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Die singende Meerminne

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Es war einmal eine Fischersfrau, die wohnte mit ihrem einzigen Töchterchen in einem kleinen Haus am Meeresufer.
Das Mädchen spielte nirgends lieber als am Strand, wo die Wellen Muscheln und Schnecken, bunte Steine und fremde Pflanzen im gelben Sand zurückließen. Ganz besonders gern ging das Kind an den Rand des Wassers und sprang mit beiden Füßen gleichzeitig über die Wellen, die vom Meer heranrollten.
Die Mutter, die Fischersfrau sah das nicht gerne. Sie konnte nicht vergessen, dass das Meer ihr einst – ein paar Jahre war es her – ihren Mann genommen hatte, und sie fürchtete, auch noch ihr einziges Kind zu verlieren.
”Geh nicht so nah ans Wasser, Kind! Du weißt, das Meer ist tückisch. Es hat deinen Vater verschlungen! Bleib weg von dem trügerischen Wasser!” – Jeden Morgen ermahnte sie so das Kind und flehte: ”Geh nicht weiter als bis zum Rand der Düne!”
Doch sie hatte nicht die Zeit, immerzu auf das Kind aufzupassen, und so geschah es, dass es an einem Mittag nicht zum Essen nach Hause kam. Die Mutter wartete, sie rief, dann lief sie los und suchte das Töchterchen überall. Sie lief meilenweit, sie lief durch die Dünen, sie befragte die Fischer – doch alles war vergebens.
Es wurde Abend, die Sonne versank hinter dem großen Meer, und die Frau kam allein zu ihrer Hütte zurück. Das Herz war ihr schwer.
Das Wasser stand hoch, die Wellen schlugen fast bis zum Rand der Düne.
Da vernahm die Fischersfrau plötzlich einen Gesang, einen wunderbaren Gesang. Was war das? Sie blieb stehen. Es kam vom Meer. Und dann sah sie eine Meerminne – ein Meerweibchen – mit langen offenen Haaren voller Wasserblumen, wie sie die Frau noch nie gesehen hatte. Die Meerminne stieg bis zu den Hüften aus dem Wasser empor und sang:
”Ein Dach aus Wasser, ein Palast aus Kristall,
Da spielen meine Liebchen all.
Fischer, wirf deine Netze aus heute,
Der Walfisch kommt und sucht nach Beute.
Ein Dach aus Wasser, ein Palast aus Kristall….”
Die Fischersfrau hörte das und sie verstand die Worte. ”Ein Dach aus Wasser, ein Palast aus Kristall, da spielen meine Liebchen all. – Wer sind diese Liebchen? Ob mein Kind, ob mein Töchterchen da wohl auch ist?”
Die Frau fiel auf die Knie und flehte die Meerminne an: ”Sagt mir, habt ihr irgendwo mein kleines Mädchen gesehen, das alle Tage im Sand spielte?”
”Natürlich weiß ich, wo das Mädchen ist. Es lebt gesund wie ein Fischchen in meinem Kristallpalast auf dem Grund des tiefen Wassers. Es ist vergnügt und spielt mit meinen anderen Lieblingen.”
Als die Mutter das hörte, begann sie noch lauter zu weinen und zu flehen: ”Bitte, gebt mir mein Kind zurück, meinen einzigen Schatz!” Und sie schluchzte herzerweichend.
”Ich kann deinen Schmerz verstehen, Fischersfrau, und ich habe wohl Mitleid mit dir. Doch die See darf keine Menschenseele, die sie einmal genommen hat, an die Erde zurückgeben. Was das Meer verschlungen hat, kann nicht lebend zurückkommen. Das einzige, was ich für dich tun kann: Ich kann dir erlauben, mit mir zu meinem Wasserschloss hinunterzukommen, dann kannst du dein Mädchen noch einmal sehen. Aber hast du auch den Mut, mir zu folgen, hundert Stunden weit über das Wasser, dort nach dem Horizont im Westen, und dann mit mir niederzutauchen, wo die See am tiefsten ist.?” – ”Ja, das getrau ich micht wohl. Ich bin bereit euch zu folgen.”
Da kam die Meerminne bis an den Rand der Düne und ließ die Fischerswitwe sich auf ihren Schuppenschwanz setzen. So fuhren sie über das Wasser dahin, schneller als das schnellste Schiff. Längst war es dunkle Nacht über der ganzen endlosen See, und noch immer fuhren sie weiter fort, weiter nach Westen.
Endlich sahen sie aus der Tiefe ein wunderhelles Licht aufscheinen. Die Meerminne hielt an.
”Hier ist es. Nun hole noch einmal tief Atem und fasse Mut. Wir steigen nun hinab!”
Und schon sanken sie in die Tiefe. Das ging noch viel schneller als die Seereise. In wenigen Augenblicken waren sie in dem herrlichsten Palast, von dem ein Mensch je träumen konnte. Er war so, wie die Meerminne gesungen hatte: Das Dach war von Wasser, die Mauern aus Kristall. Und ein himmliches goldenes Licht strahlte davon aus und leuchtete viele Stunden weit.
Die arme Mutter aber hatte keine Augen für all diese Pracht. Sie dachte nur an ihr Kind und sah sich überall danach um. Aber nein, da war keine Menschenseele zu sehen.
Nun brachte die Meerminne sie in einen großen Saal mit einem silbrigen Boden und führte sie an eine schöne gläserne Tür. Da hindurch erblickte sie in einem großen Saal Scharen von Kindern, Mädchen und Jungen, die fröhlich herumsprangen und spielten.
Hindurchgucken durfte die Mutter und schauen solange sie wollte; doch hineingehen war ihr verboten. Sie schaute und schaute und endlich erblickte sie ihr Töchterchen inmitten einer Gruppe lachender Mädchen. Es hatte Wangen so rot wie Winteräpfel und war ebenso fröhlich wie die anderen.
Nun war die Fischerswitwe überglücklich und sie bat die Meerminne. ”Bitte, lasst mich hier in deinem Schloss bleiben, dann bin ich wenigstens in der Nähe meines Töchterchens!”
Das wurde ihr erlaubt. Fortan konnte sie alle Tage durch die Glastür schauen, sooft und solange sie Lust hatte, und ihre Augen konnten nicht genug davon bekommen.
Jeden Tag fiel sie vor der Meerminne auf die Knie und bat und flehte: ”Ach, bitte, gebt mir mein Kind zurück! Lasst uns wieder nach Hause gehen! Ihr habt doch so viele andere Kinder!” Doch die Meerminne blieb bei dem, was sie gesagt hatte.
Schließlich aber wurde ihr Herz gerührt und sie sprach: ”Ich werde dir das Kind zurückgeben, aber erst noch musst du eine Bedingung erfüllen.”
”Sagt, was es ist! Alles, was in meinen Kräften steht, will ich gerne tun.”
”Du sollst mir einen Mantel aus deinen eigenen Haaren weben. Ich gebe dir hier ein Töpfchen mit Fett, das bewirkt, dass dein Haar wieder rasch und kräftig nachwachsen wird.”
Die Mutter begann sogleich zu arbeiten und zu weben, sie arbeitete Tag und Nacht, ohne sich auszuruhen. Doch als sie alle ihre Haare bis an die Wurzel abgeschnitten und verwebt hatte, da war der Mantel erst halb fertig.
Was sollte sie nun tun, weiterweben konnte sie nicht, sie hatte kein Haar mehr. Aber vielleicht gibt sich die Meerminne mit einem halben Mantel zufrieden? – Doch all ihr Flehen und Bitten half nichts. Die Meerminne hatt immer nur eine Antwort: ”Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe. Erst musst du mir den ganzen Mantel weben.”
Die arme Muttter ging zurück in ihre Kammer, schier verrückt vor Verzweiflung. Sie musste nun warten, warten bis ihr Haar wieder gewachsen war. Jeden Morgen und jeden Abend rieb sie es sorgfältig mit dem Fett ein, das die Meerminne ihr gegeben hatte, und immer wieder sah sie in den Spiegel. Waren die Haare schon lang genug gewachsen?
Endlich konnte sie weiterweben, dann musste sie wieder warten, dann konnte sie wieder weben und wieder warten. So ging das Jahr um Jahr – und dann endlich war der Wundermantel fertig bis zum letzten Saume. Die Fischersfrau sprang auf und eilte damit zur Meerminne. Die prüfte den Mantel sorgfältig. – Der Mutter klopfte das Herz, als wolle es die Brust sprengen. – Endlich sah die Meerminne auf und lobte die wunderbare Arbeit.
”Nun komm!” Sie führte die Mutter zu der gläsernen Tür, die wurde aufgetan und heraus trat das Töchterchen. Das war inzwischen zu einen großen schönen Mädchen herangewachsen und fiel der Mutter in die Arme. Die war so froh, so glückselig, das lässt sich nicht mit Worten beschreiben!
Nun ließ die Meerminne ein prächtige Kutsche kommen, spannte zwei Seepferdchen davor und fuhr die Mutter mit ihrem Kinde über das große Wasser zurück nach Hause.

(Märchen aus Flandern)

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