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Märchenbasar

Die Prinzessin im Sarge

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Es waren einmal ein König und eine Königin, die in einem schönen Schlosse wohnten, über ein reiches, glückliches Land regierten und sich anfangs nicht nur schrecklich liebten, sondern auch sehr glücklich miteinander lebten. Aber sie bekamen keinen Erben.
Nun waren sie doch schon sieben Jahre verheiratet und hatten weder einen Sohn noch eine Tochter, und das war für beide ein großer Kummer. Und mehr als einmal geschah es, daß der König, wenn er schlecht aufgelegt war, seine üble Laune und seinen Zorn an der armen Königin ausließ und sagte, daß sie da herumgingen und alt würden, ohne daß sie selbst, noch das Reich einen Erben hätten, und nur sie wäre schuld daran. Solche Worte schnitten ihr in die Seele und sie begann zu weinen und härmte sich ab.
Zuletzt sagte der König eines Tags zu ihr: »Jetzt ist es hier rein nicht mehr zum aushalten, ich muß kinderlos herumlaufen und nur du bist schuld daran, und zu alledem soll ich ewig dein thränenzerflossenes Armensündergesicht, das du mir vorschneidest, anschauen müssen! Jetzt reise ich fort und bleibe ein ganzes Jahr aus. Bekommst du bis ich zurückkomme ein Kind, dann ist alles wieder gut und ich werde dich über alle Maßen lieben und dir nie mehr ein böses Wort geben. Finde ich aber das Nest auch dann noch leer, wenn ich heim komme, dann lasse ich mich ohne Widerrede von dir scheiden.«
Als der König verreist war, grämte und härmte sich die Königin in ihrer Einsamkeit noch mehr ab, als je zuvor. Da sagte ihre Kammerfrau eines Tages zu ihr: »Ich glaube schon, daß sich ein Rath finden ließe, wenn man ihn suchen wollte.« Dann erzählte sie von einer alten weisen Frau, die sich in diesem Lande aufhielte und schon mehreren geholfen habe, die sich in der gleichen Noth befunden hatten, und sie würde gewiß auch der Königin helfen können, wenn sie einen Boten zu ihr schicken und sie holen lassen wollte. Das that die Königin und die weise Frau kam und der vertraute sie ihren Kummer, daß sie kinderlos und der König und das Land deshalb ohne Erben sei, an.
Und die weise Frau wußte wirklich einen Rath. »Draußen in des Königs Garten,« sagte sie, »linker Hand unter der großen Eiche, gleich wenn man zum Schlosse herauskommt, steht ein kleiner Strauch, welcher mehr grün als braun ist und der wollige Blätter und lange Stacheln hat, und gerade jetzt trägt er drei Knospen. Wenn die Königin vor Sonnenaufgang nüchtern und allein hinunter zu diesem Strauch geht und die in der Mitte sich befindende Knospe nimmt und ißt, so wird sie nach sechs Monaten eine Prinzessin bekommen. Sobald sie geboren ist, muß sie einer Amme, welche ich schon verschaffen will, übergeben werden und mit der soll sie dann in einem abgelegenen Theil des Schlosses wohnen. Aber weder der König noch die Königin dürfen ihre Tochter vor ihrem vierzehnten Geburtstag sehen, sonst würden sie sich selbst und ihr Kind unglücklich machen.«
Die Königin entließ dann die Frau reichlich belohnt und ging am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang allein in den Garten hinunter und fand auch sogleich den kleinen Strauch mit den drei Knospen. Sie pflückte die mittelste und verzehrte sie augenblicklich; sie schmeckte beim Hineinbeißen zuerst sehr süß, aber hinterdrein so bitter wie Galle. Bald darauf merkte die Königin, daß sie ein Kind unter dem Herzen hatte und nach sechs Monaten gebar sie ein vollkommen gesundes und starkes Mädchen. Die Amme, die die weise Frau herbeigeschafft, war schon in Bereitschaft und alle nöthigen Anstalten waren getroffen, damit diese mit der neugeborenen Prinzessin in einem ganz einsamen abgelegenen Flügel des Schlosses, gegen den Lusthain zu, wohnen konnte. Die Königin befolgte die Vorschriften der weisen Frau sehr pünktlich und übergab das Kind auf der Stelle der Amme, die sich mit ihm in den abgelegenen Flügel des Schlosses zurückzog.
Als der König heim kam und erfuhr, daß ihm seine Frau unterdes eine Tochter geboren, war er unbeschreiblich glücklich darüber und wollte sie sogleich sehen. Da mußte ihn aber die Königin zurückhalten und ihm sagen, daß es nach der Weissagung ein großes Unglück gäbe, wenn der König oder die Königin ihre Tochter vor ihrem vierzehnten Geburtstag sehen würden.
Das war eine lange Zeit zum Warten und der König sehnte sich doch schon so sehr, seine Tochter zu sehen. Die Königin sehnte sich nicht minder darnach, als der König; aber sie wußte ja, daß das Kind nicht wie andere Kinder zur Welt gekommen und auch sonst nicht wie andere Kinder war, denn es konnte gleich nach der Geburt schon reden und war schon von ganz klein auf so gescheidt wie ein erwachsener Mensch. Das hatte ihr die Amme erzählt, mit der sie doch einmal über das Kind reden mußte, denn es war ja sonst niemand da, der es gesehen hätte. Da die Königin einmal gesehen hatte, was die weise Frau vermochte, so hielt sie auch strenge darauf, daß man ihre Warnung genau befolge. Der König hatte oft die Geduld verloren und wollte durchaus seine Tochter sehen, aber die Königin hatte ihn doch immer wieder davon abgebracht; und so kam endlich der letzte Tag vor dem vierzehnten Geburtstag der Prinzessin heran.
Da gingen der König und die Königin miteinander im Garten spazieren und der König rief auf einmal aus: »Jetzt kann und will ich nicht mehr länger warten; ich muß meine Tochter augenblicklich sehen. Diese paar Stunden mehr oder weniger können doch nichts mehr ausmachen.« Die Königin bat ihn, so sehr sie nur konnte, doch noch bis morgen Geduld zu haben, da er jetzt so lange gewartet, könnte er doch leicht diesen einzigen, letzten Tag noch abwarten! Aber der König ließ sich durch nichts mehr abbringen und sagte: »Mache kein Geschwätz! Sie ist so gut meine Tochter wie die deine und ich will sie jetzt einmal sehen!« und mit diesen Worten eilte er schnurgerade in die Kammer der Prinzessin hinauf.
Er riß die Thüre auf, stieß die Amme, die ihn zurückhalten wollte, auf die Seite und erblickte dann seine Tochter, welche die schönste Prinzessin, die man sich denken konnte, war: roth und weiß wie Milch und Blut, mit klaren, blauen Augen und goldenem Haar; nur gerade bei der Stirne befand sich eine einzelne kleine braune Locke.
Die Prinzessin ging ihrem Vater zwar entgegen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn, aber zugleich sagte sie auch: »Ach Vater, Vater, was hast du gemacht! Jetzt muß ich morgen sterben und du mußt dir dann eins von den drei Dingen auswählen: entweder soll dein Land von der schwarzen Pest heimgesucht, oder mit einem langen blutigen Krieg überzogen werden, oder du mußt mich, sobald ich gestorben bin, in einen ganz einfachen hölzernen Sarg legen und in die Kirche tragen lassen und dann durch ein ganzes Jahr allnächtlich eine Schildwache bei meiner Leiche aufstellen.«
Der König entsetzte sich und glaubte, sie sei wahnsinnig. Um sie aber zufrieden zu stellen sagte er: »Von den drei Dingen wähle ich das letzte. Wenn du gestorben bist, lasse ich dich sofort in einen einfachen, hölzernen Sarg legen und in die Kirche tragen und jede Nacht soll eine Schildwache bei deiner Leiche aufgestellt werden. – Aber du sollst nicht sterben und wenn du auch noch so krank sein solltest.« – Und er ließ sogleich die berühmtesten Aerzte seines Landes zusammenberufen und sie kamen mit all‘ ihren Recepten, Salben und Medicinflaschen; aber tags darauf war die Prinzessin trotz alledem todt, steif und kalt. Das konnten alle Aerzte dann unwiderleglich beweisen und sie unterschrieben es auch alle und drückten dann ihr Siegel noch drauf – und damit hatten sie alles gethan, was sie konnten.
Der König hielt sein Versprechen und ließ die Prinzessin noch am selben Tag in einen einfachen hölzernen Sarg legen und in der Schloßkirche beisetzen und sowohl in dieser als in jeder folgenden Nacht wurde eine Schildwache aufgestellt, die an der Leiche wachen mußte.
Als man aber am ersten Morgen den Mann, der Wache gestanden, wieder aus der Kirche herauslassen wollte, war keiner mehr da. Er hat sich wahrscheinlich zu sehr gefürchtet und ist davongelaufen, dachte man; und am nächsten Abend wurde ein anderer Mann als Wache aufgestellt; aber auch der war am andern Morgen verschwunden. Und so ging es nun jede Nacht: sobald man in der Frühe die Wache herauslassen wollte, war keine mehr da; und es war durchaus nicht herauszubringen, welchen Weg sie genommen, wenn sie wirklich geflohen sein sollte. Und vor was mußte denn jeder, der auf diesen Posten gestellt wurde, so fliehen, daß man von der Stunde an, da er seinen Posten bezog, nie mehr etwas von ihm zu sehen oder zu hören bekam?
Man glaubte bereits allgemein, daß die Prinzessin umgehen und jeden, der ihre Leiche bewache, aufzehren müßte; und bald fand sich keiner mehr, der noch Wache stehen wollte. Des Königs Soldaten desertirten, ehe die Reihe an sie kam, Posten am Sarge zu stehen. Da versprach der König demjenigen Soldaten eine gute Bezahlung, der freiwillig Wache stehen wollte; und das half einige Zeit, denn es fanden sich doch noch Wagehälse, die sich den versprochenen guten Lohn verdienen wollten. Aber sie bekamen ihn nie, denn am Morgen waren sie jedesmal ebenso verschwunden, als alle andern.
So war fast ein ganzes Jahr vergangen und jede Nacht stand je nachdem, eine gezwungene oder eine freiwillige Schildwache am Sarge der Prinzessin. Aber keine einzige von allen sah man am darauffolgenden Morgen oder später jemals wieder. Und so war es gerade wieder gegangen: – die Schildwache war verschwunden, – als ein junger Schmiedgeselle in die Stadt, in der das Schloß des Königs stand, gewandert kam. Es war ja des Landes Hauptstadt, in die jederzeit allerlei Menschen zogen, um Arbeit zu bekommen. Und unser Schmiedgeselle, – er hieß Christian – zog aus demselben Grunde hin. Zu Hause gab es keine Arbeit mehr für ihn und darum wanderte er in die Hauptstadt, um sich irgend einen Platz zu suchen.
Christian kam in eine Herberge und setzte sich in das Gastzimmer, um sich mit Speise und Trank zu laben. Da saßen auch ein paar Feldwebel, die ausgegangen waren, um jemanden zur Leichenwacht anzuwerben, was sie tagtäglich thun mußten und bisher war es ihnen auch noch immer geglückt, einen oder den andern Wagehals zu finden, nur heute hatten sie noch keinen auftreiben können. Es war ja allzubekannt, wie alle Schildwachen, die bei der Leiche stehen mußten, spurlos verschwanden; und deshalb hatten sich auch alle, die sie dazu anwerben wollten, höchlichst für das Vergnügen bedankt und keiner wollte auf den Posten. Die Unteroffiziere setzten sich zu Christian hin und ließen Getränke kommen und ihn tüchtig mittrinken. Und Christian war ein munterer Bursch, der etwas auf Gemüthlichkeit und gutes Essen und Trinken hielt und beides so gut konnte wie singen; – und sogar zu schwätzen und zu prahlen verstand er, wenn ihm der Wein die Zunge gelöst hatte. Und so erzählte er den Feldwebeln, daß er zu den Leuten gehöre, die sich vor gar nichts fürchteten. Ah, dann sei er ja ihr Mann! sagten diese, und er könne sich, wenn das wirklich wahr wäre, ein schönes Stück Geld verdienen, ehe er um einen Tag älter würde; denn der König zahle demjenigen, der heute Nacht am Sarge seiner Tochter Wache stände, baare hundert Thaler aus.
Davor war unserm Christian nicht bange, weil ihn überhaupt nichts bange machen konnte; und nachdem auf seine Furchtlosigkeit noch eine Flasche Wein geleert worden war, wurde er zum Obersten geführt und bekam eine Montour und ein Gewehr und alles was sonst dazu gehörte und wurde dann in die Kirche eingeschlossen und sollte da die Nacht über Wache an der Leiche der Prinzessin stehen.
Um acht Uhr bezog er seinen Posten und in der ersten Stunde war er ganz übermüthig, und in der zweiten freute er sich über das viele Geld, das er morgen bekommen sollte, in der dritten aber, als die Glocke bald elf schlug, war sein Schwips verraucht und es wurde ihm sehr ungemüthlich zu Muthe, denn er hatte ja schon mehr als genug von diesem Wacheposten gehört, den, so viel man eben wußte, noch niemand lebend verließ. Und man wußte auch nicht einmal, wo alle diese Schildwachen hingerathen waren. Diese und ähnliche Gedanken wirbelten ihm nun im Kopfe und seine ganze weinselige Stimmung war wie weggeblasen. Er suchte in allen Ecken und Enden herum nach einem Ausweg und zuletzt, gerade als die Glocke elf Uhr schlug, fand er ein kleines Hinterpförtchen im Glockenthurm, das nicht verschlossen war, durch dieses schlüpfte er hinaus und wollte sogleich davonlaufen.
Aber im selben Augenblick, als er den Fuß beim Pförtchen hinaus gesetzt hatte, stand ein Männchen vor ihm und sagte: »Ah, guten Abend, Christian, wohin denn so spät?« – Und Christian fühlte zugleich, daß er sich, als ob er angenagelt wäre, nicht von der Stelle rühren konnte. »Nirgend hin,« antwortete Christian. »O ja,« sagte das Männchen, »du wolltest gerade mir nichts dir nichts davonlaufen. Aber du hast dich selbst für heute Nacht als Schildwache verdingt und du mußt an deinem Posten bleiben.« Da erwiderte Christian ganz demüthig, daß er sich nicht getraute und deshalb auch davonlaufen wollte und dann bat er, ihn doch entwischen zu lassen. »O nein!« sagte das Männchen, »du mußt auf deinem Posten bleiben. Aber ich will dir wenigstens einen guten Rath geben: Gehe auf die Kanzel hinauf und bleibe da stehen und kümmere dich um gar nichts, was du auch sehen oder hören mögest, es kann dir nicht der geringste Schaden zugefügt werden, wenn du ruhig so lange auf deinem Platz stehen bleibst, bis du den Sargdeckel über der Leiche wieder zuschlagen hörst. Dann ist alle Gefahr vorbei und du kannst in der Kirche herumgehen, wohin du nur willst.«
Darauf stieß ihn das Männchen zur Hinterpforte wieder hinein und schloß hinter ihm ab. Christian beeilte sich, auf die Kanzel zu kommen und konnte nicht das geringste merken, bis es zwölf Uhr schlug. Da sprang der Deckel vom Sarge der Prinzessin auf, und ein schreckliches Gespenst, ganz wollig und mit furchtbaren Stacheln umgeben, wie ein Stachelschwein, kam herausgefahren und schrie und rief: »Wache, wo bist du? – Wache, wo bist du? – Wenn du nicht kommst, so sollst du einen härteren Tod sterben, als irgend eine vor dir.«
Das Gespenst fuhr in der Kirche herum und endlich fiel ihm der Bursche auf der Kanzel oben in die Augen und es stürzte sich gleich auf ihn los und die Stufen zur Kanzel hinauf, aber es konnte doch nicht ganz hinauf kommen und so sehr es sich auch reckte und streckte, es konnte den Christian nicht berühren, der zitternd und bebend auf der Kanzel stand. Als es aber eins schlug, mußte das Gespenst in seinen Sarg zurück und Christian hörte den Deckel zuschlagen, und Todtenstille herrschte wieder in der Kirche. Da legte er sich da nieder, wo er stand und schlief ein und erwachte nicht eher wieder, als bis es hellichter Tag war und er draußen vor der Kirche Tritte vernahm und deutlich hörte, wie der Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde. Da eilte er geschwinde herunter von der Kanzel und stellte sich mit dem Gewehre vor dem Sarg der Prinzessin auf.
Es war der Oberst selbst, der mit der Wache kam und nicht wenig verwundert war, seinen Rekruten so wohlbehalten wieder zu finden. Er wollte zwar Rapport erstattet haben, aber Christian wollte nichts melden. Dann führte man ihn sogleich zum König, mit der Meldung, die man heute zum erstenmale machen konnte, daß er die Schildwache sei, welche nachts Posten in der Kirche bei der Prinzessin gestanden. Als der König das vernahm, war er rasch auf den Beinen, legte die hundert Thaler vor Christian auf den Tisch und wollte ihn ins Verhör nehmen. »Hast du etwas gesehen?« fragte der König, »hast du meine Tochter gesehen?« – »Ich habe auf meinem Posten gestanden,« erwiderte der Schmiedgesell, »und das muß Euch genug sein, denn etwas anderes habe ich nicht auf mich genommen.« Er wußte ja nicht, ob er sagen dürfe, was er gesehen und gehört; und außerdem war er etwas übermüthig geworden, weil ihm gelang, was keiner vor ihm konnte und wozu auch sonst niemand den Muth hatte. Der König that, als ob er alles für baare Münze nähme und fragte ihn, ob er auch für nächste Nacht Schildwache stehen wolle. »Nein, schönsten Dank!« rief Christian aus, »ich habe schon mit dem erstenmal genug, ich will nicht noch mehr davon haben.«
»Wie du willst,« sagte der König, »übrigens hast du dich als ein braver Geselle gezeigt und sollst jetzt dein Frühstück haben, denn du wirst nach einer solchen Tour schon eine Stärkung brauchen können.« Und der König ließ für ihn decken, auftragen und anrichten und setzte sich selbst zu ihm an den Tisch, schenkte dem Schmiedgesellen fleißig ein und lobte ihn und trank ihm zu. Und Christian ließ sich nicht erst dazu nöthigen, er langte tüchtig zu, sowohl bei den Speisen als den Getränken und besonders waren es die letzteren, welchen er nicht am wenigsten zusprach. Da trank er sich wieder Courage an und sagte zum König, wenn er ihm zweihundert Thaler geben würde, dann wolle er der Mann sein, der auch in dieser Nacht Wache stände.
Als das abgemacht war, verabschiedete sich Christian und ging in die Wachtstube hinunter und ging, begleitet von einigen andern Soldaten und Unteroffizieren, vor die Stadt spazieren. Er hatte die Taschen voll Geld und traktirte alle und hängte ihnen. Haarbeutel an; dann fing er an zu prahlen und hielt die jämmerlichen Kerls, die sich nicht getrauten Wache zu stehen, weil sie sich fürchteten, von der todten Prinzessin gefressen zu werden, zum Narren. Sie sollten doch schauen, wie sie ihn gefressen habe! – und so verging der Tag in Lustigkeit und Freude. Aber als es acht Uhr schlug, wurde Christian wieder allein in der Kirche eingeschlossen.
Noch ehe jedoch zwei Stunden vorüber waren, langweilte er sich so, daß er nur mehr daran dachte, wie er entschlüpfen könnte. Er fand ein Pförtchen in der Nähe des Altars, welches nicht verschlossen war, und um zehn Uhr schlich er sich zu demselben hinaus und machte sich auf die Beine und wollte zum Strand hinunter eilen. Er kam bis zur ersten Hälfte des Weges, da stand plötzlich dasselbe Männchen von gestern vor ihm und sagte: »Ah, guten Abend Christian! – Wo willst du denn noch hin?« – »Ich habe die Erlaubniß hinzugehen, wohin ich will,« erwiderte der Schmiedegesell, aber er merkte zu gleicher Zeit, daß er den Fuß nicht mehr von der Stelle bewegen konnte. »Nein, du hast dich als Wache verdingt,« sagte das Männchen, »und du mußt schon auf deinem Posten bleiben.« Dann nahm er den Christian mit sich und er mußte ihm überall hin folgen, wohin er ihn nur führen wollte und so transportirte er ihn geradenwegs zu dem Pförtchen, durch das er herausgeschlüpft, wieder zurück und dann hinein in die Kirche. Als sie da angelangt waren, sagte das Männchen zu Christian: »Gehe jetzt vor zum Altar und nimm das Meßbuch, welches dort liegt, in die Hand! und dort bleibe stehen, bis du den Sargdeckel über der Leiche wieder zuschlagen hörst, dann kann dir nicht der geringste Schaden zugefügt werden.«
Damit hatte ihn das Männchen zum Pförtchen hineingeschoben und dann hinter ihm verschlossen. Christian ging sogleich zum Altar vor und nahm das Meßbuch in die Hand und so stand er da, als die Glocke zwölf schlug und das Gespenst aus dem Sarge sprang und schrie: »Wache, wo bist du? – Wache, wo bist du?« und es fuhr gleich auf die Kanzel los und hinauf. Aber da stand die Wache heute nicht. Da schrie und heulte das Gespenst wieder:

»Man läßt mich liegen ohne Wacht,
Ha! Krieg und Pest nach Mitternacht!«

Aber im gleichen Augenblick wurde es den Schmiedgesellen vorne gewahr und stürzte gleich auf ihn los. »Nun, stehst du heute da?« schrie es; »jetzt will ich dich gleich zausen!« Aber es konnte nicht über den Betstaffel hinaufkommen; darum hörte es nicht auf zu schreien, zu toben und zu drohen, bis es ein Uhr schlug; da mußte es wieder in den Sarg zurück und Christian hörte wie der Deckel über demselben zuschlug. Heute sah das Gespenst doch nicht mehr so aus, wie in der vorigen Nacht; es war wohl noch wollig, aber es hatte keine Stacheln mehr.
Als es dann wieder ruhig und stille in der Kirche war, legte er sich beim Altar nieder und schlief fest ein und erwachte erst am hellichten Morgen, als der Oberst kam und ihn holte. Er wurde wieder zum König geführt und alles ging genau so wie gestern. Er bekam sein Geld, wollte aber keine Erklärung abgeben, ob er des Königs Tochter gesehen und den Posten mochte er auch nicht noch einmal beziehen. Als er aber ein gutes Frühstück bekommen und sich des Königs alte, gute Weine schmecken lassen, erklärte er, auch heute, zum dritten Mal am Sarge der Prinzessin Wache stehen zu wollen. Aber er thäte es nicht billiger, als für das halbe Königreich, sagte er, denn es sei ein zu gefährlicher Posten. Und der König mußte auch darauf eingehen, ihm das zu versprechen.
Der Rest des Tages verlief wie der gestrige. Er war wieder der großprahlerische Soldat und lustige Schmiedgesell und hatte genug Kameraden und Saufbrüder. Als es aber 8 Uhr war, mußte er ins Zeug und wurde in die Kirche eingesperrt. Er war noch lange keine Stunde drinnen, als er zur Besinnung kam und da dachte er: »Es ist doch das beste, aufzuhören, so lange das Spiel noch schön ist.« – Die dritte Nacht würde allem Anschein nach die schlimmste werden. Er war ja betrunken, als er versprochen Wache zu stehen – und das halbe Königreich dafür herzugeben – das konnte doch auch unmöglich des Königs Ernst sein! Deshalb wollte er davon, aber nicht mehr so lange damit warten, wie die vorhergehenden Male. Auf diese Weise hoffte er dem Männchen, das ihm immer aufgepaßt, schon zu entschlüpfen. Alle Thoren und Pforten waren festverschlossen, aber endlich gelang es ihm, zu einem Fenster hinaufzuklettern, durch dasselbe eine Oeffnung zu brechen und Schlag neun Uhr kroch er durch dieselbe hindurch und, wiewohl das Fenster ziemlich hoch oben lag, kam er doch mit ganzen und heilen Gliedern hinunter auf die Erde und begann zu rennen und lief schnurstracks zum Strande, ohne jemandem zu begegnen. Da sprang er geschwinde in ein Boot und stieß vom Lande ab und lachte ordentlich im Herzen, wenn er daran dachte, wie schlau er es diesmal angestellt und das Männchen dran gekriegt habe. Da hörte er plötzlich die Stimme desselben vom Lande herüber rufen: »Ah, guten Abend Christian, wohin denn noch?« Er antwortete nichts darauf und dachte sich nur: »Heute Abend ziehst du doch den Kürzeren!« und griff fest mit dem Ruder ein. Aber da merkte er, daß eine unsichtbare Macht sein Boot erfaßte und ihm ans Land zog, so sehr er sich auch dagegen wehrte und es mit der ganzen Kraft seiner Ruder zu verhindern suchte. Am Ufer nahm ihn das Männchen beim Kragen und sagte: »Du mußt auf deinem Posten bleiben, wie du es versprochen hast.« Und er mochte pfeifen oder singen – es half kein Sträuben, er mußte dem Männchen ganz hübsch zur Kirche zurück folgen.
»Ja, durch das Fenster kann ich nicht mehr hineinkommen, es liegt zu hoch oben,« sagte Christian. »Da mußt du hinein können und wirst auch hinein können,« sagte das Männchen und hob den Christian bei diesen Worten zum Festerrahmen hinauf; dann sagte er zu ihm: »Gieb nun wohl Obacht, was du zu thun hast! – Du mußt dich heute der Länge nach links neben den Sarg legen. Der Deckel springt nach rechts auf und das Gespenst fährt nach der linken Seite heraus. Wenn dasselbe dann aus dem Sarg herausgefahren und über dich hinweg gesprungen ist, dann mußt du dich so schnell als nur möglich selbst in den Sarg hineinlegen, aber ohne daß es das Gespenst sehen kann. Und da bleibst du liegen bis zum Morgengrauen und wenn dich das Gespenst noch so wüthend anfährt und wenn es dich noch so mild und freundlich bittet, du darfst gar nichts darauf geben und auch nichts antworten. Dann hat es keine Macht über dich und ihr beide seid gerettet und erlöst.«
Und der Schmiedgeselle mußte wieder so durch das Fenster hinein, wie er herausgekrochen war; als er sich in der Kirche drinnen befand, legte er sich gleich, so lang als er war, links neben den Sarg der Prinzessin nieder und zwar ganz knapp an denselben angeschmiegt; und so blieb er da liegen, steif wie ein Stock, bis die Glocke zwölf schlug, der Sargdeckel nach rechts aufsprang und das Gespenst der Prinzessin gerade über ihn hinweg, in die Kirche hinauf, herausfuhr und schauerlich heulte und schrie: »Wache, wo bist du? – Wache, wo bist du?« – und gerade aus stürzte sich das Gespenst gegen den Altar; aber da fand es heute keine Wache und darum schrie es wieder:

»Man läßt mich liegen ohne Wacht,
Ha! Krieg und Pest nach Mitternacht!«

Darauf fuhr es in der ganzen Kirche auf und nieder und heulte und jammerte:

»Drei Tag‘ lang fast‘ ich schon, verderben
Und Hungers muß ich jetzt wohl sterben!«

Endlich kam es dann wieder zum Sarg zurück und als es da den Burschen drin liegend sah, heulte es so auf, daß es in allen Wölbungen der Kirche dröhnend wiederhallte: »Nun sollst du den allerschrecklichsten Tod erleiden!« rief es; aber er blieb steif und unbeweglich im Sarge liegen und das Gespenst der Prinzessin konnte ihm nichts anhaben; aber es tappte und polterte so mit Schreien und Winseln um den Sarg herum, daß Christian die Haare zu Berg standen, aber sonst rührte sich nichts an ihm. Darauf war es eine Weile fort und als es dann wieder zurückkam, bemerkte er, daß es jetzt wie ein richtiges, menschliches Wesen aussah – aber so weiß wie ein Leintuch. So kam die Prinzessin zu ihm hin und sprach so mild und bat ihn so freundlich, doch aufzustehen und sie zur Ruhe kommen zu lassen; aber der Bursche blieb stille liegen und sprach nichts und regte sich nicht. Darauf verschwand sie wieder von seiner Seite und da schlug es gerade eins vom Thurm herab.
Da vernahm Christian eine anfangs leise Musik, welche sich immer mehr und mehr verstärkte und bald die ganze Kirche erfüllte. Darauf hörte er auch viele Fußtritte, als ob sich die Kirche mit Menschen füllte und dann, wie der Priester am Altar die Messe las und wie dazu ein Gesang ertönte, so lieblich, wie er noch nie zuvor singen gehört hatte. Dann vernahm er wieder, wie der Priester ein Dankgebet dafür sprach, daß das Land vor Krieg und Pest und allem Unglück bewahrt blieb und daß des Königs Tochter von dem Uebel erlöst und gerettet worden war. Und viele Stimmen fielen ein und ein Danklied wurde angestimmt. Darauf hörte er seinen und der Prinzessin Namen nennen und es schien ihm, als ob sie mit einander getraut würden. Die Kirche war gedrückt voll, aber sehen konnte er nichts. Alsdann vernahm er wieder die vielen Fußtritte, als ob die Leute die Kirche jetzt verließen, während die Musik ertönte, anfangs noch voll und laut, dann immer leiser tönend, bis sie schließlich ganz verklang. Und als alles schwieg, brach das volle Tageslicht durch die Fensterscheiben.
Da sprang der Schmiedgeselle aus dem Sarg heraus und fiel auf seine Knie und dankte Gott. Die Kirche war leer, aber vorne beim Altar lag die Prinzessin, weiß und roth, wie ein lebendiger Mensch, und weinte schluchzend und zitterte vor Kälte in ihrem weißen Leichengewande. Christian nahm jetzt seinen Soldatenmantel und hüllte ihn um die Prinzessin. Sie trocknete dann ihre Thränen, reichte ihm die Hand und dankte ihm, indem sie sagte, daß er sie nun gerettet habe von der Verzauberung, die sie bei ihrer wunderlichen Geburt mit auf die Welt gebracht habe und in die sie verfiel, als ihr Vater das Verbot, sie vor ihrem 14. Geburtstag nicht sehen zu dürfen, übertrat.
Darauf sagte sie weiter, wenn er, der sie gerettet, sie heiraten möchte, so wolle sie ihm angehören und seine Frau werden. Wenn nicht, dann würde sie in ein Kloster gehen, aber er könne so lange er lebe keine andre heiraten, weil er mit ihr in der Todtenmesse, welche er gehört, getraut worden sei.
Sie war jetzt die schönste und lieblichste Prinzessin geworden, die man irgend wo sehen konnte, und er war ja Herr über das halbe Königreich, das ihm als Lohn für seinen Wachedienst in der dritten Nacht versprochen worden war. Und sie wurden einig, miteinander leben und einander lieben zu wollen bis ans Ende ihrer Tage.
Mit dem ersten Sonnenstrahl kam die Wache und schloß die Kirchenthüre auf, und es war nicht allein der Oberst, sondern auch der König selbst mit dabei, um zu sehen, was aus der Schildwache geworden. Und er fand beide Hand in Hand auf dem Betstaffel vor dem Altar sitzen. Sogleich erkannte er seine Tochter wieder, schloß sie in seine Arme und dankte Gott und ihrem Retter, und machte auch keine Einwendung gegen ihre Verlobung, und der Schmiedgeselle hielt mit der Königstochter seine Hochzeit und bekam gleich das halbe Königreich und dann auch das ganze, als der alte König gestorben war.
Aber viele, viele Jahre darnach, als der Marmorboden der Kirche restaurirt wurde, fand man in der Mitte desselben einen losen Stein, unter dem sich ein geheimes Gewölbe befand, und da unten fand man jetzt alle Leichen von den Schildwachen, die bei der todten Prinzessin gestanden hatten, und allen war der Hals gebrochen. – Das hatte der böse Geist, von dem sie besessen war, gethan und jede Nacht drei Tropfen Blut von denselben getrunken.

[Dänemark: Svend Grundtvig: Dänische Volksmärchen]

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