Die Königsgeier pflegten an einen See zu kommen. Dort legten sie ihre Federkleider ab und badeten in der Gestalt junger Mädchen. Da war ein Mann, der schon anfing alt zu werden, und der kein Weib besaß. Als er die Mädchen in dem See baden sah, dachte er, wie er sich eins davon als seine Gefährtin einfangen könnte. Er baute eine Jagdhütte am Ufer, ging hinein und wartete. Die Geiermädchen kamen und legten ihre Federkleider ab, und das eine ließ sein Kleid dicht bei der Jagdhütte. Da sprang der Mann hervor und ergriff das Federkleid. Die anderen Geiermädchen liefen rasch nach ihren Federn, legten sie an und flogen auf; nur das Mädchen, dessen Kleid der Mann ergriffen hatte, blieb stehen und bat: »Gib mir nun auch meine Federn; meine Gefährtinnen sind schon fort, und ich will auch weiterfliegen!« – »Nein,« antwortete der Mann, »dein Federkleid bekommst du nicht mehr!« – Dann sahen sie sich gegenseitig an und fanden Gefallen aneinander. Der Mann nahm das Geiermädchen mit in seine Hütte und verwahrte das Federkleid in einem Korbe.
Er gab ihr andere Kleidung und heiratete sie. Sie gewöhnten sich aneinander und hatten einen Sohn, der aufwuchs und groß wurde.
Eines Tages schlug die Frau ihrem Manne vor, ihren Vater zu besuchen. Der alte Königsgeier aber wohnte jenseits des Himmels. – »Wie sollte ich wohl dorthin kommen; ich habe doch keine Flügel!?« sprach der Mann; seine Frau aber versprach, die Sache zu besorgen. Sie brachte Janiparana-Blätter und band sie ihrem Mann und ihrem Sohn an die Arme. Dann fächelte sie die beiden mit ihrem Federhemd an, und die Arme wurden zu Flügeln, die Blätter zu Federn. – »Nun laßt uns den Flug versuchen!« sprach sie. Der Sohn versuchte es zuerst. Er flog auf und setzte sich ein Stück weiter auf einen Baum. Dann versuchte es auch der Vater, aber er fiel sofort zu Boden. – »Ich werde dir helfen, daß du trotzdem mitkommen kannst,« tröstete ihn seine Frau. Sie flog nun unter ihm hin und unterstützte ihn, wenn er zu fallen drohte. So stiegen sie auf. Der Sohn flog sofort zur Himmelstür und setzte sich dort nieder. Nach einiger Zeit kamen auch seine Eltern an; der Mann war jedoch vollständig ermattet. Sie gingen in den Himmel hinein. Dort ist es gerade so wie hier unten. Die Geier wohnen dort; sie legen dort aber ihre Federkleider ab und haben Menschengestalt.
Die Familie ging nun im Himmel weiter ihres Weges und kam an das Haus der Sonne. Diese sah aus wie ein Mann mit einem Lippenpflock und einer leuchtenden Federkrone auf dem Kopfe. Man konnte ihm nicht nahe kommen, so heiß war er. Sie begrüßten ihn, und er fragte: »Wo wollt ihr hin?« – »Wir gehen, meinen Vater zu besuchen,« antwortete die Frau. Darauf kamen sie zum Hause des Mondes; der hatte einen ganz kahlen Schädel. Hierauf gelangten sie an die Wohnung des Windes, der nicht zu Hause war. Sie traten ein und warteten. Plötzlich begann ein heftiger Sturm zu wehen. »Da kommt der Wind!« sprach die Frau, und dann trat er ein, bärtig, seinen Kopfschmuck in der erhobenen Hand. Als er eintrat, setzte er seinen Kopfschmuck auf, und sofort legte sich der Sturm. Sie grüßten ihn, und er fragte, wohin sie gingen. – »Zu meinem Vater,« antwortete die Frau.
Schließlich kamen sie an das Haus des alten Königsgeiers. Die Frau ließ nun ihren Gatten zurück, um ihren Vater zuerst von seiner Ankunft zu benachrichtigen und zu sehen, ob er ihn empfangen wolle. Sie ging deshalb zuerst nur mit ihrem Sohn zu dem Alten hinein und begrüßte ihn. Der Alte fragte, wer der Vater des Knaben sei, worauf ihm die Frau die Geschichte ihrer Heirat erzählte. Darauf ließ der alte Königsgeier ihren Gatten rufen, empfing ihn und gab der Familie ein Unterkommen. Er war jedoch höchst erbost über seinen Schwiegersohn und sann auf einen Vorwand, ihn umzubringen.
Am folgenden Morgen ließ er dem Manne durch dessen Frau den Befehl überbringen, er solle einen großen Einbaum anfertigen, und zwar solle das Werk unbedingt noch am gleichen Tage fertig sein. Der Mann, welcher nichts vom Bootbau verstand, ging traurig in den Wald und dachte vergebens nach, wie er sich seiner Aufgabe erledigen könne. Schließlich fällte er einen Baum und begann langsam ihn zu behauen: tok-tok-tok. Da kam der Specht und setzte sich bei ihm nieder. Er war der Häuptling aller Spechte, und er fragte ihn: »Was tust du da?« – Der Mann erzählte ihm seine bedrängte Lage, und der Spechthäuptling antwortete: »Wir wollen dir helfen! Laß mich meine Leute zusammenrufen!« – Dann flog er fort und kam mit einem gewaltigen Schwarm von Spechten zurück. Den Falken hieß er auf der Spitze eines Baumes Wache halten, daß der Alte sie nicht überrasche. Die Spechte machten sich dann mit Eifer an die Arbeit des Bootbaues. Sie waren damit auch fast fertig, als der Falke seinen Alarmruf erschallen ließ: »Kja-kja-kja!« Die Spechte flogen im Nu davon. Der Alte kam und setzte sich bei seinem Schwiegersohn nieder, indem er fragte, wie die Arbeit gehe. – »Ich bin schon fast damit fertig,« antwortete dieser. Da stand der Alte nach einer Weile wieder auf und ging. Sofort kam der Spechthäuptling wieder und fragte: »Ist er schon fort?« – »Ja.« – Da rief er seine Leute hervor, und als es Abend wurde, war das Boot fertig. Nun gingen alle. Der Mann erzählte seiner Frau, daß das Boot fertig sei, und am folgenden Tage brachten sie es ins Wasser.
Eines Tages hatte der Alte Hunger. Er ließ seinem Schwiegersohn befehlen, er solle noch heute den Fluß absperren, das Wasser ausschöpfen und ihm »Trahira-Fische« bringen. Mit den »Trahiras« aber meinte er Alligatoren. Der Mann ging und sperrte den Fluß ab, aber er dachte vergebens nach, wie er das viele Wasser noch heute ausschöpfen solle. Schließlich nahm er ein hohles Stück Baumrinde und begann damit traurig sein Werk. Da kam der Tatina, welcher der Häuptling aller Libellen war, und fragte ihn, was er da tue. Er erzählte ihm, was ihm sein Schwiegervater befohlen hatte, und der Tatina versprach, ihm mit seinen Leuten zu Hilfe zu kommen. Er rief einen großen Schwarm Libellen von allen Farben. Diese setzten sich der Reihe nach an die Sperre und begannen das Wasser mit den Beinen herauszuwerfen. Sie arbeiteten so schnell, daß in kurzer Zeit das Flußbett trocken war. Den Falken brauchten sie diesmal gar nicht als Wächter, weil der alte Königsgeier, gewiß, daß sein Befehl vollzogen würde, doch nicht kam. Nun hieß der Tatina den Mann, die Trahiras zu töten, und es waren ihrer so viele, daß er sämtliche Körbe, die er mitgebracht hatte, damit anfüllte. Er trug die Fische heim und ließ seinem Schwiegervater sagen, daß er seine Arbeit getan habe.
Der Alte, welcher glaubte, daß der Mann ihm Alligatoren gebracht habe, ließ ihn die Beute in den Wald tragen, damit sie dort verfaule und Maden bekomme, die seine Lieblingsspeise waren. Er ließ dann Tapiokamehl machen, und als er nach ein paar Tagen meinte, daß schon genug Maden vorhanden sein könnten, füllte er damit eine große Kürbisschale und ging in den Wald, um zu schmausen. Da fand er den Haufen Fische, aber keine Alligatoren, wie er geglaubt hatte, und er kehrte wütend um und schalt seine Tochter, daß sie ihrem Manne den Auftrag nicht richtig gegeben habe.
Die Frau riet nun ihrem Gatten, er solle, um den Alten zu besänftigen, eine neue Sperre anlegen und dieses Mal Alligatoren fangen. Der Mann ging traurig zum Fluß, indem er dachte: »Wer weiß, ob mir der Tatina auch dieses Mal Hilfe bringen wird?« – Als er aber den Fluß abgesperrt hatte, brachte der Tatina wieder sein Volk, welches in kurzer Zeit die Arbeit tat. In dem flachen Wasser tötete darauf der Mann eine Menge Alligatoren, band sie zusammen und schleppte sie heim. Seine Frau teilte dann ihrem Vater mit, daß die Beute bereit sei, und dieser hieß die »Trahiras« wieder in den Wald bringen. Als sie dann Maden bekommen hatten, nahm er eine Kürbisschale mit Tapiokamehl, ging hin und schmauste dort drei Tage lang.
Dann sann er auf einen anderen Vorwand, seinen Schwiegersohn zu töten; seine Tochter aber war schon an den Gatten gewöhnt, und er tat ihr leid. Der Alte steckte ein großes Stück Wald ab und ließ dem Manne sagen, er müsse unbedingt noch heute diesen Wald niederschlagen, sonst lasse er ihn töten. Traurig schliff der Mann seine Axt und ging an die Arbeit. Nachdem er aber die ersten Bäume gefällt hatte, setzte er sich nieder und dachte über seine Lage nach. Da kam wieder der Spechthäuptling geflogen und grüßte ihn: »Guten Tag, Gevatter!« – Er klagte dem Vogel sein Leid, und dieser versprach, ihm wieder mit seinen Leuten zu helfen. Er brachte auch seine ganze zahlreiche Sippe an, und nachdem er den Falken als Wächter ausgesetzt hatte, begannen die Spechte fleißig zu arbeiten. Während die einen das Unterholz niederschlugen, fällten die anderen die dicken Stämme, und sie waren schon fast damit fertig, als der Falke seinen Signalruf erschallen ließ, das Nahen des Alten verkündend. Rasch flogen die Spechte auf und versteckten sich hinter den Bäumen, während der Alte herankam und hocherfreut war über die getane Arbeit. – »Nun werde ich dich nicht mehr töten,« versprach er seinem Schwiegersohn und ging wieder. Da kamen die Spechte sogleich wieder hervor, und als es Abend war, hatten sie den Waldschlag beendet. Darauf gingen alle heim.
Als der geschlagene Wald trocken war, befahl der alte Königsgeier, Feuer anzulegen. Er ging selbst mit, angeblich um seinem Schwiegersohn zu zeigen, wie er es machen solle. Er legte zuerst am Rande Feuer an und befahl dem Manne, in die Tiefe der Rodung zu gehen und zu sehen, ob es dort auch gut brenne. Als sich der Mann jedoch umsah, war ihm von den Flammen schon ringsum jeder Ausweg abgeschnitten. Da erkannte er, daß der alte Königsgeier ihn auf diese Weise töten wolle, und daß er nun sterben müsse. Er setzte sich hin und weinte. Da kam eine Spinne aus ihrem Loch im Boden hervor und fragte ihn, warum er weine. Er erzählte ihr die Bosheit seines Schwiegervaters, worauf ihn die Spinne einlud, mit hinab in ihre Höhle zu kommen. Sie verwandelte den Mann in eine Spinne, und sie gingen zusammen in die Höhle, wo sie aßen und warteten, bis das Feuer ausgebrannt war. Das dauerte den ganzen Tag und die ganze Nacht.
Als der Königsgeier nach Hause kam, fragte er seine Tochter, ob ihr Mann etwa schon zurückgekommen sei. »Ach, der ist doch gewiß schon tot!« antwortete die Frau, welche wohl wußte, was ihr Vater getan hatte. Am folgenden Tage füllte der alte Königsgeier seine große Kürbisschale mit Tapiokamehl und ging nach der Brandstätte, um sein Mahl an der Leiche seines Schwiegersohnes zu halten. Seine Tochter ging weinend mit ihrem Knaben hinter ihm her. Der Alte sah sich überall nach der Leiche um, als er aber mitten in die Brandstätte kam, sah er den Gesuchten unversehrt an einem Baumstumpf stehen. Da schleuderte der Königsgeier grimmig seine Schale mit dem Tapiokamehl zu Boden und kehrte wütend um. Die Frau aber riet nun ihrem Manne, das Haus des Schwiegervaters zu verlassen, da er ihn sonst doch noch töten werde.
Sie gingen nach Hause, packten ihre Sachen und machten Maniokmehl zur Wegzehrung zurecht. Der alte Königsgeier war furchtbar erbost, und als sie gegangen waren, sandte er ihnen seine Krieger, die Urubus (schwarzen Aasgeier) nach. Die Frau aber hatte dies schon vorausgesehen und zur Vorsicht ein langes Messer mitgenommen. Als nun die Urubus über ihren Mann herfielen und ihn ergreifen wollten, hieb sie mit ihrer Waffe tapfer auf die Angreifer ein, schlug den einen die Köpfe, den anderen die Flügel ab und jagte die übrigen zurück.
So kam die Familie wieder an die Pforte des Himmels und bereitete sich vor, hinabzusteigen. Der Sohn schwebte auch sofort zur Erde hinab; der Mann aber meinte ängstlich, er werde wohl stürzen, sobald er den Flug versuchen würde. Seine Frau tröstete ihn aber, und indem sie unter ihm hinflog, stützte sie ihn so, daß er nicht fallen konnte. Ganz ermüdet und außer Atem kam der Mann unten auf der Erde an. Er mußte sich sofort setzen und anlehnen, so ermattet war er.
Märchen aus Südamerika