die See, um Fische zu fangen, während die junge Frau daheim die Wirtschaft versorgte und Netze strickte. Die Eheleute hatten sich sehr lieb und kannten keine
Sorgen, denn der Mann verdiente reichlich soviel, als sie bei ihren bescheidenen Ansprüchen gebrauchten. Dennoch fehlte ihnen eins zu ihrem vollständigen Glück.
Der Himmel hatte ihnen Kinder versagt, und sie hätten doch gar zu gern ein liebes Geschöpfchen gehabt. Eines Tages – es war im Frühjahr, das Eis war längst von den warmen Strahlen der Sonne gewichen, die Wiesenfläche vor dem Dörfchen wurde wieder von der See bespült und leuchtete im saftigsten Grün, die blauen Gottesaugen
und die Himmelschlüsselchen blühten lieblich in dem kleinen Vorgarten der jungen Fischersleute, kehrten die Störche und Schwalben aus den warmen Ländern
zurück, um ihre alten, trauten Nester aufzusuchen. Ein alter Storch, der auf seiner Reise flügellahm geworden war, trug ein reizendes Mägdlein im Schnabel, das sicher für eine Königin oder Prinzessin bestimmt war, so fein und lieblich sah es aus. Aber seine Kräfte reichten nicht aus, es bis ins Schloß zu tragen; mit großer Mühe hielt
er sich so lange, um nicht ins Meer zu stürzen, dann aber ließ er sich erschöpft niederund legte das Mägdlein unter die schattige Linde vor Nordfans Thür. Der Fischer war schon vor Tagesgrauen hinausgefahren auf das Meer, aber seine Frau erschien bald vor der Thür, um die Wege des Gärtchens zu harken. Sie hörte ein leises Weinen und erblickte das reizende Kindlein. Mit einem Freudenschrei nahm sie es in die Arme und preßte es an ihre Brust. Dann trug sie es ins Haus auf ihr Bett, holte das Kinderzeug, welches sie selbst einst getragen, und zog es dem Kinde an, tränkte und sättigte er mit frischer Milch, und als die Kleine dann eingeschlafen war, weidete sie sich eine Weile an dem Anblick des schlummernden Kindes, bewunderte seine schönen, feinen Züge, das rabenschwarze, seidenweiche Haar und die langen, dunklen Wimpern, welche wie Fransen über die zarten Wangen fielen. Dann eilte sie auf den Dachboden und holte die alte Familienwiege herab, in welcher schon Mutter und Großmutter den süßen Schlaf der Unschuld geschlafen, säuberte sie von Staub und Spinngeweben, bezog die dazu gehörigen Bettchen mit schneeweißen Linnen und bette das Mägdlein hinein, das nun wirklich wie eine Prinzessin dalag. Als die geschäftige Frau mit allem fertig war, eilte sie vor die Hausthür an die Wiege, um sich über ihres Herzens Liebling zu erfreuen. So trieb sie es stundenlang, aber der Mann wollte noch immer nicht heimkehren. Er hatte versprochen, dem Förster drüben auf der gegenüberliegenden kleinen Insel Lebensmittel zu bringen, und hielt sich dort länger auf, als er anfänglich beabsichtigte. Die Förstersleute hatten mit ihm gleiches Leid. Auch sie hatten keine Kinder und murrten oft deshalb, ja sie lebten lange nicht so glücklich und einig wie die jungen Fischersleute. Als Nordfan heute auf die auf die Insel kam, fand er den Förster in heller Aufregung. Der Förster war in aller Frühe in den Wald gegangen, um wilde Kaninchen zu schießen. Da war sein Hund plötzlich vor einem Gebüsch stehen geblieben und hatte sich winselnd und hülfeflehend umgesehen. Der Förster war hinzugeeilt und fand ein reizendes Knäblein friedlich schlummernd im Moose. Sanft hob er es auf und trug es glückstrahlend nach Hause zu seiner Frau. Mit dem ersehnten Kinde war Glück und Friede ins Försterhaus gezogen. Sie gelobten sich, es fromm und Gott wohlgefällig zu erziehen und ihm durch gegenseitige Liebe und Einigkeit ein gutes Beispiel zu geben, und damit sie stets an ihr Versprechen erinnert werden, nannten sie den kleinen „Friedow.“ Der Knabe mochte wohl etwas über ein Jahr alt sein; er war reich und vornehm gekleidet und trug an seinem Halse ein goldenes Kettchen mit einer Kapsel, darin war das Bild einer schönen jungen Frau. Jedenfalls war es Friedows Mutter, denn er glich ihr auffallend. Er hatte dasselbe Blonde Lockenhaar und ebenso große vergissmeinnichtblaue Augen. Entzückt betrachtete Norfan den reizenden Knaben und horchte verwundert auf den Bericht des Försters. Er fühlte einen leisen Schmerz beim Glück der Förstersleute, als er seiner eigenen kinderlosen Häuslichkeit gedachte, und bitter traurig, wie es sonst nicht seine Art war, begab er sich auf den Heimweg. Seine Frau kam ihm mit strahlendem Lächeln entgegen und schien sein bekümmertes Gesicht gar nicht zu sehen.
Er erzählte ihr in größter Hast von dem Glück drüben auf der kleinen Insel und von dem kleinen Friedow; sie aber hörte ihn kaum. „Sieh nur, sieh, was Gott uns beschert hat!“ – rief sie und zog ihn mit sich zu der Wiege des Kindes. Da war der Fischer wortlos vor Glück und Freude. Er sank an dem Bettchen in die Kniee und küßte die weiße Stirn und die zierlichen Hände der Kleinen. Leise rauschte das Meer, sanft bewegten sich und flüsterten die Blätter der alten Linde, unter deren Dach das Kind zuerst geruht hatte, und die Eltern nannten es „Meerlinde.“ Die beiden Findelkinder erblühten lieblich zu der Eltern Freude, welche seit dieser Zeit ein inniges Freundschaftsband verknüpfte.So oft das Wetter es zuließ, besuchten sie sich, und die Kinder gewannen sich so lieb, daß sie kaum noch ohne einander lebten mochten. Sehr früh schon lernte Friedow den kleinen Nachen führen und durfte Meerlinde spazieren fahren; doch nur bei günstigem Wetter und dem Ufer nahe, wo ihnen kein Unfall zustoßen konnte. Es war Sommer; die Linde vor Nordfans Thür stand in voller Blüte und sandte ihre süßen Düfte durch die offenen Fenster ins Fischerhäuschen. Meerlinde aber war an den Strand gelaufen und schaute sehnsüchtig hinaus über das Meer. Seit acht Tagen hatte es unaufhörlich gestürmt und geregnet, und sie ihren lieben Friedow nicht gesehen. Jetzt war es seit einer Stunde besser, das Gewitter und die mit ihm rabenschwarzen Wolken waren vorüber, und die untergehende Sonne überzog das Meer mit einem goldigen Schimmer. Würde Friedow wohl heute noch kommen? Wohl schwerlich. So spät hatten die Eltern in der Wirtschaft zu thun, und allein ließen sie ihn nicht so weit rudern. Und drüben auf der Insel, hoch auf dem Berge, stand Friedow und schaute sehnsüchtig über das Meer zu dem Fischerdörfchen. Seine blonden Locken flatterten im Winde, seine Wangen glühten und seine blauen Augen leuchteten wie Himmelssterne. „O, dürfte ich zu Dir hinüber, Meerlinde“, rief er, als müßte sie ihn hören, „aber der Vater hat’s verboten, ich darf allein nicht so weit fort.“ Da brach die scheidende Sonne noch einmal durch das dunkle, dichte Gewölk im Abend, und ihre glänzenden Strahlen legten sich gleich zu einer festen, goldenen Brücke von dem Fischerhäuschen nach der kleinen Insel. Entzückt schaute Friedow auf das herrliche Schauspiel und rief in kindlicher Einfalt: „Die lieben Engelein droben hörten meinen Wunsch und bauten mir eine goldene Brücke, Meerlinde, ich komme! Denn zu dir gehen haben mir die Eltern nicht verboten.“ Hastig lief er den Berg hinab an den Strand. Da entdeckte er zu seinem Kummer, daß ein ganzes Stück der Brücke bis zum Ufer fehlte. „Ach“, tröstete sich Friedow, „ein Stückchen zu fahren ist mir doch erlaubt.“ Er band seinen kleinen Nachen los und ruderte nach der Sonnenbrücke, aber wenn er sie erreicht zu haben glaubte, dann wich sie wieder ein Stück von ihm zurück. Auf diese Weise war er weiter hinausgekommen, als es ihm erlaubt war. Da erschien ihm die Brücke wieder ganz nahe, vor ihm tauchte eine schöne Frauengestalt in goldschimmernden Gewande empor. Sie winkte ihm lächelnd zu und reif mit süßer Stimme: „Springe getrost in meinen Arm, ich trage Dich auf die goldene Brücke.“ „Ich komme“, rief Friedow und sprang zu ihr hinüber. Fest umschlang sie ihn mit ihren kalten, nassen Armen und tauchte mit ihm hinab auf den Meeresgrund, in ihr kristallenes Schloß. In demselben Augenblick erschienen die Förstersleute droben auf dem Berge, sie suchten Friedow und sahen, wie die Wogen über ihm zusammenschlugen. Sie versuchten ihn zu retten, aber sie fanden keine Spur von ihm und kehrten, Verzweiflung im Herzen in ihr vereinsamtes Haus zurück. Und die Wellen rollten dem Ufer zu und erzählten einander von dem schönen, versunkenen Friedow und der falschen Nixe, die ihn auf die trügerische Brücke in den Grund gelockt. Und am Uferrand stand ein dunkeläugiges Mädchen und schaute sehnsuchtsvoll nach dem teuren Gespielen. Sie schaute sich die Augen müde, bis die Wellen zu ihr kamen und ihr die traurige Kunde brachten, daß er auf dem Wege zu ihr versunken sei. „O, Friedow“, rief sie in herzzerbrechendem Ton, „ich komme, ich werde dich finden und dich retten!“ Sie band einen Kahn los und ruderte, so lange ihre Kräfte ausreichten, dann ließ sie die Ruder sinken und beugte sich über den Rand des Kahns, Friedow zu suchen. Da tauchte vor ihr eine liebliche Frauengestalt in goldglänzendem Gewande aus den Wogen. Die hielt den schlafenden Friedow im Arm, und rief mit süßer, verlockender Stimme: „Lieb Mägdlein, komm, sieh, Friedow ist schon hier!“ „Ich komme!“ rief Meerlinde und sprang hinab. Und mit zwei Opfern tauchte die falsche Nixe hinab und brachte triumphierend ihre Beute dem Nixenkönig. Die armen, verlassenen Eltern waren nun einsamer denn zuvor. Sie blieben aber in inniger Freundschaft verbunden und trugen gemeinsam ihr herbes Leid. Wenn zuweilen abends die Strahlen der untergehenden Sonne sich gleich einer goldenen Brücke von dem Fischerdörfchen bis zur kleinen Insel über die See legten, und Fremde, welche dieselbe besuchten, andächtig die Hände falteten bei dem erhabenen Schauspiel, dann wandten die Förster = und Fischersleute sich schaudernd von der trügerischen Brücke und gedachten voll bitteren Schmerzes ihrer versunkenen Lieblinge, „Friedow und Meerlinde.“
Jahre schwanden dahin, – nur selten wurde von den verschwundenen Kindern gesprochen, aber in den Herzen der Eltern lebte ihr Andenken ungeschwächt fort. Da eines Tages, zeigte sich plötzlich auf dem Meere ein prächtiges Schiff mit buntem Wimpeln. Es steuerte direkt nach der kleinen Insel zu und warf dort Anker. Ein kleines zierliches Boot wurde herabgelassen; vier Herren in blitzenden Uniformen sprangen hinab und halfen einer schönen blonden Frau hinein. Alsdann ließen sich alle von zwei Bootsleuten nach der kleinen Insel rudern. Die Fischersleute waren gerade bei dem Förster zu Gaste, als sich plötzlich die Thür öffnete und eine fremde Dame mit ihrem Gefolge auf der Schwelle erschien. Ehrerbietig erhoben sie sich, um die Gäste zu begrüßen. „Vor achtzehn Jahre“, sagte die Dame, nachdem sie die freundliche Begrüßung erwidert, „trennte ich mich mit blutendem Herzen von meinem Sohn, um ihn vor sicherem Verderben zu retten. Ich legte ihn auf ,dieser Insel nieder, hoffend, ihr würdet Mitleid mit ihm haben, ihn an Kindesstatt annehmen und zu einem braven Menschen erziehen. Heute sind alle Gefahren für ihn beseitigt, seine Feinde tot, und ich komme, ihn von Euch zurückzufordern, damit er endlich die ihm zukommende Würden eines Königs empfange.“ Die Förtsers = und Fischersleute sahen sich sprachlos an. Thräne um Thräne rann über ihre erbleichten Wangen, und nur mit Mühe vermochten sie der armen Mutter von dem Verschwinden des Sohnes und von ihrer eigenen Verzweiflung zu erzählen. Die Königin war untröstlich, aufgelöst vor Schmerz. Wie lange hatte sie die Stunde ersehnt, den geliebten Sohn an ihr Herz zu drücken und ihn öffentlich anerkennen zu dürfen, und nun sollte sie ihn als tot beweinen. In stummer, namenloser Trauer verließ sie das Zimmer und eilte auf den Gipfel des Berges. Sie spähte hinaus auf das Meer, nach der Stelle wo Friedow einst versunken. So stand sie lange, lange mit gerungenen Händen und todestraurigen Augen. Da brach plötzlich wie durch ein Zauberwort die scheidende Sonne noch einmal durch das dunkle Gewölk, und ihre Strahlen legten sich wie damals gleich einer goldenen Brücke über das Wasser. „Da ist sie ja wieder, die schöne, aber trügerische Brücke“, riefen die Förstersleute, welche der Königin mit den übrigen auf der Insel Anwesenden gefolgt waren. Aller Augen waren entzückt von dem herrlichen Anblick und vermochten sich nicht davon abzuwenden.
Und siehe da. Plötzlich stieg inmitten der See auf der goldenen Brücke zwei Gestalten empor und schienen dem Ufer zuzuschweben. Ein hoher, schöner Jüngling mit blondem Lockenhaar und leuchtenden, blauen Augen und eine wunderschöne Jungfrau mit dunklen Samtaugen und rabenschwarzem Haar. Die atemlosen Zuschauer auf dem Berge sahen nicht, daß sie beide in einer prachtvollen Perlmuttermuschel standen, welche von unsichtbaren Händen gelenkt wurde. Endlich landeten sie, kamen in fliegender Hast den Berg hinan und stürzten zu den Füßen der Königin. Es waren Friedow und Meerlinde, welche nun den staunenden Zuhörern ihre wunderbaren Erlebnisse erzählten. Der Nixenkönig, gerührt von ihrer innigen kindlichen Liebe für einander, hatte sie bald zu seinen Lieblingen auserkoren und es ihnen an nichts fehlen lassen. Sie wären in der sie umgebenden Pracht ganz glücklich gewesen, wenn sie nicht die verzehrendste Sehnsucht nach den lieben Eltern empfunden hätten. Eines Tages, als sie wieder vom schrecklichsten Heimweh geplagt wurden, teilte ihnen der Nixenkönig mit, daß Friedow gar nicht der Sohn des Försters sei. Einst werde seine rechte Mutter, die eine Königin sei, kommen, um ihn aufzufordern, bis dahin solle er bei ihnen bleiben, denn er vermöge sich nicht eine Stunde eher von ihm zu trennen. Heute nun war er wieder bei ihnen erschienen und hatte gesagt: „Friedow, die Stunde des Abschieds ist gekommen. Soeben ist Deine Mutter bei der Insel gelandet, und Du darfst zu ihr zurückkehren.“ „Und Meerlinde?“ hatte Friedow ängstlich gefragt. „Sie wird bei mir bleiben, denn ich liebe sie“, erwiderte der Nixenkönig. „Dann gehe ich auch nicht“, erklärte Friedow und zog das weinende Mädchen an seine Brust. Das rührte den Nixenkönig dermaßen, daß er auch Meerlinde freigab und sie beide sicher ans Land setzen ließ. – Das junge Mädchen stand mit bang klopfendem Herzen als Friedow alles erzählte und dann hinzufügte: „Ich denke, was der Nixenkönig nicht vermochte, das wird auch meine liebe, gute Mutter nicht übers Herz bringen. Sie wird uns nicht trennen, sondern unsern Bund segnen, denn wir lieben uns und werde niemals einander verlassen.“ Dabei ergriff er Meerlindes Hand und führte sie zu der Königin. Diese schloß sie beide zärtlich in ihre Arme und freute sich, daß sie statt des einen lieben Kindes – zwei wiederfand. Nun gab es eine allgemeine, große Freude, und als das Schiff der Königin andern Tages die Anker lichtete da hatte es lauter glückliche Menschen an Bord, denn auch die Försters und Fischersleute fuhren mit, um der glänzenden Hochzeit ihrer lieben Kinder beizuwohnen, welche gleich nach ihrer Ankunft auf dem Königsschloß gefeiert wurde.
Märchen aus Preußen