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Märchenbasar

Die Suche nach dem Luftschloss

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Es war einmal ein kleines Wuschelmännchen mit kurzen Stempelbeinchen, giftgrünen, in alle Richtungen abstehenden Haaren und wachen, braunen Knopfäuglein, denen nicht einmal die winzigste Kleinigkeit entging. Das Wuschelmännchen lebte im Pistazienwald, in dem die Tannennadeln nach Pistazien schmeckten, der Fluss nach Waldmeister und der Waldsee nach Brauselimonade.
Eines Tages, als das kleine Wuschelmännchen wieder einmal genüsslich an einer Pistaziennadel knabberte, sah es Fußspuren im weichen Waldboden. Erzürnt sprang es auf und machte sich sofort auf die Suche nach dem Eindringling, der sich so frech in seinen Wald geschlichen hatte. Das Wuschelmännchen fand ihn am Brauselimonadesee, aus dem sich der Fremde gerade mit großen Schlucken bediente.
„He!“, rief das Wuschelmännchen wütend. „Was soll das? Erst spazierst du in meinen Wald, ohne dich vorzustellen und dann trinkst du auch noch aus meinem See, ohne mich vorher um Erlaubnis zu fragen!“
Zornig stemmte es seine Fäuste in die Hüften. Der Fremde zuckte zusammen und hörte auf zu trinken.
„Liebes Wuschelmännchen, bitte sei mir nicht böse, ich wollte dich ja fragen, aber ich konnte dich nicht finden! Und mein Durst war so groß, dass ich nicht widerstehen konnte. Bitte verzeih mir!“
Der Fremde sah so niedergeschlagen aus und machte einen so durstigen Eindruck, dass das Wuschelmännchen Mitleid mit ihm empfand.
„Gut, ich verzeihe dir. Du darfst weitertrinken. Aber vorgestellt hast du dich immer noch nicht, und warum du ausgerechnet in meinen Wald gekommen bist, weiß ich auch nicht!“
Das Wuschelmännchen setzte sich neben den Fremden und sah ihn auffordernd an.
„Nun, mein Name ist Hans Wolkenkuckucksheim, und ich bin auf der Suche nach dem sagenhaften Luftschloss!“
„Dem sagenhaften Luftschloss?“, fragte das Wuschelmännchen verwundert. „Was ist das?“
Hans rieb sich nachdenklich die Nase.
„Das weiß eigentlich niemand so genau. Einige sagen, das Schloss sitzt auf den Wolken, und seine Türme und Mauern bestehen aus glänzendem Gold. Andere meinen, das Schloss seien die Wolken selbst, die aus Juwelen bestehen und im Schein der aufgehenden Sonne prächtig funkeln und glitzern. Ich habe das Schloss selbst einmal gesehen, aber es ist nichts von alledem!“
„Nein?“, fragte das Wuschelmännchen neugierig. „Wie ist es denn dann?“
„Oh!“, seufzte Hans entzückt. „Ich sah es in der Wüste, und es war weiß wie Zucker und braun wie Schokolade, und in der Mitte stand ein Brunnen, aus dem lauter Karamell sprudelte! Aber als ich näher heranging, löste sich das Schloss in Luft auf.“
„Na, dafür heißt es ja auch Luftschloss, nicht?“, schloss das Wuschelmännchen messerscharf. „Aber was bringt denn so ein Luftschloss, wenn es sich in Luft auflöst?“
„Wenn man es schafft, das Schloss zu betreten, dann erfüllt es deinen innigsten Traum!“, antwortete Hans und bekam auf einmal einen ganz sehnsüchtigen Blick.
„Und was ist dein innigster Traum?“, fragte das Wuschelmännchen neugierig. Hans zuckte entsetzt zusammen.
„Das darf ich niemandem verraten! Mein Traum ist der Schlüssel zu dem Schloss, und wenn ich ihn verraten würde, könnte ich es nicht mehr betreten!“
„Ah, so ist das!“, meinte das Wuschelmännchen nachdenklich. Es dachte an seinen eigenen Traum. Ein Traum, der ihm so sehr am Herzen lag, dass es schon wehtat, auch nur ein bisschen an ihn zu denken, denn er würde sich wohl nie erfüllen. Es seufzte traurig und blickte wieder zu Hans. Aber Hans war vor Erschöpfung eingeschlafen und schnarchte selig vor sich hin. Das Wuschelmännchen aber konnte nicht schlafen, denn es musste immer wieder an das Luftschloss denken – und an seinen Traum.

„Wer bist denn du?“
Eine schrille, quiekende Stimme weckte das Wuschelmännchen unsanft aus seinem Traum, in dem viele leckere Pistaziennadeln und noch mehr Brauselimonade vorkamen. Es rieb sich verschlafen die Augen und versuchte den Quälgeist, der ihn geweckt hatte, anzuschauen.
Feuerrote, nach allen Richtungen abstehende Haare, eine große Knubbelnase, Warzen und riesige Glubschaugen, die direkt in seine blickten.
„AAAAAAAAAHHHHHHHHHHHHH!“, schrie das Wuschelmännchen erschrocken und kroch schnell rückwärts. Nur weg von diesem komischen Ding!
„Pfffffffft!“, schnaufte das Ding verächtlich. „Gerade von jemandem wie dir hätte ich erwartet, dass er weniger schreckhaft ist, wenn er einem hässlichen Wesen begegnet! Du bist schließlich auch kein Schönheitskönig! Außerdem hast du immer noch nicht meine Frage beantwortet!“
Das Wuschelmännchen versuchte sein wild klopfendes Herz zu beruhigen und stotterte: „I-i-ich b-b-bin d-das W-w-w-wuschelmännchen!“
„Aha! Und weiter?“
Das seltsame Wesen verschränkte abwartend seine knorzelig wirkenden Arme vor der Brust.
„Nichts weiter! Ich bin das Wuschelmännchen, das reicht doch als Antwort! Schließlich gibt es nur ein Wuschelmännchen auf der Welt, und das bin ich! Und wer bist du, der mich einfach so aus meinem Schlaf reißt?“
Das Wesen mit den feuerroten Haaren warf sich in Positur und antwortete stolz: „Ich bin die Feuerfee Myrina!“
Überrascht riss das Wuschelmännchen die Augen auf.
„Du? Eine Fee??? Sind Feen nicht hübsch?“
Myrina zog verärgert die Nase hoch.
„Nein, sind sie nicht. Nicht alle. Und das ist auch gut so. Wir können unsere Aufgaben wesentlich besser erledigen, wenn wir nicht immer von verliebten Männern behindert werden! Aber was machst du eigentlich in der Wüste?“, wechselte Myrina unvermittelt das Thema.
„Ich suche das Luftschloss! Weißt du, wo ich es finden kann?“
„Das Luftschloss? So etwas gibt es hier nicht. Hier sieht man nur öfter eine Fata Morgana.“
„Fata Morgana? Was ist das denn?“
„Nun, das ist eine Spiegelung der Luft. Jemand, der in der Wüste umherwandert, sieht zum Beispiel in der flimmernden Hitze eine Oase mit Wasser. Aber sie verschwindet wieder, sobald man sich nähert.“
„Dann war das Luftschloss, das Hans gesehen hat, eine Fata Morgana!“, sagte das Wuschelmännchen enttäuscht. „Ich werde wohl woanders suchen müssen.“
„Dann begleite ich dich! Hier findest du dich allein doch sowieso nicht zurecht!“
Das Wuschelmännchen wollte protestieren, überlegte es sich aber doch anders. Die Fee hatte Recht.
So kam es, dass sie gemeinsam loszogen.
Nach ein paar Tagen erreichten das Wuschelmännchen und Myrina eine kleine Stadt.
„Hier kommen viele Händler vorbei, hier kannst du nach deinem Luftschloss fragen. Ich besorge uns inzwischen etwas zu essen!“, sagte die Fee und verschwand in der Menge. Etwas ratlos schaute sich das Wuschelmännchen um und ging dann zu dem erstbesten Händler, den es entdecken konnte. Dieser Händler bot sehr viele, sehr seltsame Pflanzen an, die das Wuschelmännchen noch nie gesehen hatte. Eine stachelige gefiel ihm besonders gut.
„Was ist das?“, fragte es und zeigte auf die Stachelfrucht.
„Das ist ein Stechapfel, mein Freund.“
„Aha. Kann man den essen?“
Der Händler blinzelte verschwörerisch und sagte: „Ja. Wenn du sie isst, geschehen die wunderbarsten Dinge! Du kommst ins Paradies und wirst von wunderschönen Frauen bedient, die dir Milch und Honig bringen. Du wirst in einem schönen Schloss wohnen, und…“
„Ein Schloss?“, fragte das Wuschelmännchen aufhorchend.
„Ja, ein Schloss!“, schwärmte der Händler. „Das Schloss besteht aus Diamanten, Rubinen und Smaragden und steht hoch oben auf den sonnenbeglänzten Wolken…“
„Ich nehme einen Stechapfel!“, sagte das Wuschelmännchen sofort. „Im Tausch gebe ich dir Pistaziennadeln von allerbester Qualität! Hier!“
Es streckte dem Händler auffordernd die Nadeln entgegen. Der Händler nahm sie und kostete.
„Wunderbarer Geschmack! Und so exotisch! Hier hast du den Stechapfel!“
Freudig erregt nahm das Wuschelmännchen die Frucht entgegen und lief in eine Seitengasse, um sie in Ruhe zu verzehren. Nach dem ersten Bissen bemerkte es, wie sich seine Umgebung veränderte. Aber statt eines schönen Schlosses tauchte eine düstere, von einem Furcht erregenden Gewitter umtoste Burgruine auf. Und aus der Burgruine quollen tausende von Skeletten, die direkt auf das Wuschelmännchen zustapften. Das Wuschelmännchen riss vor Schrecken die Augen auf und fing an zu schreien. Da wurde es von hinten gepackt und zu Boden gezerrt. Verzweifelt trat und schlug es um sich.
„Aua!!! Spinnst du? Du hast mir gerade die Nase gebrochen!“, quiekte eine wohlbekannte schrille Stimme vorwurfsvoll.
Die Fee! Sie kam, um es zu retten!
„Da! Da!! Sieh nur, sie kommen auf uns zu!“, schrie das Wuschelmännchen panisch und zeigte auf die schrecklichen Gestalten.
„Beruhige dich! Da kommt niemand auf uns zu! Hörst du? Niemand!“
Die Fee hielt das Wuschelmännchen beruhigend im Arm.
Da entdeckte sie den angebissenen Stechapfel.
„Du hast doch nicht etwa DAVON gegessen? Wie konntest du nur? Das Zeug ist giftig!“
Das Wuschelmännchen brabbelte unverständliche Dinge und schaute immer noch entsetzt drein. Myrina seufzte, schnippte mit den Fingern, und der Stechapfel fing an zu brennen. Zur gleichen Zeit ging auch der Stand des Händlers in Flammen auf.
„Heiß! Heiß! Heiß!!!“
Das Wuschelmännchen sprang vor Schmerzen im Kreis herum, denn der Bissen Stechapfel, den es geschluckt hatte, brannte in seinem Innern ganz fürchterlich. Aber schließlich war es vorbei, und das Wuschelmännchen sank erschöpft zu Boden.
„Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein!“, mahnte die Fee streng. „Das nächste Mal fragst du mich, bevor du wieder etwas Dummes anstellst!“
Das Wuschelmännchen nickte schwach und schwor sich, das nächste Mal besser aufzupassen.

Am nächsten Morgen sah die Sache allerdings schon ganz anders aus. Das Wuschelmännchen ärgerte sich nämlich über die hochnäsige Art, mit der die Fee es behandelt hatte.
„Was denkt sie sich eigentlich, wer sie ist? Meine Mutter?“
Wütend stampfte es mit dem Fuß auf.
„Ich kann allein auf mich aufpassen! Ab jetzt reise ich ohne sie weiter! So jemanden brauche ich nicht!“
Trotzig griff es nach seinen Habseligkeiten und machte sich auf zur nächsten Stadt.

„Ein Luftschloss? Ja, hier gibt es eine Frau, die ganz tolle Luftschlösser bauen kann!“, sagte der kleine Junge, den das Wuschelmännchen auf seinem Weg getroffen hatte. „Sie heißt Nikotina und wohnt gleich dahinten!“
Der Junge deutete auf ein Haus, das inmitten des Dorfzentrums stand und sich von den kunterbunten Häusern um es herum durch seine graue Farbe abhob.
„Vielen Dank!“, sagte das Wuschelmännchen und ging auf das graue Haus zu. Als es näher kam, sah es dicke, rußige Rauchschwaden aus dem Haus quellen, die sich langsam weiter ausbreiteten.
„Feuer!“, rief es erschrocken, eilte zum in der Mitte des Dorfplatzes stehenden Brunnen und schöpfte hastig Wasser. Als es das Wasser durch das offene Fenster schütten wollte, ertönte aus dem Hausinnern eine raue, vorwurfsvolle Stimme.
„Willst du mich ertränken?“
Das Wuschelmännchen hielt verwirrt inne.
„Ertränken? Aber nein! Ich will euch doch vor dem Feuer retten!“
„Dummer Junge! Stell das Wasser ab und komm herein!“
Das Wuschelmännchen runzelte die Stirn, tat aber, wie ihm geheißen. Als es das Haus betrat, blieb ihm vor lauter Rauch die Luft weg. Der Rauch quoll in dicken, öligen Schwaden durch den Raum und aus dem Fenster.
„Also, was willst du von mir?“, fragte Nikotina ungeduldig.
„Ich *hust* ich suche *husthust* das Luftschloss!“, quetschte das Wuschelmännchen mühsam heraus.
„Das Luftschloss? Es gibt nicht nur ein Luftschloss!“, antwortete Nikotina und zog an einer riesigen Zigarette. Ein Schwall schwarzgrauer, stinkender Qualm quoll aus ihrem Mund und setzte sich nach und nach zu einem Schloss mit dicken Mauern und winzigen Fenstern zusammen. Das Schloss waberte auf das Wuschelmännchen zu und hüllte es ein. Es holte verzweifelt Luft, atmete aber nur dicken Rauch ein.
„Oder lieber das?“
Ein neuer Schwall Rauch quoll aus Nikotinas Mund und nahm die Form eines filigranen, luftigen Schlosses mit vielen Schnörkeln und Verzierungen an. Auch dieses Schloss trieb auf das Wuschelmännchen zu und hüllte es ein. Sein Gesicht wurde so grün wie seine Haare, denn das letzte bisschen Luft, das noch in seinen Lungen war, wurde durch den neuen Qualm hinausgetrieben. Nein, das war gewiss nicht das, was das Wuschelmännchen suchte! Mit letzter Kraft schleppte es sich zur Tür, gefolgt vom hämischen Gelächter der Frau.
Draußen hustete es den ganzen Qualm aus sich heraus und atmete dann tief die frische Luft ein, die ihm wie ein Geschenk des Himmels vorkam. Traurig dachte es, dass es wohl nie das Luftschloss finden würde und entschloss sich, sich auf den Heimweg zu machen.
Einen Tag später erreichte es ein kleines Dorf, in dem geschäftiges Treiben herrschte. Neugierig fragte das Wuschelmännchen eine Frau, was denn los sei.
„Wir errichten ein Haus für meine Tochter! Sie hat gerade geheiratet und möchte mit ihrem Mann eine Familie gründen“, antwortete die Frau und eilte weiter. Ein Haus? Eine Familie? Da war es wieder, das schmerzhafte Gefühl in seiner Brust. Wie magisch angezogen folgte das Wuschelmännchen der Frau zu dem schon halbfertigen Haus.
„Sag mal, bist du nicht der, der das Luftschloss sucht?“ fragte plötzlich eine Stimme neben ihm.
Verwundert drehte sich das Wuschelmännchen um und erblickte einen uralten Mann mit einem Ziegelstein in der Hand. „Ja, der bin ich!“ antwortete es.
Der alte Mann lächelte. „Dann gebe ich dir dies! Es ist der erste Stein zu deinem Schloss!“ Er hielt dem Wuschelmännchen den Ziegelstein auffordernd entgegen.
Zögernd nahm das Wuschelmännchen den Stein. Und als es den Ziegel in der Hand hielt, stand ihm sein innigster Wunsch klar vor Augen, ohne dass es schmerzte, an ihn zu denken. Nicht mehr allein sein. Eine Familie gründen.
Dafür würde er ein Haus bauen, eines, das man in seinen Grundfesten nicht erschüttern konnte. Kein Schloss aus Luft, aus Gedanken, aus Rauch, sondern ein festes, eines, das Sicherheit und Beständigkeit bot.
Entschlossen packte es den Ziegelstein, bedankte sich bei dem alten Mann und machte sich auf die Suche nach seiner Feuerelfe.

Ein paar Jahre später sah man mitten im Pistazienwald ein kleines Häuschen aus festem Stein. Um das Häuschen herum tollten lachend ein kleiner, knopfäugiger, rothaariger Junge und ein kleines, großäugiges, grünhaariges Mädchen, die sich vergnügt mit Pistaziennadeln bewarfen. Im Haus ertönte eine schrille Stimme, die vorwurfsvoll rief: „Wuschelmännchen, du Faulpelz, wo bleibt die Brauselimonade? Ich warte schon eine halbe Ewigkeit!“

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

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