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Märchenbasar

Die Herzmäre

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Es wäre zu weitläufig, wenn wir erzählen wollten, wie der Burggraf von Coucy für die schöne Herrin von Fayel entbrannte, wie er sich ihr näherte und Erhörung fand, wie dann eine neidische Späherin den Verdacht ihres Gatten erweckte, und wie dieser vor Eifersucht fast verging, ohne jedoch eine greifbare Spur in die Hand zu bekommen. Eines Tages sagte der Herr von Fayel zu seiner Gattin, er sei gesonnen, eine Fahrt ins heilige Land anzutreten, bei welcher sie ihn begleiten solle. Sie antwortete zustimmend, um keinen Verdacht zu erwecken, doch im Innern war sie voll Unruhe. Was tat sie? Als reisenden Krämer verkleidet ließ sie ihren Geliebten auf ihre Burg kommen und hatte auf diese Art Gelegenheit, ihm die Pläne ihres Mannes und die Sorgen ihrer Liebe mitzuteilen. Der Kastellan tröstete sie und versprach, er wolle sich gleichfalls am Kreuzzug beteiligen. Kurz darauf weilte er am englischen Hofe und zeichnete sich so in Turnieren aus, daß König Richard ihn bat, er möge ihn auf der von ihm geplanten Kreuzfahrt begleiten. Das war gerade das, was der Burggraf gewünscht hatte.
Ein Spielmann aus dem Vermandois, der aus England zurückkam, kehrte in Schloß Fayel ein und berichtete, wie Richard von England das Kreuz genommen hätte und mit ihm eine große Anzahl französischer Ritter, darunter auch Renaud von Coucy. Der Schloßherr konnte bei dieser Nachricht seine Freude nicht verbergen, und seine Gattin zeigte nicht minder große Befriedigung, beide allerdings aus verschiedenen Gründen: die Dame wollte die Reise, von der sie weitgehende Gelegenheit zu Zusammenkünften mit dem Geliebten erhoffte, beschleunigt wissen, ihr Gemahl dagegen sah seine List gelungen. Am Feste des heiligen Johannes kam ein Kardinal in die Gegend. Herr und Frau von Fayel begaben sich in den Gottesdienst und hörten die Messe. Der Kardinal predigte das Kreuz, und eine Menge der Zuhörer scharte sich um das heilige Zeichen, um ihre Seelen zu retten. Auch die Herrin von Fayel erhob sich, um das Kreuz zu nehmen, aber ihr Gatte hielt sie mit den Worten zurück: »Frau, für diesmal werdet Ihr das Kreuz nicht nehmen, denn ich fühle mich zu schwach, um die Mühen einer solchen Fahrt zu tragen.« Die Dame verbarg geschickt ihr lebhaftes Mißvergnügen; aber als sie daheim war, konnte sie ihren gewaltigen Schmerz nicht mehr bei sich halten, den sie darüber empfand, daß sie dableiben mußte, während ihr Geliebter, auf dessen Kreuzfahrt sie selbst gedrängt hatte, in fernen Landen kämpfen würde. Erst der Gedanke, daß der Freund seine Rückkehr unter diesen Umständen möglichst beschleunigen würde, gab ihr ihre Ruhe wieder, und sie sandte dem Kastellan ein Schreiben, das ihn von dem unvorhergesehenen Ausgang der Sache unterrichten sollte. Bei Empfang dieses Briefes brach der Burggraf vor Gram nieder. So sehr hatte er sich in der Hoffnung gewiegt, daß seine Dame die Reise übers Meer mitmachen werde, daß er immer um sie sein könne, sie sprechen dürfe, und nun … alles aus! Aber bleiben durfte er nicht: der Gatte würde dadurch Verdacht schöpfen und die Arme erst recht bewachen, und außerdem stand seine Ehre auf dem Spiel.
In der Verkleidung eines blinden Bettlers, auf einen Stab gestützt, wankte er zum letzten Abschied. Die Dame erwartete ihn mit ihrer Zofe, auf einer Steinbank an dem Hinterpförtchen sitzend, durch das er so häufig seine heimlichen Gänge getan hatte. Die Zofe führte den Ritter in ein Gemach, in dem er seine Verkleidung ablegte, dann trat er in die Kemenate, wo die Schloßherrin ihn begrüßte. Sie führte ihn zu einer mit Teppichen bedeckten Bank, und der Ritter hub an: »Gott ist mein Zeuge, Herrin, daß nichts im Leben mich mehr schmerzen kann als diese Trennung.« Bei diesen Worten sanken sie einander in die Arme, und der Burggraf fuhr fort: »Wenn ich der nahen Abfahrt denke, bricht mein Herz. Aber wohin ich auch gehe, dies Herz ist Euer; denn meine einzige Lust wird sein in fernen Landen, Tag und Nacht von Euch zu träumen, und die Hoffnung, einmal wieder meinem süßen Lieb zu nahen, wird meine Muskeln stählen. Die Hoffnung soll mein Trost sein, denn sonst bleibt mir keiner.« »Auch für mich,« antwortete die Dame, »ist jede Freude tot, denn mein Herz reist mit Euch weit über Meere und Wüsten.« Der Sinne beraubt fiel sie in die Arme des Kastellans, und beide saßen stumm vor Qual, aber dann drückte er sie wieder an sein Herz und bedeckte sie mit Küssen. »Herrin,« sagte die Zofe, »Ihr solltet Euren Freund ermutigen, statt dessen nehmt Ihr ihm allen Trost; das ist nicht wohlgetan. So bannt Euren Gram und blickt wieder ein wenig heiterer!« Die Frau erholte sich, sie streifte ihren Ring vom Finger und steckte ihn dem Ritter an die Hand, dann nahm sie eine große Schere, schnitt mehrere Stränge ihres Haares ab, hüllte dieselben mit Sorgfalt ein und gab sie dem Kastellan, welcher sie als kostbares Pfand ihrer Zärtlichkeit bis zu seiner Rückkehr aufzubewahren versprach. Sie blieben zwei Tage beieinander, da der Schloßherr in Geschäften abwesend war; aber die Spiele der Liebe erfreuten sie nicht mehr, denn die Stunde der Trennung stand stets vor ihrer Seele. Das Scheiden kam, und Renaud von Coucy ritt von Fayel fort, die Brust voll Qual und Schmerz.
Einzig von seinem Knappen Gobert begleitet, brach er auf, denn er wollte nicht von seinen Gedanken, die alle seiner Geliebten geweiht waren, abgelenkt werden. Schließlich gelangten die beiden Kreuzfahrer nach Marseille, wo sich der englische König bereits mit seiner ganzen Ritterschaft aufhielt und die letzten Vorbereitungen zur Abreise traf. Das Geschwader ging unter Segel, und Gott gab ihm so guten Fahrwind, daß die Überfahrt alsbald beendet war. Sie landeten in Akko, wo sie von der Christengemeinde mit offenen Armen empfangen wurden, denn ihre Hilfe war dringend nötig, bedrohte doch die Raserei der Sarazenen die Stadt mit Not und Tod. Alle Kreuzfahrer waren ungeduldig, und besonders König Richard brannte darauf, seine Tapferkeit mit der des Feindes zu messen und sich Ruhm zu erwerben. Das war keine leere Prahlerei, denn alsbald verjagte er an der Spitze seiner Truppen die Sarazenen und verfolgte sie so lange, bis sie ihm zum Kampfe standhielten. In diesem mörderischen Kampfe zeichnete sich Renaud von Coucy als würdiger Streiter aus. Auf seinem Helm trug er zum Andenken an seine Herrin, der sein Herz gehörte, die in Gold gefaßten Haarsträhne, deren Anblick den Sarazenen furchtbar wurde.
Schon war der Burggraf fast zwei Jahre in Palästina, als eines Tages die Sarazenen König Richard in einem Schloß, wo er, wie sie erfahren hatten, der Ruhe pflegte, überfallen wollten. Sobald man ihrer ansichtig wurde, saß Renaud mit mehreren anderen Rittern auf und griff hitzig die verhaßte Schar an. Es gelang ihnen, den Feind mit großen Verlusten in die Flucht zu schlagen, und schon strömte dieser in aufgelösten Reihen zurück, als der Burggraf von einem vergifteten Pfeil getroffen wurde, welcher tief in seine Seite drang. Er wankte in den Bügeln und fiel besinnungslos zu Boden. Sogleich standen seine Begleiter von der Verfolgung ab und trugen den Verwundeten ins Schloß. König Richard hörte die Kunde mit Bedauern, er begab sich sogleich zu dem Ritter und ließ alle seine Ärzte rufen. Diese maßen die Tiefe der Wunde, zogen das Eisen heraus, und als sie die Verletzung wohl geprüft und mit warmem Wasser gewaschen hatten, sagten sie dem König, der Kastellan würde in drei Wochen völlig geheilt sein, wenn nicht der Pfeil vergiftet gewesen wäre. Dann allerdings könne nichts die Wirkung des Giftes aufhalten, und der Tod des Verwundeten sei gewiß. Dieser siechte lange Zeit dahin und wurde blaß und mager, alle Mittel der Ärzte waren nutzlos, und sein Körper verfiel unter ihren Augen. Es war aber nicht die Wunde, die dem Burggrafen die meiste Qual verursachte, sondern der Wunsch, seine Geliebte noch einmal vor seinem Ende zu sehen, brannte ihn. Der Ritter wollte sobald als möglich wieder über das Meer segeln, er hoffte geheilt zu werden, wenn er seine Heimat wiedersehen würde, sicher würde ihm der Anblick seiner Dame die Gesundheit wiedergeben. Es traf sich, daß gerade zwei Kardinäle in Begriff waren sich einzuschiffen. Sogleich nahm der Burggraf Urlaub vom König und seinen Baronen, denn er konnte und wollte seine Abreise nicht länger verschieben. Leicht erhielt er die Erlaubnis, in sein Vaterland zurückzukehren, und niemand tadelte ihn wegen seines Entschlusses. Nachdem er seine Vorbereitungen getroffen hatte, begab er sich zum Hafen, bestieg das Fahrzeug und nahm den ihm angewiesenen Platz ein, darauf wurden die Segel ausgespannt und das Schiff verließ das heilige Land.
Auf dem offenen Meer fühlte sich der Ritter zunächst ein wenig besser, denn der Wunsch, seine Geliebte wiederzusehen, hielt seine Kräfte aufrecht, obwohl sein Leiden ständig Fortschritte machte. Seine Qualen verdoppelten sich, er wurde von Tag zu Tag schwächer und sah sich schließlich gezwungen, sein Lager nicht mehr zu verlassen. Als der Kastellan fühlte, daß sein Ende nahe, ließ er sich den Kasten bringen, der seinen teuersten Schatz enthielt, die Haarsträhne, die er oft mit Wohlgefallen betrachtete. Er bedeckte die silberne Dose, welche die kostbaren Stränge enthielt, mit Küssen: »O Gott!« sagte er, »wie teuer sind mir diese goldenen Locken, mit denen mich mein süßes Lieb beschenkt. Ach, der Tod will den zärtlichen Freund von seiner treuen Geliebten scheiden.« Darauf befahl er seinem Knappen, einen Schreiber zu holen, dem er folgende Sätze in die Feder diktierte: »Seiner süßen, teuern Dame schickt der, der aller Orten und bis zum letzten Hauch ihr treuer Diener war, dies Liebeszeichen und seine Grüße, die seine letzten sind. Herrin! Ich war immer Euer Lehnsmann, Euer Diener, Euer Ritter, immer Euch treu ergeben von dem Augenblicke an, da ich Euch verließ, jenem Augenblick, der die Quelle von soviel Kummer war. Niemals, Herrin, werde ich Euch wiedersehen, aber Euer Herz schwebt um mich. Als ich Euer Schloß verließ, habt Ihr mich mit einem bezaubernden Kleinod beschenkt, den glänzenden Strähnen Eures goldenen Haares, die mich nicht einen Augenblick verlassen haben. Zum Entgelt sende ich Euch mein Herz, denn nach Rechten kommt es Euch zu, Euch, für die es immer schlug. Nie starb ein Liebender so ohne Trost wie ich, denn nach so langer Trennung scheidet uns der unerbittliche Tod, ehe ich Euch noch einmal in die Arme schließen konnte. Du süßes Geschöpf, du ragst über allem, was die Welt an Vollendung und an Anmut kennt. Dein Herz ist ein Born von lauterem Gold. Unter den Schönheiten der Erde strahlst du wie ein Diamant, wie ein Saphir; du glühst wie eine Rose in Purpurglut, unvergleichlich an süßem Duft. Du bist die Vollendung, du trägst alles was gut und schön ist, in Fülle. Du birgst in dir alle Güter, Reichtümer und Schätze, und der Gedanke an dich ließ mich zum Strahlenkranz des Ruhmes greifen. Und dich soll ich niemals wiedersehen, niemals wieder küssen, niemals wieder umarmen! Ach, das Feuer unserer Freude ist ausgelöscht, der Tod rafft mich hinweg. Es kann nicht anders sein, und so empfehle ich meine Seele Gott dem Herrn und bitte meinen Schöpfer, daß er sie im Reiche seiner Himmel mit der deinigen vermähle, damit wir vereint die Wonnen der Ewigkeit durchkosten.« Oft raubte ihm der Schmerz die Besinnung, während er diese Worte sprach. Als der Brief endlich vollendet war, faltete er ihn selbst zusammen und preßte sein Siegel darauf, das er dann sogleich ins Meer warf. Dann rief er seinen Knappen Gobert und seinen Diener Hideux und sagte zu ihnen mit verlöschender Stimme: »Ich fühle, daß mir nur mehr wenige Augenblicke zu leben bleiben. Schwört mir, daß ihr sogleich nach meinem Tode meinen Leib öffnen werdet, mein Herz daraus entnehmt und es wohl einbalsamiert zugleich mit diesem Brief und diesen Strähnen nach Fayel tragt wo ich so vieler Freuden Gast war. Ich sage dies euch beiden, damit wenn der eine vielleicht ums Leben käme, der andere meinen Auftrag erfüllen mag. Dies ist es, was ihr zu tun habt: ihr sollt meine Herrin in meinem Namen ein letztes Mal grüßen. Eure Botschaft wird sie in ein Meer von Leid tauchen, denn keinen Menschen auf der Welt liebte sie so heiß wie mich. Dann werdet ihr ihr allen Trost erteilen, dessen sie bedürfen wird, und werdet sie bitten, sich zu beruhigen, denn all ihr Gram ist vergebens. Ihr werdet ihr dieses Kästlein geben und ihr sagen, daß ich ihr diese Strähne mit meinem Herzen zugleich zurückschicke, meinem Herzen, das ihr gehörte seit dem Tag, da ich zuerst sie ersah, das ihr gebührt und bei ihr bleiben soll, damit sie nie ihre Gedanken von mir wendet.« Nun wurde er so schwach, daß sich sein Gesicht mit Todesblässe bedeckte. Seine Diener glaubten, daß er seinen Geist verhaucht habe, denn schon lag er in den Schlingen des Todes. Sie legten ihm ein Stück Brot in den Mund, wodurch er seine Sinne wiedergewann, und sogleich weilten seine Gedanken wieder bei seiner Dame, der seine letzten Worte galten: »Leb wohl, mein süßes Lieb, leb wohl, Liebe und Leben! Ach, warum kann ich das Leben, das mir entschwindet, nicht festklammern und an mich reißen! Die Erde ist ein Paradies, wenn wir lieben. Die Liebe hat mir Freuden ohne Zahl gewährt, sie war der Urquell aller meiner Ehren. Mit allen ihren Schätzen hat mich die Liebe überhäuft, und ich kann ihr mit nichts entgelten, als daß ich ihr lobsinge. Liebe! Du bist der Gott des Diesseits, du umfängst uns ganz, und wir sind alle voll von dir, nichts kann deine Macht vermindern. Ach, wäre es mir erlaubt, mein Leben festzuhalten, jeder künftige Augenblick sollte dem Dienst der Liebe geweiht sein, die kein Leid verursacht, das sie nicht mit Wonnen tausendfach vergilt. Freude, Treue, Edelmut, Güte, Ehren und alle Güter der Welt sind das Erbe der Liebe, das sie denen austeilt, die treu ihr dienen.« In diesem Augenblick unterbrach ihn die Gewalt des Schmerzes, er erblaßte und verlor das Bewußtsein. Lange blieb er so, dann erwachte er noch einmal, und nun hatten sich seine Sinne vom Irdischen abgewendet. »Herr des Himmels,« sagte er, »sei mir gnädig und würdige mich deiner alliebenden Erbarmung.« Dann ließ er den Kardinal holen, der sich sogleich zu dem Sterbenden begab, seine Beichte entgegennahm und ihm den Leib des Herrn reichte. »Freund,« sagte der Kardinal, »wirf alle Furcht von dir, denn wer wie du im Dienste Christi stirbt, dessen Sünden sind ausgelöscht. Glaube und vertraue, dann sei versichert, daß du gerettet bist.« Schon atmete der Kastellan nur mehr mit Mühe, und es kostete ihn eine letzte Anstrengung, um diese Worte auszusprechen: »Gobert, bring meiner Herrin mein Lebwohl!« Dann verschied er.
Als Gobert sah, daß sein Herr tot sei, gab er sich seinem heißen Schmerz hin, er rang die Hände und raufte sich unter Weinen und Jammern die Haare. Er rühmte nacheinander die Ehrliebe, den Geist, die Tapferkeit, die Freigebigkeit und alle Eigenschaften, mit denen sein Herr ausgestattet gewesen war und welche einen vollkommenen Ritter aus ihm gemacht hatten. Niedergebeugt vom Schmerz machten sich Gobert und Hideux sodann daran, den letzten Willen des Burggrafen zu erfüllen. Sie öffneten seinen Körper und balsamierten ihn ein, nachdem sie das Herz daraus entnommen hatten. Als sie in Brindisi angekommen waren, wurde die Leiche ans Land gebracht, wo ihr der Kardinal in würdiger Weise die letzten Ehren erwies. Gobert richtete sein Augenmerk nun darauf, Mittel und Wege zu finden, daß er in sein Vaterland zurückkehren könne. Nachdem er die ganze Habe des Ritters unter die Armen verteilt hatte, machte er sich gemeinsam mit Hideux auf den Weg und rastete nicht eher, bis er das Ziel seiner Reise erreicht hatte, wo er sich von seinem Begleiter trennte. Gobert ritt durch Regen und Sonnenschein und war nur mehr drei Meilen vom Schloß Fayel entfernt. Hier machte er einige Tage Halt, um Nachrichten einzuziehen und eine günstige Gelegenheit zur Ausführung seines Auftrags abzuwarten. Er kannte einen wenig begangenen Schleichweg, welchen er öfters heimlich mit seinem Herrn zurückgelegt hatte. Diesen glaubte er in Sicherheit beschreiten zu können, aber er hatte eine verhängnisvolle Begegnung. Der Herr von Fayel stand ihm plötzlich gegenüber, und er konnte ihm auf keine Weise ausweichen. Der Schloßherr erkannte den Knappen sogleich wieder, und der Zorn raubte ihm die Sprache, denn er wußte wohl, daß dieser Knappe als Unterhändler zwischen dem Kastellan und seiner eigenen Gattin zu dienen pflegte. Als er ein wenig ruhiger geworden war, redete er ihn folgendermaßen an: »Nachdem ihr, du und dein Herr, mich entehrt habt, ist es sehr kühn von dir, wieder in dieser Gegend zu erscheinen. Bringst du wieder Briefe oder Aufträge? Bei Gott, du trifftst es schlecht, denn du wirst dem Tode nicht entgehen. Mit meinen eigenen Händen will ich dich aufhängen, wenn es auch nur wäre, um deinem Herrn Trotz zu bieten. Du sollst meiner Rache nicht entgehen!« »Gnädiger Herr,« antwortete Gobert demütig, »zürnt mir nicht. Wenn der Burggraf Eure Gattin liebte, was kann ich dafür?« Diese Worte beruhigten Fayel ein wenig und er erwiderte: »Gut, woher kommst du, wohin gehst du? Sag mir die Wahrheit oder ich knüpfe dich auf der Stelle an diesen Baum. Wo hast du den Kastellan gelassen? Ist er wieder diesseits des Meeres?« »Ja, Herr, aber er ist tot, und seine Leiche liegt in Brindisi; was mich betrifft, so kehre ich in meine Heimat zurück. Mehr habe ich Euch nicht zu sagen, Herr, nun laßt mich um Gotten willen ohne Schaden ziehen. Was hättet Ihr davon, wenn Ihr mich töten wolltet, würdet Ihr dadurch Eure Schmach rächen?« »Nein, nein, bei Gott! So entgehst du mir nicht! Noch bist du in meiner Gewalt. Entkleide dich ohne Widerrede, ich will wissen, was du bei dir trägst. Wenn du irgend etwas hast, was mich angeht, so werde ich dich auf die Folter spannen lassen, wenn ich aber nichts finde, so kannst du in Frieden ziehen.« Diese Worte setzten Gobert in Furcht. »Lieber Herr, ich bitte Euch, erbarmt Euch meiner! Hört mich einen Augenblick an, ich will Euch die ganze Wahrheit gestehen, aber versprecht mir, mein Leben zu schonen.« Fayel versprach es ihm, und der Knappe fuhr fort: »Herr, Christus bewahre mich vor Eurem Zorn! Der Kastellan ist während der Überfahrt auf der Rückkehr von Palästina, wo er tödlich verwundet wurde, gestorben, aber vor seinem Tode hat er mir befohlen, seine letzten tausendfachen Grüße seiner Herrin zu überbringen und mit ihnen sein Herz, welches dieses Kästlein birgt. Hier ist es, teurer Herr, bei meiner Seele, ich habe nichts hinzuzufügen, und Ihr wißt nun alles.« Der Herr von Fayel ergriff das Kästlein hastig, und in seiner Ungeduld den Inhalt kennenzulernen, ließ er den Deckel aufklappen, ohne sich um Schloß und Schlüssel zu kümmern. Der Anblick des Herzens und der Locken bereitete ihm lebhafte Genugtuung. Er nahm den Brief, las ihn von vorn bis hinten und legte ihn dann wieder in die nämlichen Falten ohne das Siegel jedoch zu verletzen. Dann sagte er zu Gobert: »Du kannst von Glück sagen, Gobert, daß ich dich heute nicht hängen lasse. Geh, verlasse auf der Stelle mein Gebiet und kehre unter keinem Vorwand hierher zurück, denn wenn ich dich jemals wieder hier antreffe, lasse ich dich unverzüglich aufknüpfen.« Gobert wandte sich mit grambeschwerter Seele von hinnen, während der Herr von Fayel geradesweges in sein Schloß zurückkehrte.
Der Schloßherr rief augenblicklich seinen Küchenmeister und befahl ihm, seine ganze Kunst darauf zu verwenden, Hähne und Kapaunen mit einer erlesenen Tunke zuzurichten, da er heute Gäste bewirten wolle. »Aber,« fügte er hinzu, »mit der nämlichen Tunke wirst du ein besonderes Gericht aus diesem Herzen bereiten, welches du deiner Herrin und sonst niemandem vorsetzen sollst.« »Herr, mit Gottes Hilfe werde ich Euern Befehlen genau nachkommen, dessen seid sicher.« Der Koch bereitete sein Mahl auf die allererlesenste Art. Als die Tafel gedeckt war, setzte man sich zu Tisch. Die Diener trugen zunächst eine Fülle von ausgewählten Speisen auf, welche sie allen Gästen darboten, darauf wurde das Herz allein der Herrin von Fayel gereicht, während ein anderes ähnlich aussehendes Gericht um die Tafel herumgegeben wurde, von welchem jeder nach Gefallen nahm. Die Dame lobte die Speise, die man ihr gereicht hatte, und gestand, daß sie niemals etwas ebenso Köstliches gegessen habe. »Warum,« setzte sie hinzu, »richtet unser Koch nicht öfters etwas Ähnliches an? Zweifellos ist die Zubereitung dieses Fleisches zu kostspielig.« »Frau, wundert Euch nicht über die Güte dieses Fleisches, denn nicht um alles Gold Arabiens könnte man sich seinesgleichen verschaffen.« »Und wie nennt man es, lieber Herr? Sagt es mir doch, bitte!« »Frau, erschreckt nicht, die Speise, die Ihr eben genossen habt, war, ich versichere es Euch, das Herz, das Ihr am meisten von allem Irdischen geliebt habt. Es war das des Kastellans von Coucy, welches eigens für Euch bereitet wurde. Es ist Euch allein aufgetragen worden, und wir andern haben alle von einem äußerlich ähnlichen Gericht gegessen. Ihr habt den Burggrafen geliebt, als er noch lebte, ich habe aus diesem Grunde bis zum heutigen Tage Schmach und Qual gelitten, und um mich zu rächen, habe ich Euch seine Herz essen lassen.« Die Herrin von Fayel erstarrte vor Schreck, aber sie antwortete verständig: »Nein, Herr, ich kann Euern Worten keinen Glauben schenken, denn seit mehr als zwei Jahren ist der Kastellan außer Landes. Er ist mit aller Ritterschaft übers Meer, um für das Kreuz zu streiten.« Fayel wandte sich an seinen Diener: »Bring jenes Kästlein, ich will ihr beweisen, daß ich die Wahrheit sage.« Fayel ergriff das silberne Kästlein, öffnete es vor den Augen seiner Frau, zeigte ihr die Haarlocken und las ihr den Brief von Anfang bis zu Ende vor, nachdem er sie dessen Siegel hatte prüfen lassen. »Erkennt Ihr dieses Wappen? Es ist das des Burggrafen von Coucy.« Dann gab er ihr den Brief in die Hand und sprach dabei: »Frau, es ist wirklich sein Herz, daß Ihr gegessen habt, daran zweifelt nicht!« »Bei Gott, Herr, dieser Gedanke macht mich schaudern, aber da es sich nun einmal so verhält, so schwöre ich Euch, daß Zeit meines Lebens keine andere Speise mich mehr nähren soll, daß ich nach diesem Stück Fleisch, das mir so teuer war, kein anderes mehr kosten will. Das Leben ist mir nun eine zu schwere Last. Mag mich der Tod von dieser Last befreien!« Nach diesen Worten brach sie ohnmächtig zusammen, und ihr Antlitz fiel auf die Tischplatte, während das Blut in ihren Adern zu Eis erstarrte. Man trug sie hinaus und legte sie auf das Lager, wo sie blaß und entstellt bewegungslos liegen blieb. Als sie ihre Sinne wieder ein wenig gesammelt hatte, stieß sie einen langen Seufzer aus: »Ach, was ist mir doch geschehen! Großer Gott, was ist mit mir geworden? Weh mir, ich habe meinen süßen Freund verloren, der so verständig und so edel war, den treuesten, den zärtlichsten von allen, die da liebten. Und ich, ich habe seine Fahrt gewollt, das verdoppelt meine Qual, das zerreißt mir das Herz! Weh mir, all meinen Trost setzte ich auf seine Rückkehr, mit Sehnsucht habe ich sie erhofft! Was soll mir das Leben noch, da ich nun weiß, daß er von mir genommen ist, jetzt ist in alle Ewigkeit die Freude für mich tot. Ach, in seinem Schmerz hat er mir sein Herz gesendet zum Beweis, daß es ganz mir gehörte. So soll auch das meine denn ihm geweiht sein. Und man soll sehen, daß es ihm gehört, denn mein Leben soll mit dem seinen enden.« Von neuem verfiel sie in Schwäche und verblieb lange Weile in wortlosem Schmerz. Als sie wieder zu sich gekommen war, sprach sie noch einige Worte der Trauer um ihren toten Freund, aber bald wurde ihr Schmerz grenzenlos, sie zerfleischte sich, rang ihre Hände, ihre Augen blickten wirr und verkündeten ihr nahes Ende. Sie konnte diese schreckliche Marter nicht länger ertragen, und mit der Bitte, daß Gott ihr verzeihen möge, hauchte sie ihre Seele aus. Ihr Körper blieb starr. Gott wolle sein Erbarmen ihr zuteil werden lassen.

[Ernst Tegethoff: Französische Volksmärchen]

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