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Märchenbasar

Die Karibu-Frau

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Weit, weit weg, an den Küsten des Nördlichen Eismeers in Nordwestamerika lebte einmal ein Robbenjäger mit seiner Frau.
Dieser Robbenjäger war ein jähzorniger, grausamer Mann, der seine Frau gnadenlos mit einem Stock verprügelte, sobald ihm irgend etwas nicht paßte.
Die arme junge Frau hatte ein hartes Leben. Eines Morgens konnte sie es einfach nicht länger ertragen. Kurz nachdem ihr Mann wie üblich auf Robbenjagd gegangen war, packte sie ein paar Nahrungsmittel in einen kleinen Beutel und lief weg. Sie ging und ging und ging, tagelang, immer weiter über die weite, steinige Ebene, Tundra genannt. Sehr bald hatte sie nichts mehr zu essen im Beutel und mußte sich von den Beeren ernähren, die sie ab und zu an den niedrigen Büschen fand, mit die Tundra bewachsen war. Ganz in der Ferne konnte sie eine Bergkette sehen, hinter der sie als Kind mit ihrer Familie gelebt hatte. Oh, hoffentlich fand sie zu ihren Verwandten zurück! Wenn sie bei ihnen wäre, könnte ihr nichts mehr passieren! Die arme Seele! Woher sollte sie denn wissen, daß ihre Verwandten vor langer Zeit die Heimat verlassen und sich nach Süden gewandt hatten? Aber es hätte auch nichts geändert, wenn sie das gewusst hätte. In keinem Fall konnte sie die Berge erreichen, denn ihre Kräfte schwanden dahin.
Nachdem sie sich eines Morgens steif, hungrig und erschöpft von ihrem Schlafplatz unter einem Busch erhoben hatte, schleppte sie sich mühsam weiter. Da stieß ein Fuß gegen eine Unebenheit, sie rutschte aus und stürzte durch ein Erdloch in die Tiefe. Wo war sie gelandet? Im Zimmer einer unterirdischen Wohnung. Ein Glück, daß gerade kein Feuer brannte, denn sie war durch den Kamin heruntergefallen. Essen gab es in Hülle und Fülle – von der Decke hingen geräucherte Schinken – aber sie traute sich nichts zu essen. Benommen und geschwächt saß sie auf dem Boden, als sie über sich Schritte und dann die ärgerliche Stimme eines Mannes hörte, der durch den Kamin herunterrief: „He,he. Wer ist in meine Wohnung eingebrochen? Wer versteckt sich da unten? Die verschreckte Frau konnte keine Antwort geben. Da erscholl die Männerstimme von neuem. „ Diesmal entwischst du mir nicht! Ich dulde es nicht, daß mich jemand bestiehlt.“ Die Schritte entfernten sich. Doch gleich darauf erdröhnten sie wieder in einem unterirdischen Gang, und dann stampfte ein großer Mann in die Küche und starrte verblüfft die arme, zitternde Frau an.
„Wer bist du? Woher kommst du? Und was tust du hier?“, fragte er rasch. „ Ach, laß nur“, fuhr er dann fort. „ Ich sehe, dass du völlig erschöpft bist. Du musst zuerst etwas essen.“
Er füllte ihr einen Teller mit Brei, den sie dankbar aufaß. Währenddessen stand er neben ihr und beobachtete sie. Er wirkte nicht unfreundlich, schien sich aber so seine Gedanken zu machen. Als sie fertig gegessen hatte und ihm mit einem Lächeln dankte, setzte er sich neben sie, ergriff ihre Hand und sagte: „Jetzt erzähl mir mal deine Geschichte.“ Also erzählte sie ihm alles. Er hörte sich die traurige Geschichte bis zum Ende an, runzelte die Stirn, lächelte dann plötzlich und sagte: „Du kannst hierbleiben und für mich sorgen. Ich werde dich zur Frau nehmen.“ Und also wurde sie seine Frau. Er war sehr gut zu ihr, und sie fühlte sich überaus glücklich. Fleißig putzte und kochte sie und fertigte Kleider aus den Häuten der Tiere an, die der Mann erlegte. Im Laufe der Zeit bekam sie einen kleinen Sohn und dann noch einen zweiten. Also mußte sie sich nun um drei kümmern, um ihren Mann und die zwei kleinen Jungen. Es waren starke, hübsche Jungen, die vor nichts und niemanden Angst hatten. Sobald sie herumlaufen konnten, fingen sie auch schon an, mit Pfeilen und Bogen zu üben, die ihr Vater für sie bastelte. Sie sehnten sich nach dem Tag, an dem sie mit ihm auf die Jagd gehen konnten. Der Jäger war aber nicht ohne sorgen, so hatte es den Anschein. Bevor er zur Jagd ging, sagte er jedes Mal zu seiner Frau:
„Verlaß die Wohning nie, wenn ich weg bin. Aus keinem Grund, hörst du!“ Falls irgendwelche Besucher kommen sollten, musst du sie natürlich gastfreundlich empfangen, ihnen zu essen und zu trinken geben, aber hör nicht auf ihr Geschwätz und werde sie sobald wie möglich wieder los! Oh,
meine Frau, achte auf meine Warnungen, denn es würde mir das Herz brechen, dich zu verlieren.“
„Ich will dir in allen dingen gehorchen“, sagte die Frau. „ Ich lebe nur, um deine Wünsche zu erfüllen.“ Als der Mann eines Wintertages auf der Jagd war, und die beiden kleinen Jungen im Freien mit Pfeil und Bogen übten, klopfte plötzlich eine alte, häßliche Frau an die Tür. Doch diese alte Frau wartete nicht ab, bis ihr die Tür geöffnet wurde, sondern kam schon nach dem ersten Klopfen hereingestampft und setzte sich ans Feuer. Und wie diese Alte redete! Die Frau des Jägers nähte gerade für einen der Jungen einen Fellmantel. Da sie sich an die Warnungen ihres Mannes erinnerte, nickte sie der alten Frau nur freundlich zu und fuhr mit der Näharbeit fort. Schließlich geriet die alte Frau in Zorn und schrie:“ Na schön, wenn ich hier als Besucher derartig behandelt werde, dann verschwinde ich lieber wieder.“ Mit stampfenden Schritten verließ die Alte das Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Was aber tat sie, als sie ins Freie kam? Sie verwandelte sich in einen Fuchs und rannte davon. Als der Jäger heimkam, sah er im Schnee die Spuren eines Fuchses, die zur Tür der Hütte führten und auch wieder von der Hütte wegführten. Er lief eiligst zu seiner Frau und sagte: „Ich sehe, daß du Besuch gehabt hast.“
„Ja, eine alte Frau“ erwiderte sie. „ Das war eine Fuchsfrau“, erklärte der Jäger. „Das Fuchsvolk ist eine schlaue und arglistige Bande. Ich wünschte die alte Frau wäre nicht hierhergekommen!“ Da lachte seine Frau und sagte:“ Die Alte hat nichts Böses getan. Sie hat nur geredet und geredet, aber ich habe nicht auf ihr Geschwätz gelauscht. Und dann ist sie verärgert gegangen, Ich glaube kaum, daß sie mich noch einmal besuchen kommt.“ Doch die Fuchsfrau kam wieder und kam sogar sehr oft. Und jedes Mal redete sie wie ein Wasserfall. Die Frau versuchte nicht zuzuhören, sondern lächelte nur, bot etwas zuessen und trinken an, was die Fuchsfrau aber immer ablehnte, und ging dann wieder ihrer Arbeit nach. Aber eines Tages im Winter hörte sie der Alten zu, weil diese sagte:“ Meine Güte, hast du eigentlich gar keine Angst, die Liebe deines Mannes zu verlieren?“
„Nein, ich habe keine Angst davor“, erwiderte die Ehefrau.
„Aber er hatte vor dir schon zwei andere Frauen“, sagte die verschlagene Fuchsfrau. „Und beide hatte er mit der Zeit satt. So ist das nun mal mit den Männern; kaum fängt eine frau an, nicht mehr so schön auszusehen, da hat ihr Mann keine Verwendung mehr für sie.“
„Mein Mann ist nicht so!“ widersprach die Ehefrau entrüstet.
„Haha,haha!“ lachte die Fuchsfrau schallend. „ Wie naiv du doch bist! Übrigens wirst du allmählich ziemlich schlampig, und das ist der Anfang vom Ende! Hast du denn keinen Stolz?
Denkst du nie über dein Aussehen nach? Deine Haare, o weh! Es ist ja eine Schande! Dein Mann wird bald glauben, daß du dir nichts mehr aus ihm machst, wenn du weiter so herumläufst. Na, komm schon. Ich will dir wenigstens die Haare kämmen.“ Die Frau war durch das Gerde der Alten beunruhigt. Es stimmte, daß sie sich nicht so viel darum kümmerte, wie sie aussah. Vielleicht waren ihre Haare wirklich unordentlich. Und vielleicht hatte ihr Mann schon längst bemerkt, war aber viel zu freundlich, um es zu erwähnen. Als die Fuchsfrau einen Kamm aus der Tasche zog und sagte: „ Setz dich hierher. Ich werde dir eine schöne Frisur machen, eine so schöne Frisur, daß dein Mann außer sich gerät, wenn er nach Hause kommt……….“, da sagte die Ehefrau: „ Ja, bitte tu das.“ Sie setzte sich folgsam zu den Füßen der Fuchsfrau hin. Oh, wenn sie doch bloß hochgeschaut und das böse Grinsen der Fuchsfrau gesehen hätte! Aber sie schaute nicht hoch! Und dann begann die Fuchsfrau sie zu kämmen. Dabei summte sie ein merkwürdiges Lied in einer Sprache vor sich hin, die für die Frau unverständlich war. Sie fand es höchst angenehm, so faul dazusitzen, während der Kamm sanft durch ihre Haare glitt, und dem Gesumm zuzuhören! Wie angenehm, wie sehr……angenehm. sie gähnte, schloß die Augen, öffnete sie mühsam, schloß sie wieder………gähnte noch einmal und schlief ein. Als sie aufwachte, war sie allein. Aber…..oh, ihr Kopf fühlte sich so schwer an und tat so weh! Luft! Sie mußte Luft haben! Sie eilte aus dem Haus, doch die Schmerzen in ihrem kopf wurden immer schlimmer. Sie fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und fühlte…… Was fühlte sie? Sie fühlte, zwei kleine harte Beulen, Beulen, die heiß waren und brannten. Beulen, die immer größer wurden, während sie sie betastete. Sie versuchte wieder ins Haus zu laufen, kam aber nicht mehr durch die Tür, weil sie inzwischen auf ihrem Kopf zwei verzweigte Geweihe trug…..Und nun veränderte sich auch ihr Körper. Sie stand plötzlich auf Händen und Füßen, doch das waren weder Hände noch Füße, sondern hufe. Die Kleider waren von ihr abgefallen und verschwunden. Ihr Körper war mit Fell bedeckt. O weh, sie war keine Frau mehr, sondern hatte sich in einen Karibu verwandelt. Der Karibu wandte sich ab und floh südwärts quer über die Tundra zu den Bergen hin…..
Als der Jäger am späten Nachmittag nach Hause kam, saßen seine beiden jungen Söhne, Manek und Merak, unglücklich in der Küche herum. Das Feuer war erloschen, es war bitterkalt.
„Wo ist eure Mutter?“ fragte der Jäger.
„Wir wissen es nicht“, sagte Manek.“
„Und wir möchten etwas zu essen“, sagte Merak.
In großer Sorge lief der Jäger wieder vors Haus. Direkt vor der Tür sah er die Fußspuren seiner Frau und daneben, oh Schreck, daneben sah er andere Spuren, die Fußspuren eines Karibus, die zuerst ganz wirr im Kreis herumgingen und dann über die Tundra zu den Bergen führten. O ja, der Jäger wußte genau, was geschehen war. Die Fuchsfrau war wieder dagewesen und hatte seine geliebte Frau in einen Karibu verwandelt. Der Jäger kehrte in die Hütte zurück. „Manek“, sagte er zu dem älteren Knaben. „Deine Mutter ist fort, ich werde mich auf die Suche nach ihr machen und sie zurückholen…..du hast die Verantwortung für euch beide. Vorerst ist genug Fleisch zum Essen da. Sobald der Vorrat an Fleisch erschöpft ist, musst du Pfeil und Bogen nehmen und etwas Essbares schießen. Verriegele aber immer die Tür, wenn du das Haus verlässt, und sprich mit keinem Menschen, merk dir das! Du darfst es auf keinen Fall vergessen, Manek! Sprich mit niemanden und laß unter gar keinen Umständen jemanden herein! Kann ich mich auf dich verlassen, Manek?“
„Ja, du kannst dich auf mich verlassen“, sagte Manek ernst.
Der Jäger nahm Pfeil und Bogen und ein Lasso und folgte den Fußabdrücken des Karibus quer über die Tundra in Richtung auf die Berge.

Zwei Tage lang waren diese Spuren deutlich zu erkennen und führten immer in dieselbe Richtung. Doch am dritten Tag begann ein großes Durcheinander. Mal führten die Spuren vorwärts, dann wieder rückwärts, einmal waren sie tief in den Boden eingegraben, als wäre der Karibu lange Zeit still gestanden, und dann verliefen die Spuren wieder vorwärts zu einer Stelle, wo der Jäger sie in einem wahren Gewimmel von Abdrücken verlor, denn es mußten Hunderte…. ach was…. Tausende von Karibus gewesen sein, die sich hier getroffen hatten…..Eindeutig hatte sich seine Frau einer Herde zugesellt. Wie aber sollte er nun den Karibu, der seine frau war, von allen anderen Karibus unterscheiden können, selbst wenn er imstande wäre. Die rasch dahinziehende Herde einzuholen? Wie sollte ihm das je gelingen?
Trotz seiner Verzweiflung lief er unermüdlich weiter. An einem kalten Abend sah er vor sich ein Licht schimmern. Es drang aus dem Fenster einer Hütte. Hoffnungsvoll eilte er darauf zu. Vielleicht fand er dort Unterkunft für die Nacht. Aber er mußte vorsichtig sein, denn die Bewohner der Hütte waren möglicherweise unangenehme Gesellen. Auf keinen Fall wollte er in einen Streit oder gar in eine Schlägerei verwickelt werden. Als er zur Hütte kam, legte er das Ohr an die Tür und lauschte. Er hörte stimmen einer Frau und eines Kindes.
Das Kind sagte: „ Mutter, erzähl mir eine Geschichte.“
Die Frau: „ Nein, nein, höchste Zeit, daß du endlich einschläfst.“
Das Kind bat weinerlich: „Ich kann nicht einschlafen, bevor du mir nicht eine Geschichte erzählt hast. Bitte, bitte!“
Darauf erwiderte die Frau: „ Na schön, aber nur eine! Wirst du dann wie ein liebes, braves Mädchen gleich einschlafen?“
Das Kind sagte eifrig: „ Ja, ich werde wie ein braves, liebes Mädchen einschlafen.“ Darauf begann die Frau zu erzählen:
„Es lebten einmal ein Mann und eine Frau mit ihren beiden Söhnen in einer einsamen Hütte zusammen. Der Mann war Jäger. Jedesmal, wenn er auf die Jagd ging, schärfte er seiner Frau, daß sie Hütte nicht verlassen dürfte, solange er weg war.
Außerdem dürfte sie nicht auf das Geschwätz irgendeines möglichen Besuchers hören. Aber dann kam eines Tages eine Fuchsfrau, und die Frau des Mannes hörte doch auf ihr Geschwätz. Die Fuchsfrau überredet sie dazu, sich die Haare kämmen zu lassen. Während die Fuchsfrau die Haare kämmte, sang sie ein Zauberlied, und die Frau des Jägers schlief ein. Als sie wieder aufwachte, stellte sie zu ihrem Schrecken fest, daß sie sich in einen Karibu verwandelt hatte……“
Bei diesen Worten stieß der Jäger die Tür auf und stürzte in die Hütte. Dabei rief er laut: „ Das ist meine Geschichte! Das ist meine Frau! Falls du etwas weißt, erzähl es mir, erzähl mir, wie ich sie finden, wie ich sie erkennen und wie ich sie zurückgewinnen kann!“
„ Also so was!” sagte die Frau. „ Wenn ich gewusst hätte, daß mir jemand zuhört, hätte ich den Mund gehalten.“
„ Gib auf deine Worte acht“, schrie der Jäger. „ Mach dich nicht über mich lustig.“
„Nein, ich mache mich über niemand lustig“, erwiderte die Frau. „ Und ich will dir auch alles erzählen, was ich weiß. Aber zuerst mußt du etwas essen, denn du siehst halbverhungert aus.“
„Essen“, rief der Mann. „ Wie kann ich etwas essen!“
Die Frau nahm einen Topf mit Schmorfleisch vom Feuer und füllte eine ordentliche Portion in eine Schüssel ab. „ Während du ißt, werde ich dir alles berichten“, sagte sie. „ Wenn ich seh, daß du aufhörst zu essen, höre ich auch mit meiner Erzählung auf.“ „ Während der Jäger das Essen hinunterschlang, fing die Frau an zu erzählen.
„Hinter der Bergkette liegt ein enges Tal, und durch dieses Tal ziehen in jedem Sommer unzählige Karibu – Herden gen Süden zu einer weiten Ebene, die fruchtbarer ist als unsere Tundra. In einer dieser Herden lebt eine Frau und hat dich und die Kinder vergessen. Sie ist zierlicher und lebhafter als ihre Artgenossen, und läuft ständig vor der Herde her und dann wieder zur Herde zurück und wieder weit nach vorne, als wäre sie auf der Suche nach etwas, das sie nicht finden kann. Ihr Fell ist heller als das der anderen Karibus – man könnte es fast weiß nennen – , und sie hat ein breites, ausladenes Geweih wie die männlichen Tiere. Du kannst sie leicht erkennen. Du darfst aber keinesfalls Bogen und Pfeil benutzen. Wenn du ihr auch nur die kleinste Wunde zufügst, muß sie sterben. Fang sie mit dem Lasso ein. Wenn du sie zu Sturz gebracht hast, beug dich zu ihren Ohren hinunter und flüstere ihr alle Liebesworte ins Ohr, die dir einfallen. Dann heb sie auf deine Arme, und du wirst in deinen Armen keinen Karibu, sondern deine Frau halten. Woher ich das weiß? Ich kann dir nicht sagen, woher ich das weiß. Das bleibt mein Geheimnis. Jetzt aber leg dich auf die Ofenbank und schlafe. Leg dich hin und schlafe!“
Der Jäger glaubte, auf keinen Fall einschlafen zu können. Doch er schlief sofort ein und wachte am nächsten Morgen frisch gestärkt und tatendurstig auf. Die Frau bereitete gerade das Frühstück, und das kleine Mädchen war schon gewaschen und angezogen. In Eile schlang der Jäger alles Essen hinunter daß die Frau vor ihn hinstellte, ohne darauf zu achten, was es war, weil er es kaum abwarten konnte, sich wieder auf den Weg zu machen. Die Frau versuchte auch gar nicht, ihn zurückzuhalten. Sie schien an seinem Aufbruch fast ebenso interessiert als er selbst.
„Es gibt eine Möglichkeit“, erwiderte sie. „Wenn du auf die Jagd gehst und gute Beute machst, dann lege ein Stück Fleisch für mich beiseite und sprich dabei laut: „ Dies ist für diejenige, die mir in meiner Not geholfen hat. Wo du es auch hinlegst, ich werde es finden. Aber nun geh und schau dich nicht um, wenn du die Hütte verlässt. Erst wenn du ein ganzes Stück weit weg bist, dann kannst du dich umsehen. Ich werde dir folgen, um dafür zu sorgen, daß dir kein Leid geschieht.“
Darauf trat die Frau in die Hütte zurück und schloß die Tür. Der Jäger aber wanderte über die Tundra in Richtung der Berge. Ab und zu hielt er an, um einen Haufen Steine zusammenzutragen, die im als Wegzeichen dienen sollten, damit er sich auf dem Rückweg nicht verirrte. Schließlich gab es auf dieser weiten, Ebene kein Orientierungspunkt, der ihn leiten konnte, außer der kleinen Hütte der Frau, wo er die Nacht verbracht hatte. Doch diese Hütte würde aus dieser Entfernung nicht zu sehen sein.
„ Merkwürdig, daß eine Frau mit ihrem Kind in solcher Einsamkeit lebt“, dachte er. Noch merkwürdiger war ihre Art,
mit ihm zu reden, als sei sie sicher, daß er ihr gehorche. Und er hatte ihr ja auch tatsächlich gehorcht, denn er hatte sich noch kein einziges Mal umgedreht.
„ Ich werde dir folgen, um dafür zu sorgen, daß dir kein Leid geschieht“, hatte sie gesagt. Das war bestimmt sehr gut gemeint, aber er mußte bei der Vorstellung doch lachen, daß eine Frau annahm, sie könnte ihn beschützen! Folgte sie ihm wirklich nach? Wenn er sich jetzt umschaute, war es nicht unfolgsam, denn die kleine Hütte lag ja schon ein ganzes Stück weit zurück. Also blieb er stehen und drehte sich um. Was aber sah er? Die trostlose Tundra erstreckte sich bis zum Horizont, und die Hütte war nur noch ein winziger Fleck. Zwischen ihm und der Hütte sah er zwei Gestalten, die seiner Spur folgten: ein hünenhafter Bär und ein Bärenjunges, also das war sie ….ein Grizzlybär!
„ In meinem ganzen Leben werde ich nie mehr einen Grizzlybär schießen“, sagte der Jäger zu sich selbst, als er seinen Weg zu den Bergen fortsetzte. Es war ein langer, anstrengender Weg, und dem ungeduldigen Jäger kam er noch länger vor, als er es in Wirklichkeit war. Doch schließlich erreichte er die Berge und fand einen Pfad, wo der weiche Boden Tausende und aber Tausende von Fußspuren der Karibus aufwies. Er folgte den Hufspuren bergauf, höher und höher und dann wieder hinunter, tiefer und tiefer, bis er schließlich in dem weiten grünen Tal anlangte, wo eine Herde von ungefähr dreitausend Karibus allmählich immer weiter gen Süden zog. Die Herde bewegte sich nur gemächlich vorwärts. Es war für ihn ein leichtes, sie zu überholen. Vielleicht aber würden die Tiere bei seinem Anblick in Panik geraten und in alle Richtungen davonstürmen, so daß es ihm unmöglich wäre, ein Tier vom anderen zu unterscheiden. Wie sollte er dieses Problem lösen? Er mußte vor die Herde gelangen und sie an sich vorbeiziehen zu lassen. Zum Glück standen in dem Tal viele Büsche, die der Jäger als Deckung benutzte, während er ab und zu auf allen vieren kroch, dann wieder einen Satz machte oder einen kleinen Spurt einlegte. Nach einiger Zeit konnte er das schützende Buschwerk verlassen, da er die Herde überholt hatte. Und schon hatte nähert sich die Herde. Die Felswände werfen das Echo des Hufegtrappels zurück. Die Tiere laufen dicht beieinander, doch dort ist ein Tier – es ist ein helles Karibu – Weibchen – das für sich alleine läuft. Mal rennt es ein Stück vor der Herde her, mal hält es an und schaut sich um, als sei es verwirrt, dann wieder galoppiert es zur Herde zurück…… als wäre es auf der Suche nach etwas, das es nicht finden kann. Der Jäger erinnert sich an die Worte der Bärenfrau……, ihr Fell ist heller als das der anderen Karibus – man könnte es fast weiß nennen -, und sie hat ein breites, ausladenes Geweih wie die männlichen Tiere!
Ja, das ist sie ….das ist seine Frau! Um sie zu retten und nach Hause zu holen, ist er die weite, weite Strecke gekommen. In Hockstellung wickelt der Jäger das Lasso ab, das er auf dem Rücken getragen hatte, springt auf die Füße und holt weit aus.
Der kleine Karibu mit dem hellen Fell wird durch das Lasso zu Boden gerissen, und die erschreckte Herde teilt sich rechts und links von ihm und galoppiert weiter das Tal hinunter. Als alle weg sind, läuft der Jäger zu dem Karibu – Weibchen hinüber. Er kniet daneben, nimmt es in die Arme und küsst den schmalen hellbraunen Kopf immer wieder.
„ Meine Frau“, schluchzt er. „ Meine Frau, Meine Frau….“
Und – o Wunder! – In seinen Armen liegt kein Karibu mehr, sondern eine Frau – seine Frau. Er zieht den Fellmantel aus, wickelt sie fest darin und stellt sie behutsam auf die Füße.
Verwirrt wie jemand, der gerade aus einem Traum erwacht, schaut sie ihn an.
„ Ich begreife nicht“, sagt sie. „ Wo sind wir denn?“
„ Wir sind in den Bergen und gehen jetzt nach Hause“, erwiderte er. „Den Rest werde ich dir nach und nach erzählen.“
Hand in Hand steigen sie den Bergpfad hinauf und auf der anderen Seite hinunter zur Tundra. Mit Hilfe der Steinhaufen, die der Jäger hier und da auf seinem Hinweg zusammengetragen hatte, suchten sie sich ihren Weg quer durch diese endlose Weite. Unter jedem Steinhaufen fanden sie ein kleines Päckchen mit Essen, daß die Bärenfrau ihnen fürsorglich hingelegt hatte. Der Jäger pies sie voller Dankbarkeit und Güte. Schließlich kamen sie in die Sichtweite ihrer eigenen Hütte, wo ihnen der Weg von zwei hübschen jungen Burschen versperrt wurde, die sie mit Pfeil und Bogen bedrohten.
„ Halt, oder ich schieße“, rief der Ältere.
Der Jäger musterte die zwei jungen Männer und lachte dann.
„ Also wirklich, Manek, mein Sohn“, sagte er. „ Erkennst du deinen eigenen Vater nicht mehr? Schau, ich habe eure Mutter wieder heimgebracht. Doch tatsächlich, ich habe nicht bedacht, wie viele Jahre inzwischen vergangen sind. Aber jetzt wollen wir hineingehen, denn eure Mutter brauchte etwas zu essen und muß sich vor allem erholen. Und ich habe euch eine lange und seltsame Geschichte zu erzählen.“
Alle vier gingen gemeinsam in die Hütte und unsere Geschichte ist damit zu Ende. Doch etwas möchte ich noch sagen: Der Jäger vergaß nie, seinem Versprechen gemäß, ein Stück Fleisch für die Bärenfrau beiseite zu legen, wenn er ein Tier erledigt hatte.
„ Dies ist für diejenige, die mir in meiner Not geholfen hat“, sagte er, wenn er das Stück Fleisch hinlegte, so verschwand dieses Fleisch auch. Obwohl er die Bärenfrau nie wieder zu Gesicht bekam, wußte er auf diese Weise doch, daß sie ihm nah war. Und in diesen Augenblicken dankte er ihr und pries sie in seinem Herzen.

Quelle:
Alaska

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