Es war einmal ein Königssohn, der ritt eines Tages aus zur Jagd. Auf einer weiten, schier endlosen Wiese gelangte er an einen langen tiefen Graben. Er hielt sein Pferd an und sah, daß er an dieser Stelle den Graben nicht überwinden konnte. Gerade als er umkehren wollte, hörte er unten im Graben jemand wimmern. Er steig vom Pferd und begann zu suchen. Da fand er eine alte hilflose Frau, die ihn bat, er möge ihr aus dem Graben helfen. Der Königssohn stieg in den tiefen Graben hinab und hob die Alte heraus.
„Wie seid Ihr bloß in den tiefen Graben hineingeraten?“ fragte der Königssohn.
„Ach, Gott“, sagte die Alte, „ich bin eine sehr arme Frau und brach gleich nach Mitternacht von zu Hause auf, um in der Stadt Eier zu verkaufen. Im Dunklen verfehlte ich den Weg und fiel in diesen tiefen Graben. Allein konnte ich mir nicht helfen. Gott segne Eure Herrlichkeit!“
Da sagte der Königssohn voller Mitleid: „Ihr könnt ja kaum gehen! Ich setze Euch auf mein Pferd und führe Euch nach Hause. Wo wohnt Ihr denn?“
„In jener kleinen Hütte, dort am Rande des Waldes!“
Der Königssohn hob die Alte auf sein Pferd und führte sie zu ihrer Behausung. Die Alte stieg vor ihrer Hütte ab und sagte zum Königssohn: „Wartet noch ein wenig! Ich will Euch etwas geben!“ Und sie ging in die Hütte hinein, kehrte aber bald zurück und sprach zum Königssohn: „Du bist ein großer Herr und hast doch ein gutes Herz, das wohl wert ist, belohnt zu werden. Willst du das schönste Mädchen der Welt zur Gattin haben?“
„Ja“, antwortete der Königssohn.
„Das schönste Mädchen der Welt ist die Tochter der Blumenkönigin, die ein Drache gefangenhält. Du mußt sie aus der Gefangenschaft befreien, wenn du sie zur Gattin haben willst. Dabei will ich dir helfen. Hier nimm dieses Glöcklein; wenn du einmal damit läutest, so erscheint der Adlerkönig; wenn du zweimal läutest, so kommt der Fuchskönig, und wenn du dreimal läutest, der Fischkönig. Diese drei werden dir in der Not beistehen. Jetzt lebe wohl. Gott segne deine Fahrt!“
Mit diesen Worten übergab ihm die Alte das Glöcklein und verschwand mitsamt der Hütte. Es war, als hätte sie der Erdboden verschlungen. Nun wußte der Königssohn, daß er mit einer guten alten Fee gesprochen hatte. Er verwahrte das Glöcklein wohl, ritt heim und sagte seinem Vater, daß er die Tochter der Blumenkönigin freien wolle. Am anderen Tag schon wolle er in die Welt reisen, um das wunderschöne Mädchen zu suchen. Der Königssohn sattelte also am nächsten Morgen sein edles Pferd und verließ seine Heimat.
Lange zog er durch die Welt, sein Pferd starb, er litt Mangel und Not. Nach gut einem Jahr ruhelosen Wanderns erreichte er eines Tages eine Hütte, vor der ein uralter Greis saß. Der Königssohn fragte ihn: „Weißt du vielleicht, wo der Drache wohnt, der die Tochter der Blumenkönigin gefangenhält?“
„Das weiß ich nicht“, antwortete der Greis, „aber wenn du ein Jahr lang diesen Weg gerade weitergehst, dann wirst du die Hütte meines Vaters erreichen. Vielleicht wird der es dir sagen können.“
Der Königssohn bedankte sich für diesen Rat, ging nun ein ganzes Jahr den Weg gerade weiter und erreichte dann eine Hütte, vor der ein uralter Greis saß. „Weißt du vielleicht, wo der Drache wohnt, der die Tochter der Blumenkönigin gefangen hält?“
„Das weiß ich nicht?“ antwortete der Greis, „aber wenn du ein Jahr lang diesen Weg gerade weitergehst, so wirst du eine Hütte erreichen, in der mein Vater wohnt, und der wird es dir schon sagen.“
Der Königssohn bedankte sich und wanderte ein weiteres Jahr denselben Weg entlang, bis er die Hütte erreichte, vor der ein uralter Greis saß, dem er seine Frage vorlegte. Der Greis gab zur Antwort: „Der Drache wohnt dort droben auf dem Berg und hält eben seinen Jahresschlaf. Ein Jahr lang schläft er, ein Jahr lang wacht er. Gestern hat er wieder seinen Jahresschlaf begonnen. Wenn du die Tochter der Blumenkönigin sehen willst, so gehe auf den zweiten Berg; dort wohnt die alte Drachenmutter; du mußt wissen, jeden Abend geht die Tochter der Blumenkönigin zu der Drachenmutter auf den Ball.“
Der Königssohn machte sich auf den Weg zum zweiten Berg. Dort erblickte er ein goldenes Schloß mit diamantenen Fenstern. Als er gerade durch das Tor in den Hofraum treten wollte, stürmten sieben Drachen auf ihn los und fragten ihn: „Was suchst du hier?“ „Ich habe von der großen Schönheit und der Güte der Drachenmutter vernommen“, antwortete der Königssohn, „ich möchte gerne bei ihr in Dienst treten.“
Den Drachen gefiel diese schmeichelhafte Rede.
„Komm, ich führe dich zur Drachenmutter“, sprach der älteste von ihnen. Sie traten in das Haus und durchschritten zwölf prächtige Säle, die alle aus Gold und Diamanten gebaut waren. Im zwölften Saale saß die Drachenmutter auf einem Diamantenthron. Sie hatte drei Köpfe und war das häßlichste Weib, das die Sonne je beschienen hat. Der Königssohn erschrak gewaltig vor dieser ihrer abgrundtiefen Häßlichkeit, vor allem aber, als sie ihn mit einer Stimme, die dem Krächzen von siebzig Raben glich, fragte: „Warum bist du hierher gekommen?“
Der Königssohn antwortete: „Ich habe von deiner großen Schönheit und Güte gehört und möchte gern bei dir in den Dienst treten.“
„So?“ krächzte die Drachenmutter. „Wenn du mein Diener werden willst, so mußt du zuerst meine Stute drei Tage hindurch auf die Weide führen und hüten. Wehe dir, wenn du sie auch nur einmal nicht heimbringst! Dann fressen wir dich auf!“
Der Königssohn versprach, gut auf die Stute zu achten, ging und führte das kostbare Tier auf die Weide. Kaum aber war er auf der Wiese angelangt, da war die Stute auch schon verschwunden. Überall suchte er, alles war vergebens, nirgends fand er sie. Als er sich auf einen Stein niedersetzte, um über sein trauriges Los nachzudenken, sah er einen Adler in weiter Ferne fliegen. Da fiel ihm sein Glöcklein ein. Er holte es aus der Tasche und läutete einmal damit. Gleich darauf erschien in der Luft der Adlerkönig und ließ sich vor ihm nieder.
„Ich weiß, was du von mir willst“, sprach der Adlerkönig, „du suchst die Stute der Drachenmutter. Sie treibt sich oben in den Wolken herum. Ich werde alle Adler aussenden, damit sie die Stute wieder einfangen und dir herbringen.“
Der Adlerkönig sprach’s und flog von dannen. Gegen Abend war’s, da hörte der Königssohn ein gewaltiges Rauschen in der Luft. Er blickte zum Himmel und sah, wie viele tausend Adler die Stute heranbrachten. Die Adlerschar ließ sich vor ihm nieder und übergab ihm das Pferd. Hierauf ritt der Königssohn heim zur Drachenmutter. Voller Verwunderung sprach diese zu ihm: „Heute darfst du am Ball teilnehmen, als Lohn dafür, daß es dir gelungen ist, die Stute tatsächlich das erste Mal heimzuführen.“ Sie gab ihm einen kupfernen Mantel und führte ihn in einen Saal, in dem viele Drachenfräulein und Drachenjünglinge aßen, tranken und tanzten. Dort sah er nach langen Jahren des Suchens nun endlich die wunderschöne Tochter der Blumenkönigin. Aus den schönsten Blumen der Welt waren ihre Kleider gewebt. Und wenn sie lachte, so lachten sie Rosen und Jasmin. Als der Königssohn einmal mit ihr tanzen durfte, flüsterte er ihr ins Ohr: „Ich bin gekommen, dich zu befreien!“
Die wunderschöne Jungfrau sagte daraufhin leise zu ihm: „Wenn es dir gelingt, die Stute auch am dritten Tage heimzuführen, so erbitte von der Drachenmutter ein Füllen von dieser Stute.“
Um Mitternacht endete der Ball. Am nächsten Morgen führt der Königssohn die Stute der Drachenmutter wieder auf die Weide. Und wieder entschwand sie vor seinen Augen. Da nahm er sein Glöcklein aus der Tasche und läutete zweimal. Und siehe, der Fuchskönig erschien und sprach: „Dein Begehr ist mir schon bekannt. Die Stute hat sich in einem Berge versteckt. Ich werde gleich alle Füchse aufbieten, damit sie die Stute zu dir herbeiführen.“
Sprach’s und verschwand. Gegen Abend war es, da brachten viele tausend Füchse die Stute heran. Der Königssohn ritt daraufhin heim zur Drachenmutter. Sie gab ihm zum Lohne einen silbernen Mantel und erlaubte ihm, am Ball teilzunehmen. Als die Tochter der Blumenkönigin den Königssohn wiedersah, freute sie sich gar sehr. Und beim Tanz flüsterte sie ihm zu: „Wenn es dir auch morgen gelingt, die Stute heimzuführen, so erwarte mich mit dem Füllen dort unten auf der Wiese. Nach dem Ball fliehen wir beide dann auf und davon.“
Der Königssohn führte auch am dritten Tag die Stute wieder auf die Weide, aber wiederum verschwand sie. Da holte der Königssohn das Glöcklein hervor und läutete damit dreimal. Und siehe, der Fischkönig erschien und sprach: „Ich weiß schon, was du willst! Ich werde alle Fische aufbieten, damit sie die Stute zu dir herführen.“
Gegen abend erschienen die Fische mit der Stute. Der Königssohn brachte sie heim zur Drachenmutter. Diese sprach zu ihm: „Du bis ein braver Junge. Du sollst mein Leibdiener werden. Was möchtest du als ersten Lohn gerne haben, du kannst dir etwas wünschen!“
Der Königssohn erbat sich ein Füllen der Stute, die er dreimal nach Hause gebracht hatte. Die Drachenmutter hatte sich in den Jüngling verliebt, weil er ihre Schönheit gelobt hatte, Daher gab sie ihm nicht nur das Füllen, sondern auch noch einen goldenen Mangel obendrein. In diesem goldenen Mantel erschien er abends zum Ball. Bevor aber das Fest zu Ende ging, schlicht er sich in den Stall, setzte sich auf sein Füllen und ritt hinaus auf die Wiese, um die Tochter der Blumenkönigin zu erwarten. Gegen Mitternacht erschien das wunderschöne Mädchen, der Königssohn hob sie schnell vor sich auf das Pferd und in Windeseile ging es dem Palast der Blumenkönigin zu. Glücklich erreichten sie dieses Ziel. Da aber hatten die Drachen die Flucht auch schon bemerkt und weckten ihren Bruder aus dem Jahresschlafe. Mit Gebrüll rückten sie nun an und rüsteten sich zum Sturm auf den Palast der Blumenkönigin. Diese aber ließ sogleich einen himmelhohen Wald ringsum emporwachsen, den kein lebendes Wesen durchdringen konnte. Die Drachen mußten abziehen, ohne etwas zu ausrichten zu können.
Als die Blumenkönigin nun hörte, daß ihre Tochter die Gattin eines Königssohns werden wollte, sprach sie zu den beiden: „Gerne gebe ich meinen Segen zu Eurer Heirat. Aber nur im Sommer darf meine Tochter bei dir weilen; wenn Schnee die Erde bedeckt und alles tot ist, muß sie zu mir unter die Erde kommen und im Palast wohnen, damit ich nicht einsam und trostlos die Wintermonate zubringen muß.“
Der Königssohn gab dieses Versprechen ab und führte seine wunderschöne Braut heim. Eine große Hochzeit wurde gehalten. Das junge Paar lebte glücklich und in Freuden, bis der Winter kam. Dann nahm die Tochter der Blumenkönigin Abschied und zog heim zu ihrer Mutter. Im Sommer kehrte sie wieder zu ihrem Gatten zurück und blieb dann bei ihm bis zum Eintritt des Winters. Dies wiederholte sich jedes Jahr in ihrem Leben, aber sie lebten trotzdem stets glücklich miteinander.
Quelle:
(Armenisches Märchen)