Mitten im tiefsten Wald, dort, wo die Sonne nicht durch die Zweige dringt und kein Pfad das Dickicht durchschneidet, lebte seit ein paar Tagen die kleine Hexe Isidora. Sie hatte sich diesen Platz nicht etwa ausgesucht, sondern sich aus Versehen (oder sollte man besser sagen, aus Ungeduld oder gar Dummheit?) in diese unwirtliche Einöde verbannt. Sie hatte sich sozusagen selbst verhext. Und das war so gekommen:
Jede Hexe lernte als eine der allerersten Regeln, dass sie nie, niemals und unter gar keinen Umständen beim Ausprobieren unbekannter Tinkturen, Kräuter oder Pilze gleichzeitig einen bisher unerprobten Zauberspruch verwenden durfte. Neues musste stets in winzigen Mengen und einzeln erkundet werden. Erst wenn man die Wirkung einer neuen Zutat oder einer unbekannten Hexenformel ganz genau kannte, durfte man daran gehen, sie miteinander zu verbinden.
Unsere kleine Hexe war nun aber von der ungeduldigen Sorte. All das vorsichtige und zeitaufwendige Vorgehen war ihr zutiefst zuwider. „Die Anderen sind viel zu ängstlich“, sagte sie sich, „was soll denn schon passieren?“ Also mischte sie frohgemut einen Pilz, den sie gerade im Wald entdeckt hatte, mit zwei neuen Kräutern und schlug dann in ihrem Hexenbuch die Seite 5689 auf. Hier stand in lila Lettern ein Spruch, auf den sie schon lange neugierig war. Sie schnippelte sämtliche Zutaten klein, mischte sie in ihrem alten Kessel mit Wasser und brachte alles über dem Herdfeuer zum Brodeln. Dabei murmelte sie den neuen Spruch vor sich hin. Sie hatte mit allem gerechnet, nicht aber mit der fürchterlichen Explosion, die nun erfolgte. Isidora wurde von einem schwefelgelben Wirbelwind gepackt und verlor die Besinnung.
Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich inmitten eines unwegsamen Dickichts wieder, neben sich nur ihre beiden treuen Kameraden, den Raben Karakau und den Kater Murz.
Schnell merkte die kleine Hexe, dass das sie umgebende Gebüsch undurchdringlich war. Jede ausgerissene Ranke und jeder abgebrochene Zweig wuchs sofort nach. Sie hatte sich selbst in ein dorniges Gefängnis gehext! Es war ihr klar, dass sie aus eigenen Kräften hier nicht wieder hinauskommen konnte. Ihr magisches Buch, in dem sie sicher einen hilfreichen Spruch gefunden hätte, lag noch in ihrer Hexenküche, aufgeschlagen auf Seite 5689.
Sie hatte leider auch gegen eine andere wichtige Hexenregel verstoßen, die lautete, dass jede Junghexe, bevor sie sich an den ersten Zaubereien versuchen durfte, einige Sprüche, mit denen Verhexungen rückgängig gemacht werden konnten, auswendig lernen musste. Unser ungeduldiges Hexchen hatte dies natürlich auch als Unsinn abgetan und sich die langweilige Lernerei erspart.
Nur in einem Punkt war ihre Ungeduld nun von Vorteil. Um sich die Zeitverschwendung des Kochens zu ersparen (und weil, wenn sie hungrig war, es immer ganz schnell gehen musste), hatte Isidora sich ihre Mahlzeiten immer herbeigehext statt selbst zu kochen. Daher kam es, dass sie sich an die eine oder andere magische Formel erinnerte und nicht elendiglich in ihrer grünen Höhle verhungern musste.
So verging einige Zeit- dem Hexchen in seiner Ungeduld schienen es Tage, wenn nicht gar Wochen zu sein, wenn es auch in Wirklichkeit nur wenige Stunden waren. Isidora war nun zur Ruhe gezwungen. Da sie nichts Besseres zu tun hatte, dachte sie gründlich über ihr Leben und ihren Mangel an Geduld nach. Ach, wenn sie doch nur aus diesem Gefängnis hinaus könnte, wie anders würde sie jetzt alles machen!
Madame Ungeduld, wie die übrigen Hexen sie gern nannten, seufzte und ein paar Tränen liefen über ihre Wangen.
Karakau und Murz sahen ihre Herrin voller Mitgefühl an. Sie selbst waren in einer erheblich besseren Lage. Konnte doch der schlanke Kater, ungleich der recht beleibten Isidora, sich durch das Dickicht zwängen, wenn ihm nach einer Maus zumute war, und der Rabe fand in luftiger Höhe auch immer ein kleines Schlupfloch.
Die Hexe wusste ganz genau, dass ihr niemand helfen konnte.
Es sei denn … Sie blickte nachdenklich auf ihre kleinen Freunde.
Die beiden Tiere verstanden den Blick sofort. Sie allein konnten Isidora retten!
Sie nickten einander zu und verschwanden im Dickicht.
Es war ein weiter und beschwerlicher Weg für Karakau und Murz. Der Kater kämpfte sich durch Dornen und Ranken, während der Rabe es geschafft hatte, den Dschungel nach oben zu durchdringen und nun darüber zu fliegen. Dabei musste er ständig versuchen, mit dem Vierbeiner in Hörkontakt zu bleiben, was durch das dichte Blätterwerk sehr erschwert war. Nach einigen Tagen jedoch hatten sie es geschafft und freies Land erreicht. Doch wie zerschunden und verkratzt sah Murz aus! Karakau erkannte seinen Freund kaum wieder. Er selbst bot auch keinen besseren Anblick, hatte er doch einige Federn gelassen und sein Kleid war zerrupft und glanzlos. Sie entschlossen sich zu einer kurzen Rast. Der schwarze Vogel, der besser bei Kräften war als das Pelztier, ging auf Mäusejagd, um seinem Freund ein paar fette Leckerbissen zu kredenzen. Der Kater leckte ihm dafür das Gefieder, bis es wieder den alten Schimmer erlangt hatte.
Bald zogen sie gemeinsam weiter.
Es war eine lange und anstrengende Wanderung, bis sie endlich das Haus von Gudulis, der Oberhexe, erreichten.
Gudulis hörte sich die Geschichte der beiden schwarzen Tiere an und konnte sich ein etwas schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen. „Mit so etwas habe ich bei Madame Ungeduld schon lange gerechnet“, sagte sie, als Karakau und Murz geendet hatten. „Ich denke, sie hat lange genug gelitten. Wie gut, dass sie so treue Gefährten hat! Hier, nehmt diesen silbernen Stab. Er wird euch helfen, das Dickicht zu durchdringen!“ Die beiden bedankten sich, stärkten sich ein wenig in Gudulis Haus und traten dann den Rückweg an.
Schon kurze Zeit später, nach einem leichten Marsch, standen sie wieder vor dem undurchdringlichen Gestrüpp. Kaum hatten sie jedoch den Stab ausgestreckt, als die Zweige, Dornen und Ranken auseinander wichen und ihnen den Weg bis zum Gefängnis ihrer Herrin freigaben. Isidora umarmte ihre Retter unter Freudentränen.
Fortan war unser Hexchen die Geduld in Person, richtete sich nach allen Regeln, lernte fleißig magische Formeln auswendig und probierte neue Pflanzen immer nur einzeln und in kleinen Mengen aus. Ja, sie kochte nun auch ihre Mahlzeiten selbst und stellte fest, dass es ihr sogar Spaß machte.
Nur der Name „Madame Ungeduld“, der haftete ihr bis zum Ende ihrer Tage an. Er war ihr eine stete Warnung, nicht wieder in ihre alte Unsitte zurückzufallen!
Quelle: Eva Zimmermann