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Die Schneekönigin

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1. Die Geschichte von dem Teufelsspiegel und seinen Scherben

Der schlimmste aller Kobolde, nämlich der Teufel selbst, hatte sich eines Tages einen besonders boshaften Spaß ausgedacht und konnte sich vor Freude darüber kaum halten. Er hatte nämlich einen Spiegel gemacht,
der die Eigenschaft besaß, alles Gute und Schöne, Edle und Vortreffliche, das sich darin spiegelte, in Nichts zusammenschrumpfen zu lassen, während das, was nichts taugte, das Schlechte, Böse und Unschöne,
darin besonders hervortrat und sich noch vergrößerte.
Das war aber schon eine arge Teufelei!

Die herrlichsten Landschaften sahen in dem Teufelsspiegel wie gekochter Spinat aus, und die besten Menschen wurden widerlich oder standen auf dem Kopf; die Gesichter verzerrten und verdrehten sich so, dass sie kaum zu erkennen waren, und hatte man nur eine einzige Sommersprosse,
dann nahm sie sich aus, als bedecke sie Mund, Stirn und Nase.
Das sei äußerst lustig, sagte der Teufel.

Es kam aber noch viel ärger ! Hatte ein Mensch einen hochherzigen,
guten Gedanken, dann zeigte sich im Spiegel ein Grinsen, dass der Teufel über seine Erfindung lachen musste; seine Schüler, die er in der Koboldschule unterrichtete, erzählten, dass ein Wunder geschehen sei. Durch diesen Spiegel, sagten sie, könne man sehen, wie die Welt und
die Menschen wirklich beschaffen seien.
Die Koboldschüler liefen mit dem Spiegel sogleich durch alle Länder, und bald gab es keinen Menschen mehr, der darin nicht verzerrt worden wäre. Das genügte aber den Teufeln nicht. Sie wollten nun auch zum Himmel auffliegen und sich über die Engel und den lieben Gott lustig machen.
Je höher sie mit dem Spiegel flogen, desto mehr grinste er, sie konnten ihn kaum noch festhalten. Sie flogen höher und höher mit ihrer Last, Gott und den Engeln näher; da erzitterte der Spiegel so fürchterlich in seinem Grinsen, dass er ihren Händen entglitt, zur Erde herabfiel und in hundert Millionen und mehr Stücke zerbrach.

Das machte die Sache aber noch viel schlimmer als bisher! Denn einige der Stücke waren kaum so groß wie ein Sandkorn, und diese flogen umher in der weiten Welt, und wenn Leute sie ins Auge bekamen, blieben sie dort sitzen, und da sahen die Menschen alles verkehrt oder hatten nur Auge
für das, was bei einer Sache schlecht war; denn selbst das allerkleinste Stückchen behielt die Zaubermacht des Teufelspiegels bei.

Am schlimmsten aber stand es mit den Menschen, die eine Spiegelscherbe ins Herz bekamen; das Herz wurde kalt und starr wie ein Klumpen Eis. Einige versuchten, sich aus den aufgefundenen Stücken Brillengläser
zu machen, das taugte schon gar nichts!
Setzten sie die Brillen auf, dann sahen sie alles ins Trübe und Lächerliche verzogen und hatten am Leben keine Freude mehr.

Der Teufel lachte darüber, dass ihm der Bauch wackelte, und lobte seine Koboldschüler.
Aber draußen flogen noch Glassplitter in der Luft umher, und darüber
gäbe es viele Geschichten zu erzählten.

2. Die Geschichte von dem Knaben und dem kleinen Mädchen
 
Drinnen in der großen Stadt, wo so viele Häuser und Menschen sind, dass nicht jeder einen kleinen Garten haben kann, und wo sich deshalb die meisten Leute mit Blumentöpfen begnügen müssen, wohnten zwei arme Kinder. Ein bisschen besser als viele andere hatten sie es doch, denn sie besaßen ein winziges Gärtchen, das etwas größer als ein Blumentopf war. Sie waren nicht Geschwister, aber sie hatten sich ebenso lieb,
wie wenn sie es gewesen wären.
Die Eltern der beiden Kinder wohnten einander gerade gegenüber in zwei Dachkammern, und dort, wo die Dächer aneinander stießen und die Wasser Rinne entlang lief, dort war in jedem Haus ein kleines Fenster.
Man brauchte nur über die Rinne schreiten, und eins konnte das andere besuchen. Vor jedem Fenster stand ein hölzernes Kistchen; darin wuchsen Petersilie Schnittlauch und kleine Rübchen, und auch ein Rosenstock
stand darin, in jedem Kistchen einer, und die gediehen prächtig.

Eines Tages stellten die Eltern die Kistchen quer über die Wasser Rinne, sie reichten nun von einem Fenster zum andern. Bohnenranken hingen herab, und die Rosenstöcke schossen lange Zweige, die sich um die Fenster rankten und einander entgegenbogen – es war beinahe wie
eine Ehrenpforte. Die beiden Kinder erhielten oft die Erlaubnis, durch die Fenster hinauszusteigen; da saßen sie dann auf ihren kleinen Schemeln unter den Rosen wie in dem schönsten Park.
Im Winter freilich hatte dieses Vergnügen ein Ende. Die Fenster waren oft ganz zugefroren, aber dann wärmten der Knabe und das Mädchen Kupferschillinge auf dem Ofen und drückten diese gegen die vereisten Scheiben. So hatte jedes sein rundes Guckloch, durch das es zu dem andern hinüberschauen und ihm zunicken konnte.
Der Knabe hieß Kay und das Mädchen Gerda.

Im Sommer konnten sie mit einem Sprung über das Dach zueinander gelangen, im Winter mussten sie erst viele Treppen hinunter- und viele hinaufklettern, wenn sie Sehnsucht hatten, einander wiederzusehen;
und draußen stob der Schnee, und die Flocken wirbelten vor den Fenstern.
„Das sind die weißen Bienen, die schwärmen“, sagte die Großmutter.
„Haben sie auch eine Königin?“ fragte der kleine Knabe; denn er wusste, dass es bei den wirklichen Bienen eine solche gibt.
„Freilich haben sie eine“, sagte die Großmutter, „gib nur acht, sie fliegt dort, wo die Flocken am dichtesten schwärmen. Sie ist die größte von allen und bleibt nie still auf der Erde liegen; sie fliegt wieder zu den schwarzen Wolken hinauf. Manche Nacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und blickt zu den Fenstern hinein, und diese frieren so sonderbar zu,
dass es wie Blumen aussieht.“
„Ja, das habe ich gesehen!“ sagten beide Kinder, und nun wussten sie, dass es wahr sei.
„Kann die Schneekönigin auch hier hereinkommen?“ fragte das kleine Mädchen. „Ach, lass sie nur kommen! sagte der Knabe,
„dann setze ich sie auf den warmen Ofen, und dann schmilzt sie.“
Am Abend, vor dem Schlafengehen, stieg der kleine Kay halb ausgekleidet auf den Stuhl am Fenster und guckte durch das kleine Loch; ein paar Schneeflocken fielen dort draußen, und eine von diesen, die allergrößte, blieb auf dem Rand des Blumenkistchens liegen. Die Schneeflocke wuchs und wuchs und wurde zuletzt ein wunderschönes Fräulein, in den feinsten, weißen Batist gekleidet, mit Tausenden von sternartigen Flocken übersät. Das war die Schneekönigin! Sie war so schön und fein, aber von Eis, von blendend blinkendem Eis, und doch war sie lebendig. Die Augen blitzten wie zwei Sterne, aber es war weder Ruhe noch Rast in ihnen. Als sie die Hand hob und dem Knaben zuwinkte, sprang er erschrocken von seinem Stuhl. Da war es ihm, als ob draußen vor dem Fenster ein großer Vogel vorbeiflöge. Am nächsten Tag gab es klaren Frost.
Doch dann gab es wieder Tauwetter, und endlich kam der Frühling.
Die Sonne schien, das Grün wagte sich hervor, die Schwalben bauten ihre Nester, die Fenster wurden geöffnet, und die beiden Kinder saßen wieder in ihrem kleinen Garten hoch oben in der Dachrinne über allen Stockwerken. In diesem Jahr blühten die Rosen besonders prachtvoll.
Das kleine Mädchen hatte ein Lied gelernt, in dem war auch von Rosen die Rede, und bei den Rosen dachte sie an ihre eigenen vor dem Fenster; sie sang es Kay vor, und er sang mit: „Rosen, sie blühn und verwehn,
wir werden das Christkindlein sehn!“

Und die Kinder hielten einander bei den Händen, küssten die Rosen und blickten voll Freude in den hellen Sonnenschein. Wie schön waren die Sommertage, wie herrlich war es, draußen bei den Rosenstöcken zu sein, die aussahen, als wollten sie nie aufhören zu blühen.
Als Kay und Gerda einmal in ihrem Bilderbuch blätterten und die Uhr auf dem großen Kirchturm gerade fünf schlug, sagte Kay plötzlich:
„Au! Nun hat es mich ins Herz gestochen, und ins Auge ist mir auch etwas geflogen!“ Gerda fiel ihm erschrocken um den Hals; er blinzelte mit den Augen, konnte aber nichts Besonderes bemerken. “ Ich glaube, es ist wieder weg!“ sagte er. Aber es war doch nicht weg. Es war eines der Glaskörner von dem Teufelsspiegel gewesen, und der arme Kay hatte es nun im Herzen sitzen. Es tat wohl nicht mehr weh, aber es war einmal da, und sein Herz würde bald hat und ungerührt wie ein Eisklumpen werden. Auch dieses winzige Glaskörnchen hatte noch die Eigenschaft des bösen Spiegels mitbekommen, alles Große und Gute klein und hässlich zu machen. Und es begann auch gleich zu wirken.
„Warum weinst du denn?“ fragte Kay seine kleine Freundin,
„wie hässlich du jetzt bist, wenn du weinst! Und die Rose dort, sicher nagt gerade ein Wurm an ihr, und die andere daneben steht ganz schief! Sie sind genauso hässlich wie das Kistchen, in dem sie stehen!“ Und er stieß mit dem Fuß an das Kistchen und riss die beiden Rosen ab.
„Kay, was machst du da?“ fragte das kleine Mädchen erschrocken.
Da freute es ihn aber noch mehr, sie zu erschrecken; er riss noch eine Rose ab und sprang in sein Fenster hinein. So sehr hatte ihn das Teufelssplitterchen verändert!
Als Gerda mit dem Bilderbuch kam, sagte er, das sei für Wickelkinder; wenn die Großmutter Geschichten erzählte, hatte er immer etwas dran auszusetzen, ja er ging auch hinter ihr her, setzte sich eine Brille auf und amte sie so treffend nach, dass alle Leute lachten. Bald konnte er den Gang und die Sprache der Menschen in der ganzen Straße nachmachen. Alles, was an ihnen absonderlich und unschön war, wusste Kay dazustellen, und die Leute sagten: „Der Junge hat einen ausgezeichneten Kopf!“
Sie wussten ja nicht, dass er einen Splitter von dem Teufelsspiegel ins Auge bekommen hatte, dass ihm ein Splitter im Herzen saß. Auch die kleine Gerda wusste es nicht, und doch blieb sie ihm gut, so sehr er
sie auch neckte.
An einem Wintertag, als es wieder schneite, kam Kay mit einer Lupe und betrachtete die Schneeflocken, die auf seinem Mantel saßen.
„Sieh durch das Glas“, sagte er zu Gerda, und jede Schneeflocke wurde viel größer und sah aus wie eine prächtige Blume oder ein zehneckiger Stern; es war schön anzusehen.
„Wie kunstvoll sie sind, ganz regelmäßig, viel feiner als wirkliche Blumen. Kein einziger Fehler ist an ihnen. Wenn sie nur nicht schmelzen wollten!“ So vernünftig konnte der kleine Kay manchmal sein. Dann aber kam er wieder mit dicken Handschuhen, seinem Schlitten auf dem Rücken, und rief Gerda gerade in die Ohren hinein: „Ich darf heute mit den andern auf dem großen Platz rodeln!“ Und weg war er. Drüben auf dem großen Platz banden die kecksten Knaben oft ihren Schlitten an dem Wagen eines Bauern fest und so wurden sie noch ein gutes Stück auf der Landstraße mitgeschleift; das war ein Spaß!

Als sie gerade im besten Spielen waren, kam ein großer Schlitten angefahren, der war ganz weiß gestrichen, und darin saß jemand, in einen rauen, weißen Pelz gehüllt und mit einer weißen Mütze auf dem Kopf;
der Schlitten fuhr zweimal um den Platz herum und Kay band geschwind seinen kleinen Schlitten daran fest und nun fuhr er mit. Es ging schneller und schneller, geradewegs in die nächste Straße hinein.

Die Gestalt in dem rauen, weißen Pelz mit der hohen, weißen Mütze drehte sich um und nickte Kay freundlich zu; es war, als ob sie einander schon kannten. Jedes mal, wenn Kay seinen kleinen Schlitten losbinden wollte, nickte die Person wieder, und Kay blieb sitzen. So fuhren sie zum Stadttor hinaus. Der Schnee begann so dicht hernieder zu fallen, dass der Kleine seine Hand kaum sehen konnte, während er dahinsauste. Endlich ließ er die Schnur los, um von dem großen Schlitten freizukommen, aber es half nichts! Sein kleines Gefährt hing fest, und es ging mit Windeseile weiter. Da rief er ganz laut, aber niemand hörte ihn. Der Schnee wirbelte, und der große Schlitten flog dahin, mitunter gab es einen Sprung über verschneite Büsche und Gräben. Kay war sehr erschrocken und wollte sein Vaterunser beten, aber er konnte sich nicht mehr darauf besinnen, und nur das
große Einmaleins fiel ihm ein.
Die Schneeflocken wurden größer und größer, zuletzt sahen sie aus wie große, weiße Hühner. Auf einmal sprangen die Flocken zur Seite, und der große Schlitten hielt. Die Gestalt darin erhob sich, Pelz und Mütze waren über und über mit Schnee bedeckt. Da sah Kay, dass es eine Dame war, hoch und schlank, glänzend weiß – es war die Schneekönigin!
„Wir sind gut gefahren!“ sagte sie, „aber ich glaube, du frierst, kriech hinein in meinen Pelz!“ Und sie setzte ihn neben sich in den Schlitten und schlug den Pelz um ihn; ihm war, als versänke er in einem Schneetreiben. „Frierst du noch?“ sagte sie,“ und küsste ihn auf die Stirn. Dieser Kuss war aber kälter als Eis, er drang ihm bis ins Herz, das ja doch schon fast ein Eisklumpen war; es war, als sollte er sterben, aber nur einen Augenblick, dann fühlte er sich wieder recht wohl und spürte nichts mehr von der Kälte. „Mein Schlitten, wo ist denn mein Schlitten?“ rief Kay.
Die Schneekönigin band seinen kleinen Schlitten einem der weißen Schneehühner auf den Rücken, und das flog nun hinter ihnen drein. Die Schneekönigin küsste Kay noch einmal; sogleich hatte er seine kleine Freundin und die Großmutter daheim vergessen.
„Nun bekommst du keine Küsse mehr!“ sagte sie, „sonst küsse ich
dich noch tot!“
Kay sah sie an; sie war so schön, schöner als alles, was er bisher gesehen hatte. Sie war jetzt nicht aus Eis wie damals, als sie draußen vor dem Fenster saß und ihm zuwinkte, und er fürchtete sich auch nicht mehr vor ihr wie damals. Er erzählte ihr von der Schule und was er schon alles gelernt habe, dass er kopfrechnen könne, und zwar mit Brüchen; und was er alles über die Geschichte seines Landes wisse; und die Schneekönigin lächelte zu allem. Da erschien ihm sein ganzes Wissen auf einmal gar nicht mehr so groß, und er schaute hinauf in den unendlichen Himmelsraum, und sie flog mit ihm, flog hoch hinauf in die schwarze Wolke, und der Sturm sauste und brauste, als sänge er alte Lieder. Sie flogen über Wälder und Seen, über Länder und Meere; unter ihnen sauste der kalte Wind, die Wölfe heulten, der Schnee glitzerte; über ihnen flatterten die schwarzen, schreienden Krähen. Aber hoch oben schien der Mond so groß und klar; auf ihn schaute Kay in der langen, langen Winternacht.
Am Tag aber schlief er zu Füßen der Schneekönigin.

 
3. Die Geschichte von dem Blumengarten der Zauberin
 
Aber wie erging es Gerda, als Kay nicht mehr kam? Sie war so betrübt und fragte alle, die ihn zuletzt gesehen hatten, aber niemand konnte Auskunft geben. Die andern Jungen erzählten nur, dass sie gesehen hätten, wie Kay seinen kleinen Schlitten an einen großen, weißgestrichenen Schlitten angebunden habe und mit diesem zum Stadttor hinausgefahren sei. Niemand wusste, wo er war, und alle, die ihn gekannt hatten, trauerten um ihn; Gerda weinte bittere Tränen. Vielleicht war er tot, im Fluss ertrunken, der an der Stadt vorbei floss. Das waren lange, bange Wintertage für Gerda! Nun kam der Frühling mit seinen wärmenden Sonnenstrahlen. “ Kay ist tot und fort!“ klagte Gerda. „Das glauben wir nicht!“ sagten die Sonnenstrahlen. “ Er ist tot und fort!“ erzählte sie den Schwalben.
„Das glauben wir nicht!“ sagten auch diese, und zum Schluss glaubte
es Gerda selbst nicht mehr.
Eines Tages zog sie ihre neuen roten Schuhe an, die Kay noch nicht kannte; sie wollte hinaus vors Stadttor gehen und den Fluss nach Kay befragen. Es war noch früh am Morgen; sie küsste die alte Großmutter, die schlief, und ging mit ihren neuen roten Schuhen an den Füßen ganz allein durchs Stadttor hinaus nach dem Fluss.
„Hast du mir meinen kleinen Freund genommen?“ fragte sie den Fluss, „ich will dir meine neuen roten Schuhe schenken, wenn du ihn mir wiedergibst!“ Es war ihr, als nickten die Wellen ganz sonderbar, da nahm sie ihre roten Schuhe, die sie doch am liebsten hatte, und warf sie in den Fluss. Aber die Schuhe fielen dicht am Ufer nieder, und die kleinen Wellen trugen sie wieder ans Land. Es war gerade so, als wollte der Fluss ihr nicht das Liebste nehmen, was sie hatte, weil er ja den kleinen Kay nicht verbarg. Aber Gerda glaubte, sie hätte die Schuhe zu wenig weit hinausgeworfen, und so kletterte sie in ein Boot, das im Schilf lag, und schleuderte die Schuhe noch einmal ins Wasser. Aber das Boot war nicht festgebunden, und so glitt es bei der Bewegung vom Land ab. Gerda konnte nicht mehr zurück, sie trieb mit dem Boot ein ganzes Stück vom Land entfernt immer schneller dahin. Da fühlte sich das kleine Mädchen sehr verlassen und begann zu weinen. Aber niemand hörte sie außer den Spatzen, und die konnten sie nicht ans Ufer tragen. So flogen sie neben dem Boot her und sangen, als wollten sie sie trösten: „Hier sind wir, hier sind wir!“ Das Boot trieb mit dem Strom; die kleine Gerda saß ganz still, nur mit Strümpfen an den Füßen; die neuen roten Schuhe schwammen hinterher, sie konnten das Boot nicht mehr erreichen, weil es schnelle Fahrt hatte. Die beiden Ufer lagen in aller Lieblichkeit da, Blumen blühten an den Abhängen, alte Bäume breiteten ihren Schatten aus, und Kühe und Schafe weideten auf den fetten Wiesen; nirgends aber war ein Mensch zu erblicken. „Vielleicht trägt mich der Fluss zu Kay“, dachte Gerda und hörte zu weinen auf, und viele Stunden lang sah sie die vorbeiziehenden schönen, grünen Ufer an. Endlich kam sie zu einem großen Kirschgarten, in dem ein kleines Haus mit sonderbaren roten und blauen Fenstern stand; es war mit Stroh gedeckt, und draußen standen zwei hölzerne Soldaten, die vor der Vorbeisegelnden das Gewehr präsentierten. Gerda rief sie an, aber sie antworteten natürlich nicht. Sie kam ihnen ganz nahe, denn das Boot trieb gerade auf das Ufer zu. Da rief Gerda noch lauter, und nun kam eine uralte Frau, die sich auf einen Krückstock stützte, aus dem Haus heraus; sie hatte einen großen Sonnenhut auf, der mit den schönsten Blumen bemalt war.
„Du armes Kind!“ sagte die alte Frau, „wer hat dich auf den großen, reißenden Strom gesetzt und in die Welt hinausgetrieben?“ Und sie ging in das seichte Wasser hinein, hakte ihren Krückstock im Boot fest, zog es an Land und hob Gerda heraus. Das kleine Mädchen war so froh, wieder auf festen Boden zu kommen, aber es fürchtete sich doch ein wenig vor der alten, fremden Frau. „Komm doch und erzähl mir, wer du bist und wie du hierher kommst!“ sagte sie. Und als Gerda alles erzählt hatte, schüttelte die Alte den Kopf und sagte: “ Hm! Hm!“ Schließlich meinte sie, der kleine Kay wäre bis jetzt nicht vorbeigekommen, aber das könne ja jeden Tag noch sein, Gerda solle nicht betrübt sein und erst einmal von den Kirschen essen und die Blumen bewundern, schönere Blumen gäbe es nicht im teuersten Bilderbuch! Und jede könnte eine Geschichte erzählen. Dann nahm sie Gerda bei der Hand, sie gingen in das kleine Haus hinein, und die alte Frau schloss die Tür zu. Die Fenster waren ganz hoch oben, und das Tageslicht fiel durch die roten, gelben und blauen Scheiben gar sonderbar herein. Auf dem Tisch standen die schönsten Kirschen, und Gerda durfte so viele davon essen, wie sie nur wollte. Während sie aß, kämmte die alte Frau ihr das Haar mit einem goldenen Kamm; da lockte sich das Haar und glänzte wunderschön gelb rings um das freundliche Gesichtchen, das rund war und aussah wie eine Rose.
„Nach einem so lieben, kleinen Mädchen habe ich mich schon lange gesehnt“, sagte die Alte, „du wirst sehen, wie gut wir beide miteinander auskommen!“ Während aber der goldene Kamm Gerda durch die Haare fuhr, vergaß das Mädchen mehr und mehr den verlorenen Spielgefährten. Die alte Frau konnte nämlich zaubern, aber sie war keine böse Zauberin. Sie zauberte nur so zu ihrem eigenen Vergnügen und lauter nette, ungefährliche Dinge; nun wollte sie doch die kleine Gerda bei sich behalten, und darum ging sie hinaus in den Garten und versenkte mit ihrem Zauberkrückstock alle die schönen Rosenstöcke in die schwarze Erde hinein. Gerda sollte nicht an ihre eigenen Rosen daheim erinnert werden, denn dann würde sie gleich wieder an den kleinen Kay denken und davonlaufen. Nun führte die alte Zauberin Gerda in den Blumengarten. Dieser Duft und diese Herrlichkeit! Jede Jahreszeit hatte hier ihre Blumen bestellt; kein Bilderbuch konnte bunter und schöner sein. Gerda sprang vor Freude und spielte unter den Kirschbäumen, bis die Sonne unterging. Dann bekam sie ein Bett mit roten Seidenkissen, die mit blauen Veilchen gefüllt waren, und sie schlief und träumte darin so herrlich wie eine Königin an ihrem Hochzeitsmorgen.
Die Tage flossen dahin; immer durfte Gerda im warmen Sonnenschein mit den Blumen spielen, aber so viele auch da waren, eine Blume ging ihr doch ab, sie wusste nur nicht, welche. Da betrachtete sie eines Tages den großen Sonnenhut der alten Frau mit den gemalten Blumen, und gerade die schönste darunter war eine Rose. Die Alte hatte nämlich vergessen, diese vom Hut zu nehmen, als sie die Rosenstöcke in die Erde versenkte. –
Das kann geschehen, wenn man vergesslich ist!
„Wie, hast du denn gar keine Rosen in deinem Garten?“ fragte Gerda und suchte alle Beete ab, aber sie konnte keine Rose finden. Da setzte sie sich nieder und weinte; aber ihre Tränen fielen gerade dorthin, wo ein Rosenstrauch versunken war, und als die heißen Tränen die Erde benetzten, schoss der Stock wieder empor, so blühend, wie er verschwunden war. Gerda umarmte ihn und küsste die Rosen, und sogleich musste sie an ihre Rosen daheim und an den kleinen Kay denken.
„Kay -, ich wollte doch den kleinen Kay suchen! Oh, wie bin ich aufgehalten worden!“ rief sie. „Wisst ihr nicht, wo er ist?“ fragte sie die Rosen, „glaubt ihr, dass er tot ist?“ „Tot ist er nicht“, antworteten die Rosen, „wir sind ja in der Erde gewesen, wo alle Toten sind,
aber dein Kay ist nicht dort.“
Gerda bedankte sich und ging zu den andern Blumen hin, sah in ihre Kelche hinein und fragte wieder nach Kay. Aber die Blumen standen alle
in der Sonne und träumten ihre eigenen Märchen und Geschichten
sie erzählten Gerda so viele, aber keine wusste etwas von Kay.
Und was sagte denn die Feuerlilie? Sie träumte von Indien. „Hörst du den dumpfen Ruf der Trommel: bum! bum! Es sind nur zwei Töne,
immer bum! bum! Hörst du der Frauen Trauergesang?
In ihrem langen, roten Mantel steht eine Hindufrau auf dem Scheiterhaufen neben ihrem toten Mann. Wie die Flammen lodern!
Die Frau steht ganz ruhig und erwartet den Tod. Was soll sie noch unter den Lebenden, da ihr Mann nicht mehr lebt? Sie denkt doch nur an ihn. Seine Augen brannten heißer als das Feuer, das ihren Leib bald zu Asche verbrennen wird.
Dann ist sie wieder mit ihm vereint – so sagt ihr Glaube – in einem
ewig währenden Weiterleben.“
„Das verstehe ich gar nicht!“ sagte die kleine Gerda.
„Das ist ein Märchen!“ sagte die Feuerlilie. So ging Gerda zum Windling weiter. Was sagte der? Er wiegte die bläulichen Blütenköpfchen und wusste von einer alten Ritterburg zu erzählen.
Dichtes Immergrün wächst dort an den alten, roten Mauern empor;
im Erker steht ein schönes Mädchen; sie beugt sich über das Geländer hinaus und blickt den Weg entlang. Keine Rose ist frischer, keine Apfelblüte lieblicher als sie; und sehnsüchtig denkt sie:
Kommt er noch nicht?
„Wartet sie vielleicht auf Kay, diese schöne Dame in der Ritterburg?“ fragte Gerda. „Das war nur mein Traum, mein Märchen!“ antwortete der Windling. Was sagte das kleine Schneeglöckchen? Es hatte nie etwas von Kay gehört. Es kannte nur zwei kleine Mädchen, die im Garten zwischen den Bäumen auf ihrer Schaukel saßen, hoch und nieder ging es, ihre Kleidchen waren weiß wie Schnee, und an den Hüten flatterten die grünen Bänder. Der Bruder steht hinter ihnen in der Schaukel, er hat den Arm um das Seil geschlungen, um sich festzuhalten. In der einen Hand hält er eine kleine Schale, in der andern eine Tonpfeife; er bläst schillernde Seifenblasen. Die Schaukel fliegt, und die Blasen steigen in wechselnden Farben und wiegen sich im Wind. Ein schaukelndes Brett, ein zerspringendes Schaumbild ist der Traum des kleinen Schneeglöckchens.
Wieder war nichts von Kay zu erfahren. Gerda ging traurig weiter. Wussten die Hyazinthen etwas von ihm? Die Hyazinthen dachten eine Weile nach, und dann begannen auch sie zu erzählen, wieder eine ganz andere Geschichte.
„Es waren drei schöne Schwestern, so fein und zart von Gestalt, dass sie fast durchsichtig erschienen. Das Kleid er einen war rot, das zweiten blau, das der dritten weiß; Hand in Hand tanzten sie an dem stillen See im Mondschein. Waren es Elfen oder Menschenkinder? Es duftete so süß; sie tanzten in den Wald hinein, nun lag der See wieder allein. Drei Särge glitten da aus des Waldes Dickicht über den See dahin, die Glühwürmchen flogen leuchtend ringsherum wie kleine, schwebende Lichter. Schlafen die tanzenden Mädchen, oder sind sie tot? Es duftet so süß;
und die Abendglocken läuten aus weiter Ferne.“
„Du macht mich ganz traurig“, sagte die kleine Gerda. „Du duftest so stark. Ach, ist denn wirklich der kleine Kay tot? Die Rosen sind unten
in der Erde gewesen, und sie sagen nein!“
„Kling – klang!“ läuteten die Hyazinthenglocken, „das wissen wir nicht. Wir singen nur unser Lied, das einzige, das wir kennen!“
Und Gerda ging hin zur gelbglänzenden Butterblume, die mit ihrem grünen Schürzchen dastand und leuchtete wie eine kleine Sonne; sie nickte und erzählte ihr Geschichtchen, aber das war auch nicht von Kay.
„In einem kleinen Hof schien die liebe Sonne so warm am ersten Frühlingstag; die Strahlen glitten herab an der weißen Wand;
dicht daneben wuchsen die ersten gelben Blumen, sie leuchteten wie Gold unter den warmen Sonnenstrahlen; die alte Großmutter saß draußen in ihrem Stuhl; die Enkelin, das arme, schöne Dienstmädchen, kam heim zu einem kurzen Besuch; sie küsste die Großmutter. Es war Gold, Herzensgold in diesem Kuss. Gold auf dem Munde, Gold im Grunde, Gold dort oben in der Morgenstunde!
Sieh, das ist meine kleine Geschichte!“ sagte die Butterblume.
Da musste Gerda an ihre Großmutter daheim denken.
„Meine arme, alte Großmutter“, sagte sie, „sie sorgt sich gewiss um mich wie damals um Kay. Aber ich komme bald wieder heim, und dann bringe ich Kay mit. Doch was nützt es, wenn ich die Blumen frage, sie erzählen
ja doch nur ihre eigenen Geschichten!“
Und dann nahm sie ihr Kleidchen hoch, um schneller laufen zu können;
da schlug etwas an ihr Bein, und sie blieb stehen. Eine gelbe Pfingstlilie,
auf hohem Stiel, stand vor ihr und wiegte sich in Selbstgefallen.
„Weißt du vielleicht etwas?“ fragte Gerda, und sie beugte sich ganz zu der Pfingstlilie nieder. Und was sagte die? „Wie schön bin ich, wie schön bin ich! Und wie ich dufte! Ich bin wie die kleine Tänzerin oben in dem Dachstübchen; sie denkt nur an sich selbst und stößt mit den Füßen nach der ganzen Welt. Sie kann den ganzen Tag auf einem Bein stehen und sich im Spiegel bewundern, und nichts bereitet ihr mehr Sorgen als ihre weißen Tanzröckchen; diese wäscht sie selbst und trocknet sie auf dem Dach, und wenn sie tanzt, legt sie ein safrangelbes Tuch um die Schultern, denn dann leuchtet das Kleid weißer. Sieh, wie sie sich streckt auf dem einen Bein! Ganz wie ich, ganz wie ich!“ Die gelbe Lilie schwankte auf ihrem Stängel auf und ab und dachte, sie wäre auch eine Tänzerin, eine Tänzerin
unter den Blumen.
„Das gefällt mir gar nicht!“ sagte Gerda, und dann lief sie an das äußerste Ende des Gartens, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die Tür war verschlossen, aber Gerda rüttelte an dem verrosteten Riegel, dass er losbrach; die Tür sprang nun auf, und Gerda lief mit nackten Füßen in die weite Welt hinaus. Sie sah dreimal zurück, aber da war niemand, der ihr nacheilte. Wie anders aber sah es hier draußen aus! Mit dem Garten der alten, freundlichen Zauberin hatte Gerda auch den Sommer verlassen, denn hier war es schon Spätherbst; wie lange war sie fort gewesen!
„Ach, wie habe ich mich verspätet!“ dachte die kleine Gerda.
„Es ist ja Herbst geworden! Nun darf ich nicht ruhen!“
So lief sie, bis die kleinen Füße wund und müde waren. Sie musste sich auf einen großen Stein setzen und rasten. Wie rau und kalt sah es ringsum aus! Die langen Weidenblätter waren gelb geworden, ein Blatt nach dem andern fiel ab. Nur der Schlehdorn trug noch Früchte, die schmeckten aber herb, so herb wie der Herbst. Grau und schwer war es in der Welt geworden, und Gerda fand sich auf ihrem Weg immer mühsamer zurecht.
 
4. Die Geschichte vom Prinzen und der Prinzessin
 
Bald fing es auch noch zu schneien an. Gerda musste wieder rasten.
Da hüpfte auf dem Schnee, ihr gerade gegenüber, eine große Krähe.
Diese schaute das kleine Mädchen lange an, und dabei wackelte sie mit dem Kopf. „Krah ! Krah ! – Gu’n Tag, gu’n Tag!“ grüßte sie, besser konnte sie es nicht sagen. „Wohin des Wegs? Wohin des Wegs?“

Wie lange schon hatte niemand Gerda so freundlich gefragt!
Und so erzählte sie der Krähe ihre ganze Geschichte und fragte sie,
ob sie Kay nicht gesehen habe. Da nickte die Krähe ganz nachdenklich
und krächzte: „Kann sein, kann sein!“ „Ja, wirklich?“ rief das kleine Mädchen und hätte die Krähe fast tot gedrückt vor Freude.

„Nur ruhig, nur ruhig!“ mahnte die Krähe. „Ich weiß es nicht genau, aber vielleicht ist es der kleine Kay, den ich kenne.
Doch nun hat er dich gewiss über der Prinzessin vergessen!“
„Was ist das für eine Prinzessin?“ fragte Gerda ganz traurig.“ Ja, wenn du die Krähensprache verstündest“, seufzte der Vogel, „dann wäre die Sache ganz einfach. Aber es fällt mir so schwer, deine Sprache zu sprechen.
Doch ich werde erzählen, so gut ich eben kann.“ Und dann erzählte sie, was sie wusste. „In dem Königreich, in dem wir jetzt sitzen, wohnt eine Prinzessin, die ist über alle Maßen klug; aber sie hat auch alle Zeitungen gelesen, die es in der Welt gibt, und sie wieder vergessen, so klug ist sie! Neulich, als sie auf dem Thron saß, hörte ich wie sie ein Lied summte,
und das kannte ich gleich. „Warum sollte ich mich nicht verheiraten?“ sang sie. „Ja, natürlich“, sagte ich, und da wollte sie sich wirklich verheiraten. Aber sie wünschte sich einen Mann, der zu antworten verstand, wenn man zu ihm sprach; denn einer, der nur vornehm sei
und stumm dastehe, sei doch zu langweilig! Die Hofdamen wurden zusammengerufen, und als sie hörten, dass ihre Prinzessin sich verheiraten wolle, freute sie das sehr.
„Daran haben wir auch schon gedacht!“ sagten sie.

Du kannst mir jedes Wort glauben“, unterbrach sich die Krähe,“
denn ich habe eine zahme Braut im Schloss, und von der erfahre ich alles. Eine Krähe sucht doch immer wieder die andere. – Nun höre weiter.
Die Prinzessin ließ eine Anzeige in den Zeitungen erscheinen, mit einem Rand von Herzen und ihrem eigenen Namenszug; darin stand, dass es jedem jungen Mann freistehe, sie auf dem Schloss zu besuchen und sich mit ihr zu unterhalten; und den, der am besten redete, den wollte die Prinzessin zum Mann nehmen. Du kannst mir glauben“, erzählte die Krähe weiter,“
in Mengen strömten junge Männer herbei, es war ein Gedränge und ein Laufen – aber der Richtige war nicht darunter, nicht am ersten
und nicht nicht am zweiten Tag. Solange sie draußen auf der Straße waren, konnten sie alle gut reden, sobald sie aber durch das Schlosstor eintraten, die Gardewachen in Silber sahen und auf den Treppen die Lakaien in
Gold und die großen, erleuchteten Säle, da wurden sie alle verwirrt.
Standen sie schließlich vor der Prinzessin, dann wussten sie nichts
zu sagen als das letzte Wort, das sie gesprochen hatte, und das noch
einmal zu hören, interessierte die Prinzessin nicht. Erst als sie wieder auf der Straße standen, ja, da konnten sie reden!
In langen Reihen standen sie vor dem Schlosstor, und dort erhielten sie nicht einmal ein Glas Wasser. Die Klügeren hatten sich wenigstens ein Butterbrot mitgenommen, aber keiner teilte mit seinem Nachbarn – so sind die Menschen einmal.“
Lass ihn nur hungrig aussehen, dann gefällt er der Prinzessin bestimmt nicht!“ dachte jeder.“

„Aber Kay, war denn Kay unter ihnen?“ fragte Gerda ungeduldig.
„Ja, warte nur! Am dritten Tag nun, da kam so ein kleines Bürschchen ohne Pferd und Wagen fröhlich gerade auf das Schloss zumarschiert.
Seine Augen glänzten wie deine, er hatte schönes, langes Haar,
aber armselige Kleider. „Das war Kay!“ jubelte Gerda.
„Oh, dann habe ich ihn gefunden!“ und sie klatschte in die Hände.
„Er trug ein kleines Bündel auf dem Rücken“, fuhr die Krähe fort.
„Das war sein Schlitten!“ sagte Gerda, „denn mit dem Schlitten
ging er fort!“ „Das ist ja möglich“, sagte die Krähe, „ich schaute nicht
so genau hin. Aber das weiß ich von meiner zahmen Braut: Als er durch das Schlosstor kam und die Gardewache in Silber und die Lakaien in Gold sah, wurde er gar nicht verlegen, er nickte den Hofleuten zu und meinte,
es müsse doch recht langweilig sein immer auf der Treppe zu stehen.
Die Säle erglänzten, Geheimräte und Exzellenzen gingen aus Ehrfurcht
auf bloßen Füßen; seine Schuhe knarrten vorlaut, aber das störte ihn
gar nicht!“ „Ja, das sind Kays Schuhe, die knarren so laut!“ rief Gerda dazwischen. Die Krähe ließ sich nicht beirren. „So ging er keck gerade auf die Prinzessin zu; diese saß auf einer Perle, die so groß wie ein Spinnrad war. Alle Hofdamen mit ihren Jungfern und wiederum deren Jungfern waren zugegen, aber auch die Kavaliere mit ihren Dienern und wiederum deren Diener standen ringsherum aufgestellt; und je näher sie der Tür standen, desto stolzer sahen sie aus. Die letzten Diener im Schloss hielten sich aber auch wieder Burschen, und diese waren die stolzesten von allen, weil sie dazu den wenigsten Grund hatten. Vor diese Gesellschaft trat
nun dein kleiner Kay hin und begann mit der Prinzessin zu reden.
Er soll ebenso gut gesprochen haben, wie ich es in der Krähensprache kann, hat mir meine zahme Braut gesagt, und das will viel heißen!
Er war auch gar nicht mit der Absicht gekommen, um die Prinzessin zu freien, er hatte nur von ihrer Klugheit gehört, und da wollte er sich einmal selbst davon überzeugen.
Er fand sie sehr klug, und sie wiederum fand ihn klug!“

„Ja, das war gewiss Kay!“ rief Gerda, „er ist so klug, er kann kopfrechnen mit Brüchen. Kannst du mich nicht auf dem Schloss einführen liebe Krähe?“ „Ja, wenn das so leicht wäre! Ich muss mir erst Rat bei meiner zahmen Braut holen; denn das muss ich dir sagen, ein so kleines Mädchen wie du bekommt nie Erlaubnis das Schloss zu betreten.“
„Aber Kay holt mich gleich hinein, sobald er nur hört, dass ich da bin!“ „So, so!“ meinte die Krähe und wackelte mit dem Kopf. „Erwarte mich dort bei dem Gitter, ich will es versuchen!“ und fort war sie. Die Krähe kehrte erst am Abend zurück. „Krah, krah!“ sagte sie „Ich soll dich vielmals von meiner Braut grüßen. Hier schickt sie dir ein Stückchen Brot, das hat sie aus der Küche genommen, denn du bist gewiss hungrig.
Ins Schloss hinein darfst du leider nicht, denn du bist ja barfuss,
die Gardewachen in Silber und die Lakaien in Gold würden den Eintritt nie gestatten. Aber weine nicht, du sollst trotzdem hineinkommen. Es gibt dort eine versteckte Treppe, die führt direkt ins Schlafgemach; meine Braut wird sich bemühen, den Schlüssel zu bekommen.“ Gerda und die Krähe gingen indessen im Garten auf und ab und durch eine lange Allee, wo ein Blatt nach dem andern herabfiel, und als die Lichter im Schloss gelöscht wurden, führte die Krähe die kleine Gerda zu einer niedrigen Tür, die angelehnt war. Gerdas Herz klopfte vor Furcht und Freude. Es war, als ob sie etwas Böses tun wollte, aber sie suchte doch nur den kleinen Kay!
Kay, mit seinen glänzenden Augen und den langen, schönen Haaren.
Und er würde sich gewiss freuen, Gerda wiederzuhaben und zu hören, welchen weiten Weg sie seinetwegen gegangen war.
Oh, es war eine Furcht und eine Freude!
Nun waren beide an der Treppe angelangt. Hier brannte eine kleine Lampe auf dem Gesims, und mitten auf dem Fußboden wartete die zahme Krähenbraut und betrachtete Gerda von allen Seiten. Gerda verneigte sich vor ihr, wie sie es von der Großmutter gelernt hatte, und die zahme Krähe nickte zur Begrüßung. „Mein Verlobter hat mir viel Gutes von Ihnen erzählt“, sagte die Krähe, „ich bin von Ihrem Lebenslauf sehr gerührt. Wollen Sie bitte die Lampe nehmen, ich gehe voran. Hier begegnet uns niemand.“ Da sausten Schatten hinter Gerda einher; Pferde mit fliegenden Mähnen und dünnen Beinen, Jägerburschen, Damen und Herren zu Pferd. „Das sind nur die Träume“, sagte die Krähe,“ die unsere hohen Herrschaften besuchen; um so besser können wir sie im Bett betrachten. „Nun kamen sie in den ersten Saal; seine Wände waren von rosenrotem Atlas und mit Blumen bestickt. Die Träume sausten jedoch so schnell an Gerda vorbei, dass sie die hohen Herrschaften gar nicht zu sehen bekam. Ein Saal war immer prächtiger als der andere, man kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Jetzt waren sie im Schlafgemach. Die Decke glich hier einer Palme mit Blättern von kostbarem Glas, und mitten im Raum standen auf einem dicken Stängel von Gold zwei Betten, die wie Lilienkelche geformt waren. In dem weißen schlief die Prinzessin, und in dem roten sollte Gerda ihren Kay suchen. Sie beugte sich darüber und sah einen braunen Nacken – das war Kay! Laut rief sie sogleich seinen Namen und hielt dabei die Lampe hoch. Da sausten die Träume zu Pferd zur Tür hinaus, der Angerufene drehte sich um – aber es war nicht Kay!
Der fremde Prinz war hübsch und jung, aber er glich Kay nur ganz entfernt.
Da setzte sich die Prinzessin in ihrem weißen Lilienbett auf, blinzelte und fragte, was denn geschehen sei. Gerda weinte vor Enttäuschung und erzählte ihre Geschichte. „Du armes Kind!“ sagten der Prinz und die Prinzessin. Die Krähen wurden gelobt, obwohl sie doch eigentlich gegen jede Vorschrift gehandelt hatten; für diesmal sollten sie noch eine Belohnung erhalten. „Wollt ihr frei sein und fortfliegen oder Hofkrähen werden mit fester Anstellung und allem, was in der Küche abfällt?“ fragte die Prinzessin. Die beiden Krähen verneigten sich und baten um feste Anstellung um „fürs Alter etwas zu haben“, wie sie sagten.
Der Prinz konnte für Gerda aber nicht mehr tun, als aus seinem roten Lilienbett zu steigen und es dem kleinen Mädchen anzubieten.
Todmüde fiel Gerda hinein und schlief sanft und tief. Alle Träume kamen wieder geflogen, sie sahen jetzt aus wie lichte Engel, und sie zeigten ihr den kleinen Kay auf seinem Schlitten, doch leider nur im Traum. Am folgenden Tag wurde Gerda in Seide und Samt gekleidet und eingeladen, im Schloss zu bleiben, da würde man sie nach Herzenslust verwöhnen. Aber sie bat nur um einen kleinen Wagen mit einem Pferdchen und um ein Paar Stiefelchen, dann wolle sie wieder in die weite Welt hinausfahren und Kay suchen.
Und Gerda bekam reizende Stiefelchen und einen Muff, das sah allerliebst aus. Eine Kutsche aus purem Gold hielt vor der Tür, und des Prinzen und der Prinzessin Wappen glänzte daran wie ein Stern. Kutscher, Diener und Vorreiter saßen mit Goldkronen auf dem Kopf da. Der Prinz und die Prinzessin halfen Gerda in den Wagen und wünschten ihr alles Glück.
Die Waldkrähe, die schon verheiratet war, begleitete sie noch ein ganzes Stück; sie saß neben ihr, denn sie konnte es nicht vertragen, rückwärts zu fahren. Die zahme Krähenfrau blieb zurück und wippte mit den Flügeln,
sie fuhr nicht mit, denn sie litt an Kopfweh, seit sie eine feste Anstellung hatte und zuviel zu essen bekam. Die Kutsche war innen mit Brezeln besteckt, Zuckerbrezeln natürlich, und auf dem Sitz lagen Äpfel
und Kuchen.

„Leb wohl, leb wohl!“ riefen der Prinz und die Prinzessin, und Gerda weinte, und die Krähe weinte. Am traurigsten aber war es, als dann
auch die Krähe Gerda Lebewohl sagte; sie flog auf einen Baum hinauf
und schlug mit ihren Flügeln, solange sie den Wagen in der hellen
Sonne leuchten sah.

 
5. Die Geschichte von dem kleinen Räubermädchen
 
Sie fuhren durch den dunklen Wald, aber das Gold an der Kutsche leuchtete wie ein Fackel. Das sahen die Räuber und da kamen sie gleich angerannt. „Das ist Gold, pures Gold!“ riefen sie, griffen den Pferden in die Zügel, schlugen Kutscher, Diener und Vorreiter tot und zogen das kleine Mädchen aus dem Wagen. Ein hässliches, altes Räuberweib mit einem struppigen Bart war auch dabei, sie griff die arme Gerda ab wie ein gemästetes Hühnchen.
„Sie ist fett und rund“, sagte sie „man hat sie mit Nusskernen gefüttert.“
Das Weib wackelte mit ihren dichten Augenbrauen, die ihr über
die Augen herabhingen.
„Sie ist fett wie ein Osterlämmchen! Sie soll uns schmecken!“ Dann zog sie ihr blankes Messer heraus, und es blitzte, dass es grässlich war.
„Au weh!“ schrie die Alte auf einmal, denn ihre eigene kleine Tochter,
die wild und ungebärdig auf ihrem Rücken hing, hatte sie fest ins
Ohr gebissen.
„Ich will mit dem Mädchen spielen!“ rief das Räuberkind, „sie soll mir ihren Muff und ihr Kleid geben und mit mir in meinem Bett schlafen!
Dann biss das wilde Kind wieder, so dass das Räuberweib in die Höhe sprang und sich rundherum drehte. Und alle Räuber lachten und sagten:
„Seht, wie sie mit ihrem Balg tanzt!“ „Ich will in die Kutsche hinein!“
rief das kleine Räubermädchen, und es setzte seinen Willen durch,
denn es war so verzogen. Gerda saß daneben, und so fuhren sie tiefer
in den Wald hinein, über Stock und über Stein.
Das Räubermädchen war so groß wie Gerda, jedoch stärker und breitschultriger und von dunkler Haut. Ihre Augen hatten über aller Wildheit einen traurigen Schimmer.
„Sie sollen dich nicht schlagen, solange ich nicht böse auf dich werde!“ sagte sie. „Du bist sicher eine Prinzessin?“ „Nein“, erwiderte Gerda und erzählte ihre Geschichte, und wie lieb sie den kleinen Kay habe. Da wurde das Räubermädchen ganz ernsthaft, trocknete Gerdas Augen und steckte ihr beide Hände in den warmen, weichen Muff.

Die Kutsche hielt mitten im Hof eines Räuberschlosses, einem alten, geborstenen Mauerwerk; Raben und Krähen flogen aus und ein, und große böse Hunde, die wie Menschenfresser aussahen, sprangen zähnefletschend in die Höhe; aber sie bellten nicht, denn es war verboten.
In einem großen, verräucherten Saal brannte mitten auf dem steinernen Fußboden ein helles Feuer. Der Rauch zog unter der Decke hin und musste sich selbst einen Ausweg suchen. In einem großen Kessel kochte die Suppe, und Hasen und Kaninchen brieten am Spieß.

„Du sollst heute nacht mit mir bei meinen Tieren schlafen!“ sagte das Räubermädchen. Nachdem sie zu essen und zu trinken bekommen hatten, gingen sie in eine Ecke, wo Stroh und Teppiche lagen, denn ein anderes Bett kannten die Räuber nicht. Darüber saßen auf Latten und Stäben mehr als hundert Tauben, die schienen zu schlafen, aber sie wendeten und drehten sich und trippelten hin und her, als die beiden Mädchen eintraten.
„Die gehören alle mir“, sagte das Räuberkind, fasste eine von ihnen derb an den Flügeln und schüttelte sie. „Küss sie!“ befahl sie Gerda und drückte ihr die Taube an die Nase, denn ihre Zärtlichkeiten waren wild und von seltsamer Art. „Da sitzen die Waldtauben!“ fuhr sie fort und zeigte auf ein Loch hoch oben in der Mauer, das mit Latten verschlagen war.
„Ich muss sie eingeschlossen halten, diese beiden Waldtauben, sonst fliegen sie gleich fort!“ Und Gerda war es, als hörte sie die Tauben seufzen. „hier ist mein lieber alter Bä!“ erklärte das Räubermädchen weiter und zeigte auf ein Rentier, das einen blanken Kupferring um den Hals hatte und angekettet war. „Der möchte auch am liebsten fort, wenn er könnte. Jeden Abend kitzle ich ihn mit meinem scharfen Messer am Hals, davor ist ihm so bang. Bä-bä!“ Und das wilde Mädchen zog ein langes Messer aus einem Spalt in der Mauer und streichelte damit den Hals des Rentiers; das arme Tier wich zurück, so weit es konnte, und fürchtete sich.
Die beiden Mädchen legten sich nun auf das Stroh und deckten sich mit Teppichen zu; das Räubermädchen aber hatte noch das Messerin
der Hand. „Behältst du das Messer bei dir?“ fragte Gerda ängstlich. „Ach, man weiß nie, was vorfallen kann!“ sagte das Räubermädchen. “ Aber erzähl mir nun von dem kleinen Kay und allen deinen Abenteuern!“ Und Gerda erzählte wieder ihre Geschichte von vorne, und die Waldtauben gurrten in ihrem Bauer, die anderen Tauben aber schliefen,
und das Räubermädchen begann zu schnarchen.
Gerda konnte nicht einschlafen, sie fürchtete sich so sehr. Die Räuber saßen rings um das Feuer und sangen schreckliche Lieder, und das alte Räuberweib schlug Purzelbäume. Oh, es war grässlich für das
kleine Mädchen, dies anzusehen und anzuhören.

Da begannen die Waldtauben auf einmal: „Gurre ! Gurre !
Wir haben den kleinen Kay gesehen!
Ein weißes Huhn trug seinen Schlitten auf dem Rücken. Er selbst saß im Schlitten der Schneekönigin, dicht über den Bäumen fuhren sie dahin,
als wir jungen Tauben noch in den Nestern lagen. Und der Atem der Schneekönigin war so kalt, dass alle starben außer uns beiden. Gurre! Gurre!“ „Was sagt ihr da?“ rief Gerda, „und wißt ihr auch, wohin ihn die Schneekönigin gebracht hat?“ „Gurre ! Gurre! Frag das Rentier, das weiß Bescheid im Reich der Schneekönigin, hoch oben im Norden bei den Lappländern.“ „Ja, herrlich ist es in meiner Heimat!“ sagte das Rentier. „Dort gibt es Eis und Schnee im Überfluss, und man springt frei umher in den weiten, glänzenden Tälern. Dort hat die Schneekönigin ihr Sommerzelt, in das sie sich zurückzieht, wenn es ihr in den andern Ländern zu warm wird. Ihr schönstes Schloss freilich steht ganz hoch auf dem Nordpol oben.“ „Ach Kay, Kay!“ seufzte Gerda; aber das Räubermädchen
begann gleich zu brummen:
„Willst du wohl still liegen, sonst bekommst du mein Messerchen
zu spüren!“
Am Morgen aber erzählte Gerda dem Räubermädchen, was die Waldtauben gesagt hatten; da sah das Räubermädchen sie ganz ernst an und nickte. „Wir werden ja sehen! – Weißt du, wo Lappland ist?“
fragte sie das Rentier.
Wer konnte das besser wissen als das Rentier, das dort geboren und aufgewachsen und frei auf den Schneefeldern umhergesprungen war.
Da überlegte das Räubermädchen nicht mehr lang und beschloss, Gerda mit dem Rentier fortziehen zu lassen. „Alle Männer sind fort“, sagte sie „aber Mutter ist noch hier, und sie bleibt. Warte, bis es Mittag wird,
dann trinkt sie aus der großen Flasche und macht darauf ein Schläfchen. Das weitere werden wir schon sehen!“
Nun sprang das Räubermädchen aus dem Bett, fiel der Mutter um den Hals, zupfte sie am Bart und neckte sie: “ Mein Ziegenbock, mein Ziegenbock, guten Morgen!“ Dafür gab es dann rote und blaue Nasenstüber, und all dies aus Liebe, aus heißer Räuberliebe!

Zu Mittag trank das Räuberweib aus einer großen Flasche gluck – gluck – gluck! und schlief darauf ein. Da ging das Räubermädchen zum Rentier hin, löste seine Schnur und sagte: „Ich würde dich ja noch gern eine Zeitlang bei mir behalten und mit meinem scharfen Messerchen kitzeln; aber du sollst dieses kleine Mädchen nach Lappland zum Schloss der Schneekönigin bringen, vielleicht findet sie dort ihren Spielgefährten.
Und du musst deine Beine rühren! Du hast wohl gehört, was sie erzählte,
denn du horchst!“ Das Rentier sprang vor Freude in die Höhe.
Das Räubermädchen hob Gerda auf seinen Rücken, band sie fest und
gab ihr sogar noch ein Kissen mit, auf dem sie sitzen konnte.
Auch die Pelzstiefel bekam Gerda wieder, nur den Muff wollte sich das Räubermädchen behalten, der gefiel ihr all zu gut; dafür gab sie die großen Fausthandschuhe ihrer Mutter her, die Gerda bis zu den Ellbogen reichten. Und Gerda weinte vor Freude.
„Ich kann es nicht leiden, wenn du heulst!“ sagte das kleine Räubermädchen. „Du sollst jetzt ganz vergnügt aussehen!
Und da hast du zwei Brote mit Schinken, so brauchst du nicht zu hungern.“
Als das Räubermädchen den Strick durchgeschnitten hatte, jagte das Rentier sogleich wie der Wind über Stock und Stein davon. Gerda konnte gerade noch die Hände mit den großen Fausthandschuhen ausstrecken
und Lebewohl sagen, dann flog sie mit dem Rentier dahin über Büsche
und Stoppeln, durch den großen Wald, über Sümpfe und Steppen,
so schnell es nur laufen konnte. Die Wölfe heulten und die Raben krächzten.
Am Himmel erschienen seltsame Lichtzeichen, und es knisterte so sonderbar; es war, als niese er rot.
„Das sind meine Nordlichter!“ sagte das Rentier. „
Schau, wie sie leuchten!“ Und dann lief es noch schneller, Tag und Nacht; und als die zwei Laibchen Brot und der Schinken verzehrt waren,
kamen sie gerade nach Lappland.

 
6. Die Geschichte von der Lappenfrau und dem Finnenweib
 
Nun waren sie also in Lappland. Gleich bei dem ersten kleinen Haus hielten sie an; es war ein armseliges Haus! Das Dach hing fast bis zur
Erde herab, und die Tür war so niedrig, dass die Familie auf dem Bauch kriechen musste, wenn sie heraus oder hinein wollte. Hier war aber niemand zu Hause außer einer alten Lappenfrau, die über einer Tranlampe Fische briet. Das Rentier erzählte gleich Gerdas Geschichte, zuvor aber seine eigene, denn die kam ihm viel wichtiger vor, und das kleine Mädchen war auch so von Kälte erstarrt, dass es nicht sprechen konnte.

„Zur Schneekönigin wollt ihr?“ fragte die Lappenfrau, „da habt ihr Armen noch weit zu laufen, viele Kilometer noch nach Finnland hinein!
Aber ihr könnt gleich sehen, wo es richtig ist, denn die Schneekönigin brennt jeden Abend ein Feuerwerk ab. Ich will euch einen Brief mitgeben für meine Bekannte dort oben, das Finnenweib, sie kann euch bessern Bescheid geben als ich!“

Die Lappenfrau hatte aber kein Papier, und so schrieb sie auf einen gedörrten Stockfisch, und es wurde dennoch ein ganz ordentlicher Brief daraus. Und als nun Gerda sich erwärmt und zu essen und zu trinken bekommen hatte, ließ sie sich wieder auf dem Rentier festbinden,
und schon ging es weiter. Oben in der Luft knisterte es; die ganze Nacht brannten die schönsten blauen Nordlichter am Himmel, das war der Schneekönigin Feuerwerk. Gerda hielt das Stückchen Stockfisch fest
an sich gepresst. Und dann kamen sie nach Finnland und klopften an
den Rauchfang des Finnenweibes, denn ihre Hütte hatte nicht einmal
eine Tür. Drinnen hatte es eine Hitze, dass das Finnenweib fast ganz nackt ging; sie war klein und schmutzig, denn wer mag sich bei solcher Kälte auch viel waschen, und noch dazu in Schneewasser! Gerda musste die Pelzstiefel und die langen, dicken Fausthandschuhe ausziehen, denn sonst wäre sie verschmachtet. Das Finnenweib legte dem Rentier ein Stück Eis auf den Kopf, und dann las sie, was auf dem Stockfisch geschrieben stand. Sie las es dreimal, dann wusste sie es auswendig und warf den Fisch in
den Suppentopf; gespart musste werden!

Das Rentier erzählte wieder zuerst seine Geschichte und dann die von Gerda, und die Finnin blinzelte mit den klugen Augen, sagte aber nichts.
„Du bist sehr klug“, schmeichelte das Rentier, „du kannst alle Winde der Welt an einen Zwirnsfaden knüpfen; wenn der Schiffer den einen Knoten löst, bekommt er guten Wind, löst er den zweiten, dann weht es scharf,
und löst er den dritten und vierten, so stürmt es, dass die Wälder umfallen. Willst du dem lieben, kleinen Mädchen nicht einen Trank geben, der ihr Zwölf-Männer-Stärke verleiht?
Denn nur so kann sie die Schneekönigin überwinden.“

„Zwölf – Männer – Stärke „, sagte die Finnin, „ja, das allein könnte helfen!“ Dann ging sie zu einem Brett, nahm ein großes, zusammengerolltes Fell hervor und rollte es auf. Da waren seltsame Buchstaben darauf geschrieben, und das Finnenweib las, dass ihr das Wasser von der Stirn rann. Aber es schien ihr nichts einzufallen.
Das Rentier bat noch einmal recht herzlich für das kleine Mädchen,
und Gerda sah die Finnin mit Tränen in den Augen an;
in letzter Minute sollte doch nicht alle Hilfe versagen!

Das Finnenweib zog das Rentier in eine Ecke, legte ihm frisches Eis auf den Kopf und flüsterte mit ihm. Kay lebe bei der Schneekönigin sehr glücklich und finde dort alles nach seinem Geschmack, weil er doch die Glassplitterchen von dem Teufelsspiegel in seinem Herzen und im Auge stecken habe. Diese müssten erst heraus, sonst würde er nie mehr ein Mensch werden. Alle Lieben daheim, auch die kleine Gerda habe er vergessen, so sehr stehe er in der Gewalt der Schneekönigin.
“ Kannst du Gerda nichts eingeben, dass sie wieder allein Macht
über ihren Kay erhält?“ fragte das Rentier.
„Besitzt sie nicht selbst schon die größte Macht?“ sagte das Finnenweib. „Du und alle anderen Tiere dienen ihr, das wilde Räubermädchen erfüllte bereits ihre Wünsche, mit nackten Füßen lief sie ihren mühsamen Weg.
Sie kann nicht von uns solche Macht erhalten, die sitzt in ihrem unschuldigen Herzen; je stärker ihre Liebe, desto größer ihre Macht.
Allein muss sie zur Schneekönigin kommen und Kay die Splitterchen aus dem Herzen und dem Auge ziehen. Wir können nichts mehr für sie tun! Bring sie noch bis zum Garten der Schneekönigin, nicht weit von hier,
und setze sie dort bei dem großen Busch mit den roten Beeren ab.
Eile dich, ehe es zu spät ist!“

So schnell lief das Rentier mit Gerda wieder fort, dass sie ihre Pelzstiefel und die Fausthandschuhe vergaß; die Kälte stach wie mit Messern!
Aber das Rentier wagte nicht umzukehren, es lief, bis es an den Busch mit den roten Beeren kam. Dort setzte es die kleine Gerda ab, küsste sie auf die Wange, und dabei füllten sich seine Augen mit großen, blanken Tränen. Dann rannte es, so schnell es konnte, wieder zurück.

Nun stand die arme Gerda ohne Schuhe, ohne Handschuhe mitten in dem fürchterlichen, eiskalten Finnland. Sie begann zu laufen, immer schneller geradeaus. Da kam ihr ein ganzes Regiment Schneeflocken entgegenmarschiert; aber sie fielen nicht vom Himmel herab,
der war ganz klar und leuchtete von Nordlichtern. Das waren die
Vorposten der Schneekönigin. Sie waren aber keine gewöhnlichen Schneeflocken, sondern viel, viel größer, sie waren lebendig und hatten
die merkwürdigsten Gestalten; einige sahen wie hässliche, große Stachelschweine aus, andere wie ein ganzer Haufen Schlangen, die die Köpfe vorstreckten, und wieder andere wie kleine, dicke Bären, deren Haare sich sträubten; alle waren glänzendweiße, lebendige Schneeflocken.

Da betete die kleine Gerda ein Vaterunser, und die Kälte war so groß, dass sie ihren eigenen Atem sehen konnte, der wie Rauch aus ihrem Mund strömte. Aber der Atem wurde dichter und dichter, kleine Engel wuchsen daraus mit Helmen auf dem Kopf und Speer und Schild in den Händen.
Es wurden mehr und mehr, und als Gerda ihr Vaterunser beendet hatte, war ein ganzes Heer um sie versammelt; sie stachen mit ihren Speeren gegen die hässlichen Schneeflocken, so dass diese in hundert Stücke zersprangen. Jetzt konnte Gerda sicher und frohen Mutes weiterziehen.
Sie empfand es auch nicht mehr so kalt, denn die Engel streichelten ihre Hände und ihre Füße; fröhlich eilte sie auf das Schloss der
Schneekönigin zu.

Kay jedoch, mit dem Teufelssplitterchen im Herzen, das ihn völlig
gefühllos gemacht hatte, saß im Schloss der Schneekönigin
und ahnte nicht, wie nahe ihm die kleine Gerda bereits war.

 

7. Die Geschichte von der Schneekönigin und den beiden Kindern
 
Kalt und glänzend war die Pracht im Schloss der Schneekönigin;
weithin funkelten und glitzerten die Wände, die der Wind aus wirbelnden Flocken zusammengeweht hatte. Man konnte gar nicht lange hinsehen,
so sehr blendete das Gleißen und Flimmern die Augen.
Es waren über hundert Säle darin, und der größte von ihnen erstreckte
sich viele Stunden weit.
Schneidende Winde fegten durch Fenster und Türen, vom Nordlicht beleuchtet lagen die Räume eisig kalt und leer da, jede Bewegung war erstarrt. Nie gab es Feste hier, nicht einmal einen kleinen Eisbärenball,
zu dem doch der Sturm aufspielen würde und die Eisbären auf den Hinterfüßen tanzen könnten, oder eine Kaffeejause für die
„Weiß-Fuchs“ – Damen. Sonst war es so still hier wie an dem allereinsamsten Ort der Erde.

Mitten in dem größten, unendlichen Schneesaal lag ein zugefrorener See. Dieser war in tausend Stücke zersprungen, und alle Stücke waren gleich geformt, so dass er aussah wie ein blinkender Stern. Und mitten auf dem Stern thronte die Schneekönigin, wenn sie zu Hause war, das war ihr liebster Aufenthalt. Der kleine Kay war ganz blau vor Kälte, ja fast schon schwarz, aber er merkte nichts davon, denn seine Gebieterin hatte ihm die Frostschauer abgeküsst, und sein Herz war so gut wie ein Eisklumpen.
Er hockte da und spielte mit scharfen, flachen Eisstücken, die er aneinander fügte, um verschiedene Figuren zu legen. Auch Worte fügte
er aus Eisbuchstaben, und das alles hielt er für so höchst wichtig,
dass er darüber Gerda und die alte Großmutter, die Rosenstöcke und die Petersilienkistchen zwischen den beiden Dächern vergaß. Daran war eben das Glaskörnchen von dem Teufelsspiegel schuld! Nun sollte er noch herausfinden, wie das Wort „Ewigkeit“ aus den Eisbuchstaben zu legen sei, aber das wollte ihm nicht gelingen.
„Wenn du mir dieses Wort zusammenstellen kannst“, hatte die Schneekönigin gesagt, „dann sollst du dein eigener Herr sein, und ich schenke dir die ganze Welt und noch ein Paar neue Eisschuhe dazu!“
Aber er konnte es nicht.

Eines Tages bekam die Schneekönigin Lust, wieder einmal fortzufliegen, diesmal nach den südlichen Ländern. „Ich will mir den Vesuv ansehen,
ihn ein wenig weiß machen und in sein Feuer spucken! Das gehört dazu; das wird den Weintrauben und Zitronen wohl bekommen!“ sagte sie.

Und dann flog die Schneekönigin davon, und Kay saß ganz allein in dem riesigen, leeren Eissaal und schaute die Eisstücke an und dachte und dachte, so dass es in ihm knackte; ganz steif und still saß er da,
man hätte meinen können, er sei tot.

Da betrat Gerda durch das große Tor das Schloss. Die eisigen Winde sprangen ihr entgegen, aber sie sprach ihr Abendgebet, und sogleich legten sich die Winde, als wollten sie schlafen, und Gerda ging weiter; sie trat in die großen, leeren Säle ein – da sah sie Kay, sie erkannte ihn, sie flog ihm um den Hals, hielt ihn fest und rief: „Kay, lieber, kleiner Kay!
so habe ich dich endlich gefunden!“

Aber Kay blieb kalt und stumm; da weinte Gerda heiße Tränen, sie fielen auf seine Brust und drangen in sein Herz hinein, sie tauten den Eisklumpen auf und schwemmten das Teufelssplitterchen fort; er sah sie an, und sie begann leise zu singen:

„Rosen, sie blühn und verwehn,
wir werden das Christkindlein sehn!“

Da weinte Kay, so dass das Spiegelkörnchen aus seinem Auge heraus rollte, er erkannte sie und jubelte: „Gerda, süße, kleine Gerda! – wo bist
du so lange gewesen, und wo bin ich gewesen?“, und er blickte um sich. „Wie kalt ist es hier, wie leer und groß!“
Und er hielt sich an Gerda fest, und sie lachte und weinte vor Freude;
sie waren so glücklich, dass selbst die Eisstücke vor Freude umhertanzten, und als sie müde waren und sich niederlegten, lagen sie gerade in den Buchstaben, die die Schneekönigin haben wollte und wofür sie dem kleinen Kay die ganze Welt und noch ein Paar Eisschuhe dazu versprochen hatte.
Und Gerda küsste Kays Wangen, da wurden sie blühend; sie küsste seine Augen, da leuchteten sie wie die ihren; sie küsste seine Hände und Füße, und er war gesund und munter.

Nun mochte auch die Schneekönigin nach Hause kommen – da stand das Wort aus glänzenden Eisbuchstaben gefügt, und Kay war frei, frei für die ganze Welt, frei für Gerda, frei durch ihre opferwillige Liebe.
Weithin strahlte das Wort: “ Ewigkeit „.

Und sie fassten einander bei den Händen und wanderten zum Schlosstor hinaus; sie sprachen von der Großmutter und von den Rosen oben auf
dem Dach, und wo immer sie gingen, verstummten die eisigen Winde, und die Sonne brach hervor. Bei dem großen Busch mit den roten Beeren aber wartete das Rentier; sie tranken von seiner süßen Milch und fühlten sich neu gestärkt. Das Rentier brachte sie zu dem Finnenweib; dort aßen sie Stockfischsuppe und wärmten sich in der heißen Stube für die Weiterreise aus. Dann kamen sie zur Lappenfrau, die ihnen neue Kleider genäht
und den Schlitten in Ordnung gebracht hatte.

Und das Rentier sprang neben dem Schlitten her und begleitete sie noch bis zur Grenze des Landes; dort sprosste schon das erste Grün, und dort nahmen sie Abschied. „Lebt wohl!“ riefen sie alle, und die erste kleinen Vögel begannen zu zwitschern, der Wald hatte grüne Knospen, und aus
ihm kam ihnen ein prächtig geschmücktes Pferd entgegengesprengt;
Gerda erkannte es, denn es war das Pferd, das vor ihre goldene Kutsche gespannt gewesen war. Das wilde Räubermädchen saß darauf mit einer roten Mütze auf dem Kopf und Pistolen im Gürtel. Das Räubermädchen hatte es nämlich satt bekommen, mit seinen wilden Gefährten weiter im Wald zu hausen, und nun wollte es in die Welt hinausreiten, dorthin,
wo es am schönsten sei. Sie erkannte Gerda gleich, und Gerda erkannte sie – das war eine Freude! „Ach, da ist ja dein Kay, der kleine Ausreißer!“ sagte das Räubermädchen. „Ich möchte wohl wissen, ob du es verdienst, dass man deinetwegen bis ans Ende der Welt läuft!“
Gerda fragte nach dem Prinzen und der Prinzessin.
„Die sind nach fremden Ländern gereist“, sagte das Räubermädchen. „Und die Krähe?“ fragte Gerda. „Ja, die Krähe ist tot!“ antwortete das Räubermädchen. „Die zahme Krähenfrau ist Witwe geworden und trägt nun ein Stückchen schwarzen Wollfaden um das Bein; sie klagt jämmerlich! – Aber erzähl mir nun, wie es dir ergangen ist und wie du ihn gefunden hast.!“
Und Gerda und Kay erzählten beide.
„Schnipp-schnapp-schnurre, wenn ich einmal in die Stadt komme, dann besuche ich euch!“ rief das Räubermädchen noch zum Abschied,
und dann ritt es weiter, in die weite Welt hinaus.

Kay und Gerda gingen Hand in Hand, und es war schöner Frühling mit Blumen und Grün; die Kirchenglocken läuteten, und sie erkannten die hohen Türme der Stadt, in der sie wohnten, und sie gingen in die Stadt hinein und hin zu Großmutters Tür, und die Treppe hinauf, in die Stube hinein, und da stand alles noch am selben Ort wie früher; die Uhr sagte: „Tick! Tack!“ und der Zeiger drehte sich.
Die Rosen in der Dachrinne blühten zum offenen Fenster herein;
dort standen noch die kleinen Kinderstühle, und Kay und Gerda setzten sich hinein und hielten einander bei den Händen.
Die kalte, leere Herrlichkeit der Schneekönigin hatten sie beide wie einen schweren Traum vergessen.
Die alte Großmutter saß beim Fenster in der Sonne und las ihnen aus einem vergilbten Buch vor:
„Und werdet ihr nicht wie die Kinder, so werdet ihr das Reich Gottes
nicht schauen!“
„Ja, nun verstanden Kay und Gerda das alte Liedchen:

“ Rosen, sie blühn und verwehn,
Wir werden das Christkindlein sehn! „

Da saßen sie beide, erwachsen und doch in ihrem Herzen Kinder,
und es war Sommer, blühender, gesegneter Sommer.

Quelle: Hans Christian Andersen

 

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