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Die Schlüsseljungfrau

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Es war einmal ein Schustergeselle, den nannte das ganze Dorf einen Sonderling; denn so oft abends die Vesperglocke läutete, legte er sein Handwerksgeschirr auf die Seite und begab sich auf seine einsamen Spaziergänge, ohne sich um seinesgleichen zu bekümmern. Damit verhielt es sich aber so: Dem Gesellen war das Leben in dem abgelegenen Dorfe schon lange verleidet, und er sann hin und her, wie er es anfangen könnte, um bald ein Meister in einer großen Stadt zu werden.
Eines Abends nach Sonnenuntergang ging er in den Wald hinter dem Dorf und klomm dort einen Hügel hinauf, auf welchem vor undenklichen Zeiten ein Schloß gestanden hatte, von dem jetzt nur noch ein verwitterter, viereckiger Wartturm dastand. Da kam von oben herunter eine Jungfrau in fremder Tracht; die sah gar seltsam aus; in der einen Hand hielt sie einen Schlüsselbund, in der andern eine schlanke Gerte, und auf dem Haupte trug sie eine prächtige Goldkrone, in welcher ein großer Goldschlüssel steckte. Der Geselle verbeugte sich untertänig und ging vorüber; aber die fremde Jungfrau rief ihn an und sagte: »Bist du in hiesiger Gegend daheim?«
»Mit Vergunst«, antwortete der Gesell, »ich bin nur beim Schuhflicker drunten im Geding.«
»Nun«, sagte die Jungfrau, »dann kannst du mir doch wohl ein Paar Schuhe machen; aber bis nächsten Samstag müssen sie fertig sein.«
»Das will ich meinen, kann ich’s«, antwortete er und zog schon das Maß aus der Tasche. »Hinten müssen die Schuhe rote Stöckchen haben«, sagte die Jungfrau, »und vorne rote Laschen, aber das Vorgeschühe bleibt ungewichst.«
»Alles zu dienen«, erwiderte der Gesell, »so seid nur so gut und setzt Euch nieder, daß ich sie Euch anmessen kann.« Im gleichen Augenblick ließ sich von dem Schloßturm her eine Nachtigall hören. »Es ruft mich jemand«, sagte die Jungfrau, »ich muß schnell gehen«; und verschwand hinter den Bäumen.
Am Samstag trug der Gesell die Schuhe nach dem alten Wartturm hinauf; er war selber in seine Schuhe verliebt, so fein und sauber sahen sie aus. An der gleichen Stelle wie das erste Mal war wieder die Jungfrau; sie hatte schon auf ihn gewartet und war jetzt wohl zufrieden mit seiner Arbeit. »Über acht Tage«, sagte sie, »sollst du mir aber noch deine Bürste mitbringen, damit du mir noch das Vorgeschühe wichsen kannst; hier hast du einstweilen ein Drangeld.« Damit gab sie ihm ein blankes Goldstück; da schlug wieder vom Schloßturm herab die Nachtigall, und die Jungfrau verschwand.
Als er am nächsten Samstag mit der Rötelbürste herauskam, saß sie an einer Erle und hieß ihn zu sich setzen und fragte: »Du hast mir mit den Schuhen zweimal einen großen Dienst geleistet; ich bin in den alten Wartturm verzaubert; sobald ich aber dieses Paar Schuhe durchgelaufen habe, so bin ich erlöst. Zum Dank will ich dir bis dorthin beistehn, so oft du in Nöten gerätst. Wenn du mich brauchst, so komm allemal am Samstag hierher, da wirst du ein Pfeifchen finden; und wenn du darauf bläst, so werde ich erscheinen; ich werde freilich nicht mehr reden können; mußt du aber notwendig einen Rat von mir haben, so drehe nur den Schlüssel an meiner Krone um; dann werde ich die Sprache wiederbekommen.«
Das schrieb sich der Gesell redlich hinter die Ohren; und es ging keine Ewigkeit, so fand er sich wieder auf dem Waldplatz ein; da lag richtig das Pfeifchen; und als er darauf blies, lag an der Stelle, wo er es aufgehoben hatte, ein Goldstück. Und so trieb er’s nun so oft er’s mochte und hatte immer vollauf Geld. Aber er ließ es auch immer drauf gehen und strich den reichen Bauerstöchtern nach; er lebte wie der Spatz im Hanfsamen und wollte nicht mehr arbeiten. Der Meister jagte endlich den Faulenzer fort; aber weil er in seinem Saus und Braus schon lange jede Woche noch ein dickes Stück mehr Schulden gemacht hatte, als das Goldstück vertrug, so wollte ihn der Amtmann einstecken lassen. Da mußte er sich entschließen, der Jungfrau seine Bedrängnis zu klagen und sie um Hilfe anzuflehn. Er machte sich also auf den Weg; und als er auf der Pfeife blies, erschien die Jungfrau diesmal selber. Da griff er nach dem goldenen Schlüssel in ihrer Krone und wollte ihn umdrehen. Aber kaum hatte er ihn berührt, so verwandelte sich der Schlüssel in eine feurige Schlange, die ihn umschlang und fast erdrückte. Mit Schrecken rannte er davon und war froh, daß er nur mit einer verbrannten Hand unten im Dorf ankam. Hier lief er gerade dem Amtmann in die Hände; der setzte ihn an den Schatten und da war’s aus mit den reichen Bauerstöchtern und mit dem Meister Schuhmacher in der großen Stadt.

[Schweiz: Otto Sutermeister: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz]

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