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Märchenbasar

Die Meermaid

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In der alten glücklichen Zeit gab es auf Erden viel bessere Menschen als jetzt, darum ließ ihnen der himmlische Vater auch manche Wunder offenbar werden, welche heut‘ zu Tage entweder ganz verborgen bleiben, oder nur selten einmal einem Glückskinde erscheinen. Zwar die Vögel singen nach alter Weise, und die Thiere tauschen ihre Laute aus, aber leider verstehen wir ihre Sprache nicht, und was sie sagen, bringt uns weder Lehre noch Nutzen.
In der Wiek wohnte vor Zeiten am Strande eine schöne Meermaid, die sich den Leuten oftmals zeigte; noch meines Großvaters Vetter, der in dieser Gegend aufwuchs, hatte sie zuweilen auf einem Steine sitzen sehen, aber das Bürschlein hatte nicht gewagt näher zu treten. Die Jungfrau erschien in mancherlei Gestalten, bald als Füllen oder Färse, bald wieder als ein anderes Thier; manchen Abend mischte sie sich unter die Kinder, und ließ es sich gefallen, daß sie mit ihr spielten, daß sich die Knäblein ihr auf den Rücken setzten – dann war sie plötzlich wie unter die Erde gesunken!
Wie die alten Leute jener Zeit erzählten, konnte man die Jungfrau in früheren Tagen fast jeden schönen Sommerabend am Meeresufer sehen, wo sie auf einem Steine sitzend ihr langes blondes Haar mit goldenem Kamme glättete, und so schöne Lieder sang, daß den Hörern das Herz hinschmolz. Die Annäherung der Menschen aber duldete sie nicht, sondern entschwand ihren Blicken, oder entwich in’s Meer, wo sie als Schwan sich auf den Wellen schaukelte. Warum sie vor den Menschen floh, und nicht mehr das frühere Zutrauen zu ihnen hatte, darüber wollen wir jetzt das Nähere melden.
In alten Tagen, lange vor der Schwedenzeit, lebte am Strande der Wiek ein wohlhabender Bauer mit seiner Frau und vier Söhnen; ihren täglichen Unterhalt gewannen sie mehr der See als dem Acker ab, weil der Fischfang zu ihrer Zeit gar reich gesegnet war. Ihr jüngster Sohn zeigte sich von klein auf in allen Stücken anders als seine Brüder, er mied die Gesellschaft der Menschen, schlenderte am Meeresufer und im Walde umher, sprach mit sich selbst, mit den Vögeln oder mit Wind und Wellen, aber wenn er unter die Leute kam, öffnete er den Mund nicht viel, sondern stand wie träumend. Wenn im Herbst die Stürme auf dem Meere tobten, die Wellen sich haushoch thürmten und sich schäumend am Ufer brachen, dann ließ es dem Knaben zu Hause keine Ruhe mehr, er lief wie besessen, oft halb nackend, an den Strand. Wind und Wetter scheute sein abgehärteter Körper nicht. Er sprang in den Kahn, ergriff die Ruder und fuhr, gleich einer wilden Gans, auf dem Kamme der tobenden Wellen weit in die See hinaus, ohne daß seine Verwegenheit ihm jemals Gefahr gebracht hätte. Am Morgen, wenn der Sturm ausgetobt hatte, fand man ihn am Meeresufer in süßem Schlafe. Schickte man ihn irgend wohin, um ein Geschäft zu besorgen, z.B. im Sommer das Vieh zu hüten, oder sonst kleine Arbeiten zu übernehmen, so machte er seinen Eltern nur Verdruß. Er warf sich irgendwo in den Schatten eines Busches, ohne der Thiere zu achten, die sich zerstreuten, Wiesen oder Kornfelder betraten, und sich auch theilweise verliefen, so daß die Brüder Stunden lang zu thun hatten, bis sie der verlorenen Thiere wieder habhaft wurden. Wohl hatte der Vater den Knaben die Ruthe bitter genug fühlen lassen, aber das wirkte nicht mehr, als Wasser auf eine Gans gegossen. Als der Knabe zum Jüngling herangewachsen war, ging es auch nicht besser, keine Arbeit gedieh unter seinen lässigen Händen; er zerschlug und zerbrach das Arbeitsgeräth, mattete die Arbeitsthiere ab, und schaffte doch nichts Rechtes.
Der Vater gab ihn nun auf fremde Bauerhöfe in Dienst, weil er hoffte, daß vielleicht die fremde Peitsche den Lotterer bessern und zum ordentlichen Menschen machen möchte; aber wer den Burschen eine Woche lang auf Probe gehabt hatte, schickte ihn auch in der nächsten Woche wieder zurück. Die Eltern schalten ihn einen Tagedieb, und die Brüder hießen ihn »Schlaf-Tönnis;« binnen kurzem war dieser Spitzname in aller Munde, wiewohl er auf den Namen Jürgen getauft war. Weil nun der Schlaf- Tönnis keinem Menschen Nutzen brachte, vielmehr Eltern und Geschwistern nur zur Last fiel und im Wege war, so hätten sie gern ein Stück Geld hingegeben, wenn Jemand sie von dem Faullenzer befreit hätte. Als der Schlaf-Tönnis nirgends mehr aushielt, und auch Niemand ihn behalten wollte, verdingte ihn endlich der Vater bei einem fremden Schiffer als Knecht, weil er doch auf der See nicht davon laufen konnte, und weil der Bursche auch das Meer von klein auf geliebt hatte. Trotzdem war er nach einigen Wochen, ich weiß nicht wie? von dem Schiffe entkommen, und hatte seine trägen Füße wieder auf den heimischen Boden gesetzt. Nur schämte er sich, das Haus seiner Eltern zu betreten, wo er auf keinen freundlichen Empfang hoffen durfte, er trieb sich von einem Orte zum andern herum, und suchte sein Leben zu fristen, wie es ging, ohne zu arbeiten. Er war ein hübscher starker Bursche, und konnte ganz angenehm sprechen, wenn er wollte, obschon er im elterlichen Hause seinen Mund nie viel zum Reden gebraucht hatte. Jetzt mußten ihn sein schmuckes Aussehen und seine glatte Rede erhalten, denn er wußte sich damit bei Frauen und Mädchen einzuschmeicheln.
Da geschah es, als er an einem schönen Sommerabend nach Sonnenuntergang allein am Strande sich erging, daß der Meermaid holder Gesang an sein Ohr drang. Schlaf-Tönnis dachte alsbald: »Sie ist auch ein Weib, und wird mir nichts zu Leide thun!« Er zögerte also nicht, dem Gesange nachzugehen, um den schönen Vogel in Augenschein zu nehmen. Er bestieg den höchsten Hügel, und gewahrte von da über einige Felder weg die Meermaid, die auf einem Steine saß, wo sie mit goldenem Kamme ihr Haar glättete und ein herrliches Lied sang. Der Jüngling hätte sich mehr Ohren gewünscht, um den Gesang zu hören, der ihm in’s Herz schlug wie eine Flamme; als er aber näher kam, sah er, daß hier eben so viele Augen Noth thäten, die Schönheit der Jungfrau zu fassen. Gewiß hatte die Meermaid den Kommenden bemerkt, aber sie floh nicht vor ihm, was sie doch sonst immer that, wenn sich Menschen ihr näherten. Schlaf-Tönnis mochte etwa noch zehn Schritte von ihr sein, als er plötzlich still stand, unentschlossen, ob er warten oder näher treten solle. Und wunderbar! Die Meermaid erhob sich vom Steine und kam ihm mit freundlicher Miene entgegen. Grüßend bot sie dem Jüngling die Hand und sagte: »Ich habe dich hier schon manchen Tag erwartet, weil ein bedeutsamer Traum mir deine Ankunft kündete. Du hast unter den Menschen nirgends Haus noch Heim, wohin du gehen könntest, oder wo Leute deines Schlages taugten. Warum solltest du auch von Fremden abhängig sein, wenn die Eltern dir in ihrem Hause keine Stätte bieten? Ich kenne dich von klein auf und besser, als die Menschen dich kennen, weil ich ungesehen oft um dich war und dich schützte, wenn dein verwegener Uebermuth dich hätte verderben können. Ja, meine Hände haben oft dein schwankes Boot gehütet, daß es nicht in die Tiefe sank! Komm mit mir, du sollst Herrentage haben, und es soll dir an nichts mangeln, was dein Herz nur begehrt, sollst du kosten. Ich will dich warten und hüten wie meinen Augapfel, daß weder Wind noch Regen noch Frost dir etwas anhaben sollen.« Schlaf-Tönnis stand noch immer im Zweifel, er kratzte sich hinter den Ohren und überlegte, was er antworten solle; obgleich jedes Wort der Jungfrau ihm wie ein Feuerpfeil in’s Herz gedrungen war. Endlich fragte er schüchtern, ob ihre Behausung weit von hier sei. »Wir können mit Windesschnelle dahin kommen, wenn du festes Vertrauen zu mir hast,« erwiederte die Meermaid. Da fielen dem Schlaf-Tönnis plötzlich mancherlei Reden ein, die er früher von den Leuten über die Meermaid gehört hatte, das Herz bangte ihm, und er bat sich drei Tage Bedenkzeit aus. »Ich will deinen Wunsch erfüllen,« sagte die Meermaid, »aber damit du nicht wieder unsicher werdest, will ich dir, bevor wir scheiden, meinen goldenen Ring an deinen Finger stecken, auf daß du das Wiederkommen nicht vergessest. Wenn wir dann näher mit einander bekannt werden, so kann vielleicht aus diesem Pfande ein Verlobungsring werden.« Mit diesen Worten zog sie den Ring ab, steckte ihn dem Jüngling an den kleinen Finger und verschwand dann, als wäre sie in Luft zerflossen. Schlaf- Tönnis blieb mit offenen Augen stehen, und hätte das Vorgefallene für einen Traum gehalten, wenn nicht der glänzende Ring an seinem Finger das Gegentheil dargethan hätte. – Aber mit diesem Ringe schien wie ein fremder Geist in ihn gefahren zu sein, der ihm nirgends mehr Rast noch Ruhe ließ. Er streifte die ganze Nacht unstet am Strande umher und kam immer wieder zu dem Steine zurück, auf welchem die Jungfrau gesessen hatte – aber der Stein war kalt und leer. Am Morgen legte er sich ein wenig nieder, aber unruhige Träume störten seinen Schlaf. Als er erwachte, fühlte er weder Hunger noch Durst, all sein Sinnen stand nur auf den Abend, da hoffte er die Meermaid wieder zu sehen. Der Tag neigte sich endlich, es wurde Abend, der Wind legte sich, die Vögel im Erlenbusch hörten auf zu singen, und steckten die müden Schnäbel unter die Flügel – aber die Meermaid sah er an dem Abend nirgends.
Sorge und Leid preßten ihm schwere Thränen aus, in seinem Unmuth hätte er sich die bitterste Qual anthun mögen – warum hatte er am gestrigen Abend das dargebotene Glück verschmäht und sich eine Bedenkzeit ausbedungen, wo ein Klügerer als er das Glück mit beiden Händen bei den Hörnern gepackt haben würde. Nun half keine Reue noch Klage. Nicht minder trübselig verstrich ihm die Nacht und der folgende Tag; unter der Last des Kummers fühlte er nicht einmal den Hunger. Gegen Sonnenuntergang setzte er sich zerknirschten Herzens auf eben den Stein, auf welchem die Meermaid vorgestern gesessen hatte, fing an bitterlich zu weinen und sagte ächzend: »Wenn sie heute nicht kommt, so will ich nicht länger mehr leben, sondern entweder hier auf dem Steine Hungers sterben, oder mich jählings in die Wellen stürzen und in der Tiefe des Meeres mein elendes Leben enden!« – Ich weiß nicht, wie lange er so in Gram versunken gesessen hatte, als er eine weiche warme Hand auf seiner Stirne fühlte. Als er die Augen aufschlug, sah er die Jungfrau vor sich, die ihn liebreich anredete: »Ich sah deine herbe Qual, hörte dein sehnsüchtiges Seufzen und mochte nicht länger zögern, obgleich deine Bedenkzeit erst morgen Abend abläuft.«
»Vergebt mir, vergebt mir, theure Jungfrau!« bat Schlaf-Tönnis schluchzend. »Vergebt mir! ich war ein sinnloser Thor, daß ich das unverhoffte Glück nicht festzuhalten wußte. Der Teufel weiß, was für eine Tollheit mir vorgestern in den Kopf kam! Bringt mich, wohin ihr wollt, ich widerstrebe nicht, ja ich würde mit Freuden mein Leben für euch hingeben.«
Die Meermaid erwiederte lachend: »Mich verlangt nicht nach deinem Tode, sondern ich will dich lebend als lieben Genossen zu mir nehmen.« Dann nahm sie den Jüngling bei der Hand, führte ihn einige Schritte näher an’s Meer, verband ihm mit einem seidenen Tuche die Augen, und in demselben Augenblicke fühlte sich Schlaf-Tönnis von zwei starken Armen umfaßt, welche ihn wie im Fluge emporhoben und dann jählings in die Flut stürzten. Als die kalte Flut seinen Leib berührte, verlor er das Bewußtsein, so daß er nicht mehr wußte, was mit ihm und um ihn vorging. Er konnte also späterhin auch nicht sagen, wie lange seine Ohnmacht gedauert hatte.
Als er erwachte, sollte er noch Seltsameres erfahren.
Er fand sich auf weichem Kissen in seidenem Bette, das in einem prächtigen Gemache stand, dessen Wände von Glas und von innen mit rothen Sammetdecken verhüllt waren, damit das grelle Licht den Schläfer nicht wecke. Eine Zeit lang wußte er selbst nicht recht, ob er noch lebe oder sich nach dem Tode an einem unbekannten Orte befinde. Er reckte seine Glieder hin und her, nahm seine Nasenspitze zwischen die Finger, und siehe! – es war Alles, wie es sein mußte. Angethan war er mit einem feinen weißen Hemde, und schöne Kleider lagen auf einem Stuhl vor seinem Bette. Nachdem er sich eine Zeit lang im Bette gedehnt und sich handgreiflich überzeugt hatte, daß er wirklich am Leben sei, stand er endlich auf und zog sich an. – Zufällig hustete er, und augenblicklich traten zwei Mädchen ein, grüßten ehrerbietig und baten, der »gnädige Herr« möge ihnen sagen, was er frühstücken wolle. Während die eine den Tisch deckte, ging die andere die Speisen zu bereiten. Es dauerte nicht lange, so standen Schüsseln mit Schweinefleisch, Wurst, Blutklößen und Scheibenhonig, nebst Bier- und Methkannen auf dem Tische – gerade als ob eine prächtige Hochzeit gefeiert würde. Schlaf-Tönnis, der mehrere Tage ohne Nahrung geblieben war, setzte seine Kinnladen in Bewegung und aß, was der Magen fassen wollte, dann streckte er sich aufs Bett, um zu verdauen. Als er wieder aufstand, kamen die Dienerinnen zurück und baten den »gnädigen Herrn«, im Garten spatzieren zu gehen, während die gnädige Frau sich ankleiden lasse. Es wurden ihm von allen Seiten so viel »gnädige Herren« an den Hals geworfen, daß er schon anfing, sich für einen solchen zu halten, und seines früheren Standes vergaß.
Im Garten fand er auf Schritt und Tritt Schönheit und Zierde; im grünen Laube glänzten goldene und silberne Aepfel, sogar die Fichten- und Tannenzapfen waren golden und goldgefiederte Vögel hüpften in den Wipfeln und auf den Zweigen. Zwei Mädchen traten hinter einem Gebüsche hervor, sie hatten Auftrag, den »gnädigen Herrn« im Garten herum zu führen und ihm alle Schönheiten desselben zu zeigen. Weiter gehend gelangten sie an den Rand eines Teiches, auf welchem silbergefiederte Gänse und Schwäne schwammen. Ueberall schimmerte Morgenroth, doch nirgends sah man die Sonne. Die mit Blüthen bedeckten Gebüsche hauchten süßen Duft aus, und Bienen, groß wie Bremsen, flogen um die Blüthen herum. Alles, was unser Freund hier von Bäumen und Gewächsen erblickte, war viel herrlicher, als wir es jemals schauen. Sodann erschienen zwei prächtig gekleidete Mädchen, um den »gnädigen Herrn« zur gnädigen Frau einzuladen, welche ihn erwarte. Ehe man ihn zu ihr führte, wurde ihm noch ein blauseidener Shawl um die Schultern gelegt. Wer hätte in diesem Aufzuge den früheren Schlaf-Tönnis wieder erkannt?
In einer prächtigen Halle, die so groß wie eine Kirche und auch, wie das Schlafgemach, aus Glas gegossen war, saßen zwölf schöne Jungfrauen auf silbernen Stühlen. Hinter ihnen auf einer Erhöhung unweit der Wand standen zwei goldene Stühle, auf deren einem die hehre Königin saß, während der andere noch leer war. Als Schlaf-Tönnis über die Schwelle trat, erhoben sich alle Jungfrauen von ihren Sitzen und grüßten den Ankömmling ehrerbietig, setzten sich auch nicht eher wieder, als bis es ihnen geheißen worden. Die Herrin selber blieb auf ihrem Stuhle sitzen, nickte dem Jünglinge ihren Gruß zu und winkte befehlend mit dem Finger, worauf die Führerinnen den Schlaf- Tönnis in die Mitte nahmen und zur Herrin geleiteten. Der Jüngling ging schüchternen Schrittes vorwärts, und wagte nicht die Augen aufzuschlagen, denn all‘ die unerwartete Pracht und Herrlichkeit blendete ihn. Man wies ihm seinen Platz auf dem goldenen Stuhle neben der Herrin an, und diese sagte: »Dieser Jüngling ist mein lieber Bräutigam, dem ich mich verlobt und den ich mir zu meinem Gemahl erkoren habe. Ihr müßt ihm jegliche Ehre erweisen und ihm eben so gehorchen wie mir. Jedes Mal, daß ich das Haus verlasse, müßt ihr ihm die Zeit vertreiben und ihn pflegen und hüten wie meinen Augapfel. Schwere Strafe würde den treffen, der meinen Willen nicht pünktlich erfüllt.«
Schlaf-Tönnis sah wie verbrüht drein, weil er gar nicht wußte, was er von der Sache halten solle; die Erlebnisse dieser Nacht schienen wunderbarer als Wunder. Er mußte sich in Gedanken immer wieder fragen, ob er wache oder träume. Die Herrin errieth, was in ihm vorging, erhob sich von ihrem Stuhle, nahm ihn bei der Hand und führte ihn aus einem Zimmer in’s andere; alle waren menschenleer. So waren sie in das zwölfte Gemach gelangt, das etwas kleiner aber noch prächtiger war, als die andern. Hier nahm die Herrin ihre Krone vom Haupte, warf den goldverbrämten seidenen Mantel ab, und als Schlaf-Tönnis jetzt die Augen aufzuschlagen wagte, sah er keine fremde Herrin, sondern die Meermaid an seiner Seite. O du liebe Zeit! jetzt wuchs ihm plötzlich der Muth und seine Hoffnung erblühte. Freudig rief er: »O theure Meermaid!« – aber in demselben Augenblick schloß die Hand der Jungfrau ihm den Mund; sie sprach in ernstem Tonne: »Wenn dir mein und dein eigenes Glück lieb ist, so nenne nie mehr diesen Namen, den man mir zum Schimpf beigelegt hat. Ich bin der Wasser-Mutter Tochter, und unserer sind viele Schwestern, wenn wir auch alle einsam, jede an ihrem Ort, im Meere, in Seen und Flüssen wohnen, und uns nur selten einmal durch einen glücklichen Zufall zu sehen bekommen.« Dann erklärte sie ihm, sie habe bis jetzt jungfräulich gelebt, müsse aber als verordnete Herrscherin Namen und Würde einer königlichen Frau aufrecht erhalten. Schlaf-Tönnis war durch sein unverhofftes Glück wie von Sinnen gekommen, er wußte nicht, was er in seiner Freude beginnen sollte, aber die Zunge war ihm wie gebunden, und er brachte nicht viel mehr heraus als Ja oder Nein. Als er sich aber beim Mittagsmahl die leckeren Speisen schmecken ließ, und als die köstlichen Getränke ihm warm machten, da löste sich auch seine Zunge, und er wußte sich nicht bloß wie sonst gut zu unterhalten, sondern auch manchen artigen Scherz anzubringen.
Am folgenden und am dritten Tage ging dieses glückliche Leben eben so fröhlich weiter; Schlaf-Tönnis glaubte sich bei lebendigem Leibe in den Himmel versetzt. Vor Schlafengehen sagte die Meermaid zu ihm: »Morgen haben wir Donnerstag, und allwöchentlich muß ich, einem Gelübde gemäß, an diesem Tage fasten und einsam von allen Andern getrennt leben. Donnerstags kannst du mich nicht früher sehen, als bis der Hahn Abends drei Mal gekräht hat. Meine Dienerinnen werden inzwischen für dich sorgen, daß dir die Zeit nicht lang werde, und es dir an Nichts fehle.«
Am andern Morgen fand Schlaf-Tönnis seine Genossin nirgends – er gedachte dessen, was sie ihm am Abend zuvor angekündigt hatte, nämlich, daß er heute und jeden künftigen Donnerstag ohne seine Gemahlin zubringen müsse. Die Dienerinnen bemühten sich, ihm auf alle Weise die Zeit zu vertreiben, sie sangen, spielten und führten heitere Tänze auf; dann setzten sie ihm wieder Speise und Trank vor, wie ein geborener Königssohn sie nicht besser haben konnte, und der Tag verging ihm schneller als er geglaubt hatte. Nach dem Abendessen begab er sich zur Ruhe, und als der Hahn das dritte Mal gekräht hatte, kam die Schöne wieder zu ihm. Ebenso ging es an jedem folgenden Donnerstage. Oft zwar hatte er die Geliebte gebeten, am Donnerstage mit ihr zusammen fasten zu dürfen, aber vergebens. Als er nun einst wieder an einem Mittwoch seine Gemahlin mit dieser Bitte quälte und ihr keine Ruhe ließ, sagte die Meermaid mit thränenden Augen: »Nimm mein Leben, wenn du willst, ich gebe es gerne hin, aber deinen Wunsch, dich zu meinem Fasttage mitzunehmen, kann und darf ich nicht erfüllen.«
Ein Jahr oder darüber mochte ihnen so verflossen sein, als sich Zweifel im Herzen des Schlaf-Tönnis regten, die immer quälender wurden, so daß er keine Ruhe mehr fand. Das Essen wollte ihm nicht munden, und der Schlaf erquickte ihn nicht. Er fürchtete nämlich, daß die Meermaid außer ihm noch einen heimlichen Geliebten habe, in dessen Armen sie jeden Donnerstag ruhe, während er die Zeit mit ihren Dienerinnen hinbringen müsse. Die Kammer, in welcher die Meermaid sich Donnerstags verborgen hielt, kannte er längst, aber was half es? Die Thür war immer verschlossen und die Fenster waren von innen durch doppelte Vorhänge so dicht verhüllt, daß nirgends eine Oeffnung wenn auch nur von der Breite eines Nadelöhrs blieb, durch welche ein Sonnenstrahl, geschweige denn ein menschliches Auge, hätte eindringen können. Aber je unmöglicher die Aufhellung dieses Geheimnisses schien, desto heftiger wurde sein Verlangen, der Sache auf den Grund zu kommen. Wenngleich er von dem, was ihm auf dem Herzen lastete, der Meermaid kein Wörtchen verrieth, so merkte sie doch an seinem unsteten Wesen, daß die Sachen nicht mehr standen wie sie sollten. Wiederholt bat sie ihn mit Thränen in den Augen, er möge sie und sich selbst doch nicht mit verkehrten Gedanken plagen. »Ich bin,« sagte sie, »frei von aller Schuld gegen dich, ich habe keine heimliche Liebe noch irgend eine andere Sünde gegen dich auf dem Gewissen. Aber dein falscher Argwohn macht uns Beide unglücklich, und wird unsern Herzensfrieden zerstören. Mit Freuden würde ich jeden Augenblick mein Leben für dich hingeben, wenn du es wünschen würdest, aber an meinem Fasttage kann ich dich nicht in meine Nähe lassen. Es darf nicht sein, und würde unserer Liebe und unserem Glücke für immer den Untergang bringen. Wir leben ja sechs Tage in der Woche in ruhigem Glücke mit einander, wie kann uns die Trennung eines Tages so schwer fallen, daß du sie nicht ertragen solltest.«
Sechs Tage hielt solch‘ ein verständiger Zuspruch immer wieder vor, aber wenn der nächste Donnerstag kam, und die Meermaid nicht erschien, dann verlor er den Kopf und geberdete sich wie ein halb Verrückter. Er hatte keine Ruhe mehr, zuletzt wollte er am Donnerstage Niemand um sich haben, die Dienerinnen durften nur die Speisen und Getränke auftragen und mußten sich dann gleich entfernen, damit er allein hausen könne wie ein Gespenst.
Diese gänzliche Verwandlung nahm Alle Wunder, und als die Meermaid die Sache erfuhr, wollte sie sich die Augen aus dem Kopfe weinen; doch überließ sie sich ihrem Schmerze nur, wenn Niemand dabei war. Schlaf-Tönnis hoffte, wenn er allein gelassen würde, bessere Gelegenheit zur Untersuchung der geheimnißvollen Fastenkammer zu finden – vielleicht entdeckte er doch irgendwo ein Spältchen, durch welches er spähen und beobachten könnte, was dort vorginge. Je mehr er sich aber abquälte, desto unmuthiger wurde auch die Meermaid, und wenn sie noch ein freundliches Antlitz zeigte, so kam ihr doch die Freundlichkeit nicht mehr von Herzen wie sonst.
So vergingen einige Wochen, und die Sache wurde nicht besser und nicht schlechter; da fand Schlaf-Tönnis eines Donnerstags neben dem Fenster eine kleine Stelle, wo die Vorhänge sich zufällig verschoben hatten, so daß der Blick in die Kammer dringen konnte. Was er da sah, machte sein Herz ärger als Februarkälte gerinnen. Das geheimnißvolle Gemach hatte keinen Fußboden, sondern sah aus wie ein großer viereckiger Kübel, der viele Fuß hoch mit Wasser gefüllt war. Darin schwamm seine geliebte Meermaid. Vom Kopf bis zum Bauch hatte sie noch die Schönheit des weiblichen Körpers, aber die untere Hälfte vom Nabel abwärts war ganz Fisch, mit Schuppen bedeckt und mit Flossen versehen. Mit dem breiten Fischschwanz plätscherte sie zuweilen im Wasser, daß es hoch aufspritzte. – Der Späher wich wie betäubt zurück, und ging betrübt hinweg. Wie viel hätte er darum gegeben, wenn er diesen Anblick aus seinem Gedächtnisse hätte auslöschen können! Er dachte hin und her, wußte aber nicht, was er anfangen sollte.
Der Hahn hatte am Abend wie gewöhnlich drei Mal gekräht, aber die Meermaid kam nicht zu ihm zurück. Er durchwachte die ganze Nacht, aber die Schöne erschien immer nicht. Erst am Morgen kam sie in schwarzen Trauerkleidern, das Gesicht mit einem dünnen Seidentuch verhüllt, und sprach mit weinender Stimme: »O, du Unseliger, der du durch deine Thorheit unserem glücklichen Leben ein Ende gemacht hast! Du siehst mich heute zum letzten Male und mußt nun wieder in deinen früheren Zustand zurückkehren, was du dir selber zuzuschreiben hast. Leb‘ wohl zum letzten Male!«
Ein plötzlicher Krach und ein starkes Getöse, als ob der Boden unter den Füßen weg rollte, warf den Schlaf-Tönnis nieder, und in seiner Betäubung hörte und sah er nicht mehr, was mit ihm und um ihn her vorging.
Als er endlich, wer weiß wie lange nachher, aus seiner Ohnmacht erwachte, fand er sich am Meeresstrande, dicht bei demselben Steine, auf welchem die schöne Meermaid gesessen hatte, als sie den Freundschaftsbund mit ihm schloß. Statt der prächtigen Kleider, die er in der Behausung der Meermaid täglich getragen hatte, fand er seinen alten Anzug, der aber viel älter und zerlumpter aussah, als es nach seiner Annahme der Fall sein konnte. Die Glückstage unseres guten Freundes waren vorüber, und keine noch so bittere Reue konnte sie zurückbringen.
Als er weiter ging, stieß er auf die ersten Gehöfte seines Dorfs. Sie standen wohl an der alten Stelle, aber sahen doch anders aus. Was ihm aber, als er sich umsah, noch viel wunderbarer dünkte, war, daß die Menschen ihm ganz fremd waren, und nicht ein einziges bekanntes Gesicht ihm begegnete.
Auch ihn sahen Alle befremdet an, als ob sie ein Wunderthier vor sich hätten. Schlaf-Tönnis ging nun zum Hofe seiner Eltern; auch hier kamen ihm fremde Menschen entgegen, die ihn nicht kannten, und die er nicht kannte. Erstaunt fragte er nach seinem Vater und seinen Brüdern, aber Niemand konnte ihm Bescheid geben. Endlich kam ein gebrechlicher Alter auf einen Stock gestützt aus dem Hause und sagte: »Bauer, der Wirth, nach welchem du dich erkundigst, schläft schon über dreißig Jahre in der Erde; auch seine Söhne müssen todt sein. Wo kommst du denn her, Alterchen, um solchen vergessenen Dingen nachzuforschen?« Das Wort »Alterchen« hatte den Schlaf-Tönnis dermaßen erschreckt, daß er nichts weiter fragen konnte. Er fühlte seine Glieder zittern, wandte den fremden Menschen den Rücken, und eilte zur Pforte hinaus. Die Anrede »Alterchen« ließ ihm keine Ruhe; dies Wort war ihm centnerschwer auf die Seele gefallen – die Füße versagten ihm den Dienst.
An der nächsten Quelle besah er seine Gestalt im Wasserspiegel: die bleichen zusammengeschrumpften Wangen, die eingefallenen Augen, der lange graue Bart und die grauen Haare bestätigten, was er vernommen hatte. Diese vergilbte, verwelkte Gestalt hatte keine Aehnlichkeit mehr mit dem Jüngling, den die Meermaid sich zum Bräutigam erkoren hatte. Jetzt erst ward der Unglückliche inne, daß die vermeintlichen paar Jahre ihm den größten Theil seines Lebens hinweggenommen hatten, denn als blühender Jüngling war er in das Haus der Meermaid eingezogen, und als gespenstischer Alter war er zurückgekommen. Dort hatte er weder den Fluß der Zeit noch das Hinschwinden des Körpers gespürt, und er konnte es sich nicht erklären, wie die Bürde des Alters ihm so plötzlich, gleich einer Vogelschlinge, über den Hals gekommen war. Was sollte er jetzt beginnen, da er als Fremder unter Fremde verschneit war? – Einige Tage lang streifte er am Strande von einem Bauerhofe zum andern umher, und gute Menschen gaben ihm aus Barmherzigkeit ein Stück Brot. Da traf er einst mit einem munteren Burschen zusammen, dem er seinen Lebenslauf ausführlich erzählte, aber in derselben Nacht war er auch verschwunden. Nach einigen Tagen wälzten die Wellen seinen Leichnam an’s Ufer. Ob er vorsätzlich oder zufällig im Meere ertrunken war, ist nicht bekannt geworden.
Von dieser Zeit an hat sich das Wesen der Meermaid den Menschen gegenüber gänzlich verändert; nur Kindern erscheint sie zuweilen, fast immer in anderer Gestalt, erwachsene Menschen aber läßt sie nicht an sich heran kommen, sondern scheut sie wie das Feuer.

[Estland: Friedrich Reinhold Kreutzwald: Ehstnische Märchen]

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