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Märchenbasar

Die ungleichen Schwestern

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Einst lebte in einem Häuschen am Waldesrand ein Köhler mit seiner Frau und seinen Töchtern. Die beiden Mädchen, Marie und Lisa, waren so verschieden, wie zwei Schwestern es nur sein können. Zwar glichen sie einander äußerlich mit ihren blauen Augen und dicken, roten Zöpfen wie ein Ei dem anderen, aber so fleißig und freundlich Marie war, so faul und mürrisch kannte man Lisa.

Eines Tages, als Marie gerade die Wäsche zum Bleichen auf der kleinen Wiese hinter dem Haus auslegte, hörte sie ein kaum wahrnehmbares, klägliches Miauen, das aus einem Busch in der Nähe kam. Marie ging dem Laut nach und fand bald ein schneeweißes Kätzchen, welches offenbar von einem wilden Tier angegriffen und schlimm zugerichtet worden war. Sein Fell war blutverschmiert und der Atem der hilflosen Kreatur ging nur schwach.
Marie nahm das Kätzchen vorsichtig auf den Arm, trug es ins Haus und legte es auf ein schnell aus Lumpen bereitetes weiches Bett. Dann ging sie in den Garten, um Heilkräuter zu suchen, mit denen sie die Wunden versorgte.

Lisa sah den Bemühungen der Schwester tatenlos zu und verspottete sie sogar, weil sie sich so viel Mühe machte mit einem Tier, das offensichtlich dem Tode geweiht war. Marie hörte nicht darauf und streichelte nur das weiße Fell. Da erst bemerkte sie am Hals des Kätzchens ein mit Edelsteinen verziertes Band, an dem eine kleine goldene Rose hing. Sie erschrak ein wenig, als sie darin das Zeichen des Königshauses erkannte.

Maries aufopfernde Pflege trug bald Früchte und schon nach wenigen Tagen tollte ihr Schützling im Haus herum, fraß die Fleischbrocken, die Marie sich vom Munde absparte, und auch die Wunden heilten gut.
Lisa kümmerte sich gar nicht um das kleine Tier. Ja, sie trat sogar nach ihm, wenn sie sich unbeobachtet glaubte.

Als die kleine Katze schließlich vollends genesen war, schnurrte sie:
„Du hast mir in meiner Not geholfen. Ohne dich lebte ich nicht mehr. Als Zeichen meiner Dankbarkeit nimm die Rose! Bring mich nun zurück zum Schloss! Setze mich vor das Tor und rufe nach dem Prinzen! Dann verbirg dich hinter einem Busch.“
Marie löste, wie geheißen, die goldene Blüte ab und verbarg sie in einem Kästchen, welches sie unter ihr Kopfkissen legte. Alsdann schlang sie drei ihrer eigenen Haare um das Halsband.

Am nächsten Morgen trug sie das Kätzchen zum Schloss hinauf. Vor dem Tor setzte sie das Tier ab, klopfte und rief mit ihrer melodischen Stimme:

„Prinz, Prinz, komm zum Tor!
Deine Katze sitzt davor!“

Dann versteckte sie sich rasch hinter einem Gebüsch.
Bald schon tat sich das Tor auf und ein Jüngling, der seiner vornehmen Kleidung nach offensichtlich der Prinz war, trat heraus. Mit einem Freudenschrei beugte er sich hinunter und schlang die Arme um sein Kätzchen.
Maries Blick ruhte lange auf dem freundlichen Gesicht des Jungen. Endlich riss sie sich los und kehrte nach Hause zurück.

So verging ein Jahr. In ihren Träumen erschien Marie in so mancher Nacht das edle Gesicht des Prinzen.

Eines Tages, als Marie im Wald nach Reisig suchte, fand sie ein schneeweißes Kaninchen, das in eine Falle geraten war. Durch die verzweifelten Versuche des Tieres, sich zu befreien, waren seine Kräfte geschwunden und es lag nur noch schwach und reglos dort. Vorsichtig befreite Marie die arme Kreatur und nahm sie mit nach Hause. Dort pflegte sie das Tier so lange, bis es wieder zu Kräften gekommen war.
Auch das Kaninchen trug ein Band mit dem königlichen Zeichen um den Hals.

Wieder verspottete Lisa ihre Schwester, statt sich an der Pflege zu beteiligen. Ja, sie zog das Tierchen sogar an den Ohren und zwickte es, wenn sie sich unbeobachtet glaubte.

Als das Kaninchen schließlich vollends genesen war, sprach es:
„Du hast mir in meiner Not geholfen. Ohne dich wäre ich gestorben. Zum Zeichen meiner Dankbarkeit nimm die Rose! Bring mich nun zurück zum Schloss! Setze mich vor das Tor und rufe nach dem Prinzen! Dann verbirg dich hinter einem Busch.“

Marie löste also die goldene Blüte und verbarg sie in dem Kästchen unter ihrem Kopfkissen. Wieder schlang sie drei ihrer eigenen Haare um das Halsband.

Am nächsten Morgen trug sie das Kaninchen zum Schloss hinauf. Vor dem Tor setzte sie es ab, klopfte und rief mit wohlklingender Stimme:

„Prinz, Prinz, komm zum Tor!
Dein Kaninchen sitzt davor!“

Dann verbarg sie sich schnell hinter dem Gebüsch.
Bald schon öffnete sich das Tor und der Prinz erschien. Voller Freude drückte er das Kaninchen an sich.
Marie sah wieder nur den Prinzen an und war verzaubert. Er sah noch anziehender aus, als Marie es in Erinnerung hatte, und ihr Herz klopfte bei seinem Anblick.

So verging ein weiteres Jahr. In ihren Träumen sah Marie immer häufiger das freundliche Gesicht des Prinzen.

Als Marie eines Tages am Brunnen Wasser schöpfte, erschallte ein Schuss und gleich darauf sah sie eine schneeweiße Taube, die getroffen vom Himmel stürzte. Marie streckte die Hände aus und fing den Vogel sanft auf. Er lebte noch, war aber am Flügel verletzt.
Der unter dem Gefieder kaum sichtbare Ring trug wieder das königliche Zeichen, die goldene Rose.
Marie pflegte auch die Taube gesund. Lisa hatte für das Tun ihrer Schwester abermals nur Hohn übrig und half ihr nicht. Ja, sie riss der Taube sogar Schwanzfedern aus, wenn sie sich unbeobachtet glaubte.

Als nun die Taube vollends genesen war, gurrte sie:
„Du hast mir in meiner Not geholfen. Ohne dich wäre ich gestorben. Zum Zeichen meiner Dankbarkeit nimm die Rose! Bring mich nun zurück zum Schloss! Setze mich vor das Tor und rufe nach dem Prinzen! Dann verbirg dich hinter einem Busch.“
Marie tat, wie ihr geheißen und wand alsdann drei ihrer eigenen Haare um den Ring des Vogels.

Am nächsten Morgen trug sie das Tier zum Schloss hinauf. Vor dem Tor setzte sie es ab, klopfte und rief mit weicher Stimme:

„Prinz, Prinz, komm zum Tor!
Deine Taube sitzt davor!“

Dann wartete sie hinter dem Gebüsch.
Sogleich öffnete sich das Tor und der Prinz erschien. Voller Freude nahm er die Taube auf seine Hand.
Marie hatte wieder nur Augen für den Prinzen. Er war stattlicher denn je zuvor und sie entbrannte in Liebe zu ihm, wohl wissend, dass er für sie unerreichbar war.

Traurig lief sie in ihr Elternhaus zurück und träumte weiter von dem jungen Mann, der aus einer anderen, für sie so entfernten Welt zu kommen schien.

Bald darauf lief Lisa auf der Suche nach einem Stoff für ein neues Kleid über den Marktplatz der kleinen Stadt, als sie am Brunnen einen Menschenauflauf bemerkte. Neugierig trat sie näher und bahnte sich mit ihren Ellbogen einen Weg bis nach vorne.
Ein vornehm gekleideter Bote des Königs verkündete, dass der Prinz zu heiraten gedenke. Er wolle ein junges Mädchen zur Frau nehmen, das tierlieb sein und rote Haare haben müsse. Alle, die diesen Bedingungen entsprachen, sollten am Abend zu einem Ball aufs Schloss kommen.

Lisa musste nicht zweimal überlegen. Sie schlich sich, gewandet in ihr bestes Kleid, am Abend aus dem Haus, ohne dass Marie oder die Eltern etwas bemerkten.

Im Schloss angekommen, löste sie den dicken Zopf und ließ die Haare über ihre Schultern fallen.
Der Prinz war so angetan von ihrer roten Lockenpracht, die im Licht der Kronleuchter funkelte, dass er sofort mit ihr tanzte.
Schließlich fragte er sie, ob sie seine drei schneeweißen Tiere kenne und die drei goldenen Rosen besitze. Lisa, die von den Rosen nichts wusste, sah einen Moment verwirrt drein, fing sich aber rasch, sah zu ihm auf und sprach: „Gewiss kenne ich die Tiere, habe ich sie doch vor dem sicheren Tod gerettet! Ich habe keine Mühen gescheut, sie gesund zu pflegen! Die Rosen allerdings musste ich gegen Futter eintauschen!“
Der Prinz erschrak, als er in ihre kalten Augen blickte und die raue Stimme hörte.
„Das kann nicht die Richtige sein!“, dachte er.
Heimlich entnahm er einem Tüchlein die Haare, die er bei den Tieren gefunden hatte, und sah sich im Saal um.
Doch keine der übrigen Jungfern hatte die richtige Haarfarbe – entweder waren sie zu hell oder zu dunkel, zu blond oder zu braun.

Da zupfte den Prinzen etwas am Bein. Es war die schneeweiße Katze, die ihm bedeutete, ihr zu folgen.
Draußen vor dem Schloss warteten auch schon das Kaninchen und die Taube. Gemeinsam führten die drei Tiere ihn zur Kate des Köhlers.

Auf sein Klopfen öffnete ihm Marie. Die Katze schnurrte sogleich um ihre Beine, das Kaninchen setzte sich zutraulich an ihre Füße und die Taube flog gurrend auf ihre Schulter. Verwirrt schaute der Prinz Marie an – hatte er sie nicht gerade im Ballsaal zurückgelassen? Dann aber sah er ihre Augen und war verzaubert.

Marie errötete, als der edle Jüngling so unerwartet vor ihr stand, und sagte nach einer ehrerbietigen Begrüßung: „Nun kann ich Euch zurückgeben, was Euch gehört!“ Sie holte geschwind die drei goldenen Rosen und reichte sie ihm. Als er ihre sanfte Stimme hörte, bedurfte es dieses Beweises nicht mehr. „Du bist die Richtige!“, rief der Prinz und schloss sie glücklich in die Arme.

Lisa aber musste erkennen, dass sie mit einem freundlicheren und einfühlsameren Wesen die gleichen Möglichkeiten wie ihre Schwester gehabt hätte.
Sie ging in sich und änderte ihr Verhalten. Zwar gewann sie nie den Liebreiz Maries, wurde aber allmählich zu einer allseits geschätzten und wohlgelittenen Frau, die später den königlichen Herold heiratete.

Quelle: Abingdon

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