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Märchenbasar

Die grössere Lüge

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Einst wetteten zwei Bauern, wer von ihnen beiden eine grössere Lüge zu sagen im Stande sei.
»Ich hatte,« begann der Erste, »einen Bienenstock, den ich alle Abend zählte. Einmal ging mir eine Biene ab und alsogleich schickte ich so viele Leute, als ich aufzutreiben im Stande war, die Biene zu suchen. Sie fanden nach zwei Tagen von ihr nur den vierten Theil, den Rest hatten die Hunde aufgefressen, das Viertel trugen ihrer fünfzehn mit Stricken und Latten nach Hause. Als ich dieses Viertel auspresste, erhielt ich fünfzehn Fässer Honig. Ich füllte ihn in einen Bottich, als unglücklicherweise ein Spatz auf den Rand des Bottichs flog und ihn umwarf.«
»Verflucht!« sagte der Zweite, »fünfzehn Fässer Honig vom Viertel einer Biene, das ist viel, das scheint kaum glaublich, aber mir ist auch so etwas Sonderbares begegnet. Ich ging eines Morgens mit meinem Netze fischen; da spüre ich, dass sich etwas gefangen hat; ich ziehe mein Netz in die Höhe, und was glaubt ihr, was darin war? Ihr errathet es nie; ein lebendiger Esel, voll mit irdenen Schüsseln beladen. Wie ich so meinen Esel nach Hause treibe, komme ich zu einem Bauernhofe, der ganz voll von Saubohnen war. Als mich der Bauer aufforderte, sie ihm mit meinem Esel auszutreten, war ich gleich bereit dazu, band dem Esel an jeden Huf eine irdene Schüssel und liess ihn fleissig treten. Bis Abends hatte er so viel getreten, dass vierundzwanzig Säcke Bohnen auf meinen Antheil kamen. Da nehme ich denn alle vierundzwanzig Säcke Bohnen und säe sie alle auf mein halbes campo (Acker), und warte, bis sie aufgehen. Wie erstaunte ich, als ich merkte, dass alle diese Bohnen als einziges Korn aufgingen, das so gross und hoch wurde, dass es die Thüre des Himmels aufstiess. Ich, der ich einen Vetter im Himmel habe, der mir damals noch vierzehn Soldi schuldig war, packe schnell den Bohnenstengel, steige zu ihm hinauf, rufe meinen Vetter zur Thüre, und nachdem er mir das Geld gegeben hatte, wollte ich wieder hinab, aber es kam ganz anders. Während ich mit meinem Vetter sprach und er mir das Geld vorzählte, hatten die Ameisen den Bohnenstengel abgefressen, und der war umgefallen, ich konnte daher nicht hinab. »Vetter!« sagte ich, »was ist da zu thun? ich werde doch nicht gar wider meinen Willen im Himmel bleiben müssen?« »Nein, nein«, sagte er, »das dürftest du nicht einmal, ich kann dir nur einen Rath geben; schau, dass du bald wegkommst, bevor sie es merken und dich hinauswerfen.« Da erwischte ich in der Verzweiflung einen Knäuel Hanf und begann mich hinunterzulassen, und als dieses nicht auf die Erde reichte, wagte ich einen Sprung und fiel 124 Schuh tief in die Erde hinein. Was war da zu thun? Nichts anders, als nach Hause laufen, eine Schaufel nehmen und mich selbst auszugraben, und so kam es, dass ich jetzt bei euch stehe und euch meine Erlebnisse der Wahrheit getreu erzähle.«
»Wartet ein wenig«, sagte der Erste, »ich werde jetzt einen Schatzmeister holen, der soll entscheiden, welche von beiden die grösste Lüge ist.«
Fortgegangen ist er wohl, aber nicht wiedergekommen, und somit gewann der Zweite wenigstens die Ehre, das Schlachtfeld behauptet zu haben.

[Italien: Georg Widter/Adam Wolf: Volksmärchen aus Venetien]

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