Oft fragten die Indianerkinder im Norden, warum die Schawondasi, der Südwind nicht länger bei ihnen verweile und warum er nicht endlich den Nordwind Kabibonoka immer dorthin jagte, wohin er gehört – nach Mitternacht, in das Land des Eises. Wie schön müßte es sein, wenn das ganze Jahr Sommer wäre! Die erwachsenen Indianer aber antworteten ihnen:
„Der Schawondasi ist dick und faul. Er liegt den ganzen Tag nur müßig herum und raucht gemächlich seine Pfeife. Damit kann er vielleicht seine unfrohen Gedanken, aber nicht den Kabibonoka vertreiben.“
„Warum ist denn der Südwind nicht glücklich?“ fragten die Kinder einen alten Indianer.
„Warum er nicht glücklich ist? Ja – das kam so:
„Ihr wisst doch, daß der Schawondasi den Sommer bringt. Eines Tages, er war damals noch jung, schaute er über die Prärie nach Norden. Die Luft war voll von Gesang und Sommerdüften, hoch und blau wölbte sich der Himmel, daß es eine Freude war. Da sah er in der Ferne ein wunderschönes Mädchen. Ganz allein stand sie inmitten der Wiesenblumen, sie war schlank wie eine Gerte, und ihr Haar war von einem so herrlichen Glanz,
daß ihm die Augen übergingen. Er fand großen Gefallen an ihr, aber nun denkt nur ja nicht, daß er etwa aufstand und zu ihr hinging. Er war nämlich damals schon genauso ein Faulpelz wie heute.
Und so schaute er nur, und schaute und hätte sich bald die Augen ausgeschaut. Aber etwas tat er trotz seiner Trägheit: Jedesmal, wenn er erwachte, wandte er seinen Kopf der Gestalt auf der Wiese zu, um sich an dem Anblick ihrer Schönheit zu erfreuen. Es dauerte nicht lange, und er war in das zarte Wesen über die Ohren verliebt. Oft und oft war er schon nahe daran, der Versuchung zu unterliegen und seine Erwählte aufzusuchen, die wie eine liebliche Vision ununterbrochen vor seinen Augen stand. Aber seine Trägheit trug jedes Mal den Sieg davon, und er schlief wieder ein.
Aber das sollte ihm teuer zu stehen kommen!
Eines Morgens drehte er seinen kopf wie immer gen Norden, und siehe da, die goldenen Haare, die er so geliebt hatte, waren auf einmal silbergrau, als ob Reif darauf gefallen wäre!
Sein erster Gedanke war die Kabibonoka, der Nordwind. Der mußte das Mädchen mit seinem Mitternachtsmärchen an sich gelockt, es mit frostklirrenden Ketten gefesselt und ihm Reif aufs Haar gestreut haben!
Schawondasi brach in lautes Klagen aus und machte sich wegen seiner Trägheit die bittersten Vorwürfe. Und dann stieß er einen tiefen Seufzer nach dem anderen aus, so daß sein warmer Atem durch die ganze Gegend zog. Da brach über die Prärie ein Wetter los, durch die Luft flog etwas Weißes – der erste Schnee. Und das Mädchen?
Ach ja, das Mädchen war für immer verschwunden.“ – Wie hat sie denn so mir nichts dir nichts verschwinden können?“ fragten die Kinder.
„Das werdet ihr gleich erfahren“, sagte der Alte, mit einem verschmitzten Lächeln. „Auf jener Wiese stand nämlich gar kein Mädchen, sondern – eine gelbe Löwenzahnblume, und weil der Schawondasi nicht nur träge, sondern auch nachlässig war, hatte er nicht einmal recht hingesehen und die Blume für ein Mädchen gehalten. Schließlich verblühte sie – daher die silbergrauen Haare. Und der Südwind, der, wie ihr wißt, den Nordwind im Verdacht hatte, blies durch seine vielen Seufzer den Flaum der Löwenzahnblüte über die ganze Prärie.
Selbstverständlich konnte er das Mädchen dann nirgends mehr finden. Er hat sein Unglück selbst verschuldet, und die Reue kam wie immer zu spät.
Aber was wollt ihr? Von einem Faulpelz kann man eben nicht verlangen, daß er sich die Mühe nimmt und ein wenig nachdenkt, um einer Sache auf den Grund zu kommen. Nur die Indianer wissen, daß am Ende des Sommers, wenn über dem Land Trauer und Trübsal liegt, der Schawondasi wieder seine Seufzer ausstößt und sich in Sehnsucht nach seiner erträumten Geliebten verzehrt.
Quelle: Indianermärchen der Algokin