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Märchenbasar

Die Ungeborene, Niegesehene

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Wo, erzählt die Geschichte nicht, aber daß einmal ein Bauer mit seinem Weibe vergnügt lebte, soviel ist gewiß. Dieses glückliche Ehepaar hatte nur den einen Schmerz, daß es kinderlos war, weshalb die beiden Eheleute oft und inbrünstig zu Gott beteten, daß er ihnen einen Sohn bescheren möge. Nach einiger Zeit gebar die Frau wirklich einen Sohn, den das überglückliche Paar ausnehmend liebgewann. Besonders zärtlich war die Mutter mit dem Knaben, zu dem sie, wenn er weinte, oftmals sprach: »O weine nicht, mein Kind, denn wenn du groß bist, sollst du ein Mädchen zur Frau bekommen, das nicht geboren ist und das kein Mensch gesehen hat.«
Als der Sohn groß geworden war, drang er wirklich in seine Mutter, sie solle ihm das oft versprochene Mädchen geben. »O mein Sohn«, war hierauf der Mutter Antwort, »ich scherzte nur, damit du still seiest! Ich weiß kein solches Mädchen!« – »O meine Mutter«, entgegnete hierauf der Sohn, »ich habe keinen Scherz damit, mir ist es heiliger Ernst, und ich ziehe hinaus in die Welt, um das Mädchen zu suchen, das nicht geboren ist und das kein Mensch gesehen hat.« Als die Mutter sah, daß ihr Sohn im Ernst sprach, so richtete sie ihm traurig ein Wanderbündel zu, worauf er sich von seinen Eltern verabschiedete und rüstig in die Welt hinauszog, um das Unmögliche zu finden.
Sein erster Gang war zu der heiligen Mutter Mittwoch. Sie sprach zu ihm: »O du Erdensohn, was führt dich zu mir?« Er erzählte ihr, daß er sein elterliches Haus verlassen habe, um ein ungeborenes, niegesehenes Mädchen aufzusuchen, in das er zum Sterben verliebt sei; und nun hoffe er, die heilige Mutter werde ihm Auskunft und Rat erteilen können. Die heilige Mutter gab dem Jüngling einen goldenen Apfel und sprach zu ihm: »Gehe, mein Sohn, mit diesem Apfel deiner Wege, bis du zu einem Brunnen kommst; dort wird auch ein Mädchen sein, welches den Apfel zu essen und Wasser zu trinken von dir begehren wird; gib ihm aber den Apfel nicht, bevor es einen Trunk von dir genommen hat.« Damit entließ die Heilige den Jüngling, welcher sich aufmachte voll Begierde, die ersehnte Ungeborene, Niegesehene bald zu finden.
Er ging, und es ward heißer Mittag, ohne daß er den Brunnen und das Mädchen fand. Die Sonne brannte immer stärker, da erstieg er eine Anhöhe, um das Gesuchte zu erspähen, aber alles vergebens. Sein Durst wurde nach und nach so heftig, daß er seinen goldenen Apfel nicht mehr schonte und ihn trotz seines prächtigen Aussehens verzehrte.
Den Tag darauf kam er zu der heiligen Mutter Freitag, die ihn ebenso anredete wie die Mutter Mittwoch. Offenherzig gab er auch ihr Bescheid, wie er Vater und Mutter verlassen habe, um seine Ungeborene, Niegesehene aufzusuchen; verschwieg auch nicht, daß er schon bei der heiligen Mutter Mittwoch gewesen, aber ihr Geschenk, den goldenen Apfel, verzehrt habe, ohne Gewinn daraus zu ziehen.
Darauf gab ihm die Mutter Freitag einen anderen goldenen Apfel mit derselben Weisung wie Mutter Mittwoch. Nachdem sie ihn entlassen und er schon ein ziemliches Stück Weg zurückgelegt hatte, kam ihm eine wunderschöne Jungfrau entgegen, die ihn um einen Trunk Wasser bat. Da aber kein Brunnen in der Nähe war und er auch kein Wasser bei sich trug, so konnte er ihr nicht willfahren, und sie verschwand wieder. Da er nach einiger Zeit selbst großen Durst empfand, so aß er auch den zweiten goldenen Apfel.
Bald nachher kam er zu der heiligen Mutter Sonntag, die ihn, wie ihre beiden Schwestern, freundlich aufnahm und ihm, nachdem sie seine Geschichte gehört hatte, ebenfalls einen goldenen Apfel schenkte. Auch sie aber schärfte ihm dringend ein, denselben der Jungfrau, mit der er am Brunnen zusammenkommen werde, nicht zu geben, bevor sie einen Trunk Wasser von ihm genossen hätte.
Der Jüngling zog weiter und erreichte bald einen Brunnen. Da trat eine Jungfrau zu ihm, die noch viel schöner war als die gestern gesehene. Sie bat ihn um einen Trunk Wasser, und als sie denselben genommen hatte, bot er ihr auch seinen goldenen Apfel, worauf sie zu ihm sprach: »Ich erkenne dich als den Mann, der mir zum Gemahl bestimmst ist, weil du mir diesen Apfel gereicht hast. Wenn es dir denn recht ist, so eile in die Stadt, einen Beistand zu holen, der bei unserer Verheiratung Zeuge sein möge.«
Der Jüngling hatte die Jungfrau von Anfang als die erkannt, die er heiraten würde, und schickte sich ohne Säumen an, in die Stadt zu gehen. Doch riet er der schönen Wunderbaren, der Sicherheit wegen einen Baum zu besteigen, der gerade beim Brunnen stand, und half ihr, denselben zu erklettern.
Es währte, nachdem er sich entfernt hatte, nicht lange, so kam zu dem Brunnen ein Zigeunermädchen. Es trug einen leeren Krug, den es füllen wollte, und als es sich nun dazu bückte, sah es in dem klaren Spiegel ein wunderschönes Angesicht. Da es nicht anders glaubte, als es sei das seine, so zerbrach es vor freudigem Schrecken seinen Krug, denn es hatte von seiner Mutter immer nur hören müssen, wie schwarz und häßlich es sei. Daher lief es eilends in den Wald zu seiner Mutter und erzählte ihr voll Freuden, wie es im Brunnen sein Bild so schön gesehen habe. Die Mutter lachte, versicherte ihm, daß es nach wie vor schwarzbraun und häßlich sei und hieß es, wieder zum Brunnen gehen. Das Mädchen nahm einen andern Krug und eilte fort; da es sich aber im Brunnen wieder ebenso schön erblickte wie das erstemal, so zerbrach es auch den zweiten Krug, eilte zu seiner Mutter und ließ ihr keine Ruhe, als bis dieselbe mit ihm an den Wunderbrunnen ging.
Als die Alte das wunderschöne Mädchenbild in dem klaren Wasserspiegel sah, schaute sie ihre Tochter an, da sie aber diese nach wie vor häßlich fand, wandte sie das Gesicht hinauf und sah jetzt auf dem Baum das schöne Wundermädchen sitzen. Mit freundlichen Worten bat sie dasselbe herunterzusteigen und fragte es, warum es sich denn einen so beschwerlichen Ort wie die harten Äste des Baumes auserlesen habe. Arglos gab die schöne Braut Auskunft, sie erwarte ihren Bräutigam, der in die nächste Stadt gegangen sei, um einen Beistand für die Vermählung zu holen.
Schmeichlerisch sagte hierauf die alte Zigeunerin zu der schönen Jungfrau: »Ei, du bist zwar außerordentlich schön, aber noch schöner wärst du, wenn du mir erlaubtest, daß ich dir deine Haare, die durch den Wind in Unordnung gekommen sind, wieder ordne.« Die Ungeborene, Niegesehene ging auf diesen Vorschlag freudig ein, weil ihr viel daran lag, bei ihrer Hochzeit recht schön zu erscheinen, und setzte sich ins Gras, während die Zigeunermutter hinter ihr kniete und ihre Haare richtete. Als sie ihr aber Locken und Flechten zurechtstecken sollte, stach sie ihr eine Zaubernadel tief in den Kopf. Dadurch verwandelte sich die Braut in eine weiße Taube, die eilig davonflog, weil sie die Arglist der Zigeunerin fürchtete.
Nun legte die Alte ihrer schwarzbraunen, häßlichen Tochter die Kleider der schönen Getöteten an und half ihr auf den Baum steigen, indem sie zu ihr sprach: »Bleibe da, bis der Bräutigam kommt, dann kannst du seine Frau werden!« Sie selbst schlich sich fort.
Der Bräutigam, welcher bald nachher mit dem Beistand erschien, rief nun der vermeintlichen Braut zu, sie solle herunterkommen. Er wunderte sich zwar über die Verwandlung, die mit ihr vorgegangen war, da sie aber doch die Kleider trug, in denen er sie zuerst gesehen hatte, so ließ er sich diese Veränderung nicht weiter anfechten, und die Trauung ging vor sich.
Die Taube war indessen traurig von dem Brunnen zur Kirche nachgeflogen und von da bis zu dem Haus, in dem der Bräutigam wohnte. Dort nahm sie ihren Aufenthalt in dem Garten, welcher das Haus umgab. Die falsche Frau, die Tochter der Zigeunerin, herrschte nun, als ob sie ganz vergessen hätte, wer sie früher war, und niemand konnte sie leiden. Einmal im Frühling begab sichs, daß sie ihre Dienstmagd in den Garten schickte, ihr schöne frische Blumen zu holen, denn junge Frauen schmücken sich gern damit. Die Magd ging und wunderte sich, während sie die Blumen brach, über die schöne, weiße Taube, welche so zahm um sie herumflatterte, sich aber doch nicht fangen ließ.
Am andern Tag, als die Dienstmagd wieder von ihrer Herrin um Blumen in den Garten geschickt wurde, flog wieder wie gestern die Taube herbei und sprach endlich zu ihr: »Liebe Magd, wenn du willst, so laß ich mich von dir fangen, damit du mich heimlich in das Zimmer deines Herrn bringst; ich bitte dich aber, verstecke mich ja vor deiner Frau, sonst bin ich verloren!« Die Magd willigte gern ein und versicherte der Taube, daß ihr guter Herr gewiß eine Freude an ihr und ihrem schönen, weißen Gefieder haben werde; vor ihrer Frau könne sie sicher sein, diese solle sie nicht sehen.
Die Taube flog nun zutraulich auf die Hand der Dienstmagd, welche sie liebkoste, heimlich in das Zimmer ihres Herrn trug und dort freiließ. Die Taube versteckte sich, als aber ihr Geliebter nach Hause kam, flog sie ihm auf die Hand und brachte ihren Schnabel an seinen Mund, als ob sie ihn küssen wolle. Der Erstaunte ließ sich dies gefallen und trug sie auf der Hand zu seiner Frau.
Als er zu dieser ins Zimmer trat, schmiegte sich die Taube voll Angst an ihn an, und sie hatte recht, denn augenblicklich erkannte die Frau sie an ihrem weißen Gefieder und sagte heftig zu ihrem Manne: »Ei, woher hast du diese Taube? Gib sie her, daß ich sie schlachten lasse!« – »Nein, Weib«, sprach hierauf der Mann, »das Tier ist so zahm und zutraulich, daß es Sünde wäre, wenn man es schlachtete.« Mit diesen Worten streichelte und liebkoste er die angstvolle Taube und kam dabei zufällig auf ihrem Kopf an die Stecknadel. Als er dieselbe herauszog, nahm die Taube sogleich ihre rechte Gestalt wieder an; der Mann schloß sie voll freudiger Zärtlichkeit in die Arme und ließ sich von ihr den Betrug erzählen, durch den die Zigeunerin und ihre Tochter ihn um seine rechtmäßige Braut hatten betrügen wollen. Voll Grimm ließ er hierauf das falsche Weib an die Schweife von vier Wildfängen binden und so in Stücke zerreißen. Die Ungeborene, Niegesehene aber blieb sein gutes Weib.

[Rumänien: Arthur und Albert Schott: Rumänische Volkserzählungen aus dem Banat]

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