehen. Er stieg hoch in die Luft und rief seinen Stamm zu dem weiten Flug nach dem Süden auf.
Manitou war über den Ungehorsam der Goldvögel über alle Maßen erzürnt. Er gebot den Wassern im Land der vielen Flüsse, dem Ziel des Schwarmes, das goldene Volk Latakinis zu verschlingen.
Tag um Tag, Nacht um Nacht flogen die Kraniche unermüdlich über fremde Landstriche, bis sich die sonnenüberflutete, von den Silberbändern der Flüsse und den glänzenden Augen der Seen durchbrochene Prärie unter ihnen ausbreitete. Latakini ließ die Schwingen ruhen, kreiste ein paar Mal über dem Wasserspiegel und glitt dann auf den See hinunter. Die anderen Vögel folgten ihm.
Da war es plötzlich, als wollte ein großes Unwetter über die Gegend hereinbrechen. Die Wellen verschlangen einander, und die Vögel konnten sich nur mit Mühe und Not auf dem Wasser halten. Die Wellen rissen ihnen die goldenen Federn aus und trugen sie davon. Latakini erteilte den Befehl zum Weiterflug, aber es war schon zu spät. Statt der goldenen Kraniche flog unter der südlichen Sonne ein Schwarm weißer Riesenreiher. Erst jetzt fielen Latakini die warnenden Worte des großen Geistes wieder ein.
„Wenn wir im Frühling nach dem Norden zurück kehren, wird uns Manitou unser Gefieder wieder vergolden, und dann werden wir nie mehr fort fliegen“, tröstete Latakini seine Stammesbrüder.
Er konnte den Frühling kaum erwarten, und als er die ersten Schwärme der Heimkehrenden erblickte, mahnte er seinen Stamm unverzüglich zum Rückflug. Und wieder flogen sie ohne Rast und Ruh durch Tage und Nächte, bis sie endlich die heimische Wiese unter sich sahen. Sie ließen sich ins Gras gleiten, und es sah aus, als wäre neuer Schnee darauf gefallen, denn die Kraniche waren weiß geblieben. Da wusste Latakini, dass sie nie wieder ihr goldenes Gefieder haben würden, weil sie das Gebot des großen Geistes missachtet hatten.
Quelle:
(Nordamerika)