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Die verirrten Kinder

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Zwei Kinder in der Hauptstadt Tokio, ein Knabe namens Teiji und sein neunjähriges Schwesterchen, wurden von ihrer Mutter auf eine Reise aufs Land nach der Provinz Shinshu nach einem Orte Yankamura mitgenommen, um ihren Onkel, der ein Dorfschulze war, zu besuchen. Es war das erste Mal, das Teiji und Oyoshi aus Tokio hinaus aufs Land kamen, und darum kam ihnen alles neu vor. Alles, was sie in den Straßen der Hauptstadt gesehen hatten, war sehr verschieden von dem, was es nun hier auf dem Lande für sie zu schauen gab. Tag für Tag brachten sie von der Weise allerlei Blumen nach Hause oder sammelten die verschieden geformte Blätter der Bäume und freuten sich, als sie am Flusse schöne, glatte Kieselsteine fanden. Einmal aber kamen die beiden mit etwas traurigen Gesichtern nach Hause: „Mutter“, sagte Teiji, „auch hier in den Bergen gibt es wie in der Stadt Tokio böse Buben, welche schimpfen.“
„Wie kannst du das wissen?“ erwiderte die Mutter. „Ja, Mutter, wie ich vorhin in dem Tal da drüben rief: „Du dummer Kerl Santaro“, da kam gleich als Antwort zurück: „Du dummer Kerl Santaro.“ Ich sagte darauf: „Du unhöflicher Mensch, du solltest Haue kriegen“, und sofort gab er zurück. „Komm nur her“, rief ich mit lauter Stimme. Da rief auch er: „Komm nur her!“ ebenfalls mit lauter Stimme. Du sagst Mutter, die Kinder auf dem Lande seien schlicht und einfach. Aber es gibt da ebenso böse Kinder wie in der Stadt!“
„Geh doch noch einmal durchs Tal“, sagte die Mutter, „und versuch’s einmal mit freundlichen und sanften Worten. Sicherlich gibt es auf dem Lande auch viele gute Kinder.“ Unverweilt gingen die beiden Kinder zum zweiten Mal in das Tal. „Du bist ein guter Junge“, rief Teiji, und: „Du bist ein guter Junge“, kam es von drüben zurück. „Komm her zu mir zum Spielen, sollst auch Kuchen von mir haben“, rief Teiji und er hörte es als Antwort. Heiteren Angesichts kehrten die beiden Kinder nach Hause zurück zu ihrer Mutter. „Mutter“, rief Teiji, „Du hast recht, die Kinder vom Lande können doch auch recht brav sein. Wir haben eben welche kennen gelernt, die ganz anders waren als die Kinder vorhin. Als ich ihnen zurief, sie sollten zum Spielen zu mir kommen, ich würde ihnen auch von meinem Kuchen schenken, da kam von der anderen Seite ganz derselbe freundliche Ruf als Antwort. Also erzählte Teiji. Die Mutter aber sprach belehrend zu ihren Kindern: „Es ist das erste Mal, dass ihr aufs Land gekommen seid, und darum könnt noch nicht wissen, dass es in den Bergen ein Widerhall gibt. Man nennt ihn Echo. Wie man in den Berg hineinruft, so schallt’s einem aus dem Berg wider. Und so ist es auch bei unserem Verkehr mit den Menschen: ruft ma ihnen hässliche Worte zu, so kann man nichts anderes von ihnen erwarten als eben wieder hässliche Worte; redet man aber freundliche Worte zu ihnen, so geben sie uns gleichfreundliche Worte zurück. Der Weinstock trägt keine Eierpflanzenfrüchte.
Wir müssen freundlich gegen die Menschen sein, dann werden die Menschen gewiss auch freundlich gegen uns sein!“
Wie schnell doch die Zeit vergeht! Den Kindern war es, als hätten sie erst gestern Tokio verlassen, und sie waren doch schon einen ganzen Monat auf dem Lande. Morgen früh, so war es beschlossen, sollten sie mit ihrer Mutter von Yanakamura Abschied nehmen, um nach Nagono zu gehen, den berühmten Zenkoji – Tempel zu besuchen und dann nach Tokio zurückzukehren. Mit dem Vergnügen auf dem Lande war es also für sie bald vorbei. Sie hatten darum heute kaum zu Mittag gegessen, so sprangen sie also hinaus ins Freie. Die Nachbarskinder, die sie sonst auf ihren Streifereien begleitet hatten, waren eben nicht da. So machten sie sich beide allein auf den Weg. Sie gingen und gingen, konnten aber nicht zu ihrem Ziele, dem Tempel mitten auf dem Berghang kommen. „Bruder“, sprach endlich Oyoshi zu ihrem Begleiter, „was ist das? Mir will scheinen, der Weg ist nicht der, den wir gewöhnlich gingen.“ – „Hm“, erwiderte Teiji, „er ist etwas anders, aber lass uns nur noch ein wenig weitergehen, wir werden ja sehen.“ Eine Weile schritten sie weiter, da kamen sie endlich an einen abschüssigen Platz, wo viele mächtige Bäume standen und rauhe Felsblöcke aufeinander lagen. Mittlerweile hatte sich die Sonne allmählich gen Westen geneigt und es begann zu dunkeln, so dass sie schon beinahe nicht mehr sehen konnten, was vor ihren Füßen lag. „Bruder, mir wird sehr bang“, sprach Oyoshi; „wann werden wir wohl zur Mutter zurückkommen?“ – „Wir haben uns ganz und gar verlaufen und scheinen da an einen fürchterlichen Ort geraten zu sein“, antwortete der Bruder. „Das ist sehr schlimm.
Ich möchte auch am liebsten anfangen zu weinen.“ Die beiden Kinder waren auch wirklich in einer üblen Lage. Sie hofften, irgendein Mensch würde kommen, um ihnen wieder auf den rechten Weg zu helfen.
Sie warteten und warteten, aber keine Seele kam, um sie zu suchen. Darüber war das Dunkel ganz angebrochen. Von der Ferne ließ sich das Heulen des Wolfes vernehmen, das klang wo – u – wo, und des Fuchses Stimme kian, kian. Der Wind fuhr in die dicht beieinander stehenden Bäume, dass es in traurigen Tone durch die Äste rauschte sa sa.
Es war Ende November. Sachte senkten sich einzelne weiße Flocken nieder, aber die verirrten Kinder sahen doch, wie allmählich der glitzernde Schnee anfing sich zu häufen. Die unwirtliche Gebirgsgegend in dem unheimlichen Dunkel der Nacht und dazu das Heulen des Wolfes und die Stimme des Fuchses, welche den beiden Kindern bald von da, bald von dort in die Ohren drang, erfüllte sie mit steigender Angst. Mit zarter Stimme fingen sie an zu beten. Daheim aber machte sich, als die Sonne im Westen untergegangen war und alle Bauersleute vom Felde sich einfanden, ohne dass Teiji und Oyoshi heimgekehrt waren, die Mutter viel Sorge um die Ausbleibenden. Sie fragte bei den Nachbarskindern nach ihnen, aber die hatten alle nur ein „Ich weiß nicht“ als Antwort. Sie ging ans Tor und schaute die Straße entlang und wartete auf ihre Kinder. Jeden Augenblick meinte sie, nun müssten sie gleich kommen. Aber von den Kindern ließ sich nichts blicken. Und als es nun nach und nach ganz dunkel geworden war, so dass man kein Gesicht mehr erkennen konnte, und der weiße Schnee anfing niederzufallen, da war der armen Mutter so traurig zumute, dass sie meinte, es müsse ihr Herz vor Kummer brechen. Auch den Bauern des Dorfes kam es allmählich zu Ohren, dass die Kinder des Besuchs von Herrn Schulzen vermisst werden. Erst kam einer, dann noch einer, und dann zwei, und endlich waren es zwanzig bis dreißig, die sich im Hause des Dorfschulzen zusammengefunden hatten, um über den Grund des Ausbleibens der beiden Kinder zu beratschlagen. Einer der Bauern, Ei Gombei mit Namen, sagte: „Hier herum in den Bergen gibt es große Adler, und es ist nur wenige Monate her, da hat ein solcher einen dreizehnjährigen Knaben aus unserm Nachbarsdorf zu einem fünf Meilen entfernten Ort fortgetragen. Wenn nur nicht die beiden guten Kinder auch von so einem Adler geraubt worden sind.“ Also der Bauer. Ein anderer, namens Hei Hachi, mit weitoffenstehenden Mund meinte: „Vor einigen Tagen hat da so ein Biest von Wolf im Nachbardorf gewütet.“ Nach diesem Sprecher trat ein anderer Bauer, Hei Saku, vor, der sagte: „Wie ich da vorhin oben an dem Fluß vorbeiging, da sah ich, dass die zwei darübergelegten Stangen zerbrochen waren. So sind die beiden Kinder sicher ins Wasser gefallen, indem sie über den Steg gehen wollten.“
So gingen die Meinungen der Bauern auseinander. Da trat ein Mann aus dem Kreise der Versammelten hervor, den man den Bauern anmerkte, der aber doch einigermaßen vorteilhaft in seinem ganzen Wesen von den andern abstach, und sagte: „Alles dieses Reden hat keinen Wert. Wir wollen keine Zeit verlieren und uns aufmachen, die Kinder zu suchen, mögen sie nun tot oder lebendig sein.“ Und gesagt, getan. Noch andere Bauern wurden zu Hilfe gerufen, und keine zwei Stunden waren vergangen, so waren hundertfünfzig Mann versammelt. Diese teilte sich in drein Haufen von je fünfzig Bauern, und jeder von ihnen hatte einen großen Regenstrohhut auf, trug einen Strohmantel und trug ein Talglicht in der Hand. Und gerade, wie wenn sie ins Feld zögen, blies der eine auf einer Muschel, und der andre rührte die Trommel, während dritte zwei Hölzer aneinandeschlugen. Die Bewaffneten sahen aus als ob sie sehr mutig wären. Eine Schar bestieg den nördlichen Berg, die andere den südlichen, und die dritte ging hinauf an den Kinufluß. Sie suchten eifrig die ganze Nacht hindurch, aber alles vergebens. Sie konnten nichts finden. Schon stieg im Osten die Sonne empor und führte den neuen Tag herauf. Da stiegen sie alle zusammen den Tenshinyama hinauf zu dem steilen Ort, wo die Riesenbäume ragten und Felsblöcke übereinanderlagen . Und hier endlich fanden sie die zwei Vermissten.
Von Schnee bedeckt lagen sie auf einem Felsen. Als sie voll Erstaunen näher traten, da wurden sie gewahr, wie Oyoshi sich die Mütze ihres Bruders auf den Kopf gesetzt hatte und ihr Körper war mit einem Rock bedeckt.
Teiji aber hatte nichts an als Hemd und Unterhosen und hielt die kleine Schwester eng umschlungen, um sie gegen die Kälte zu schützen. Sie fühlten sich beide so kalt an wie Eis. Die Bauern taten ihre mitgebrachten Talglichter zusammen, und indem sie so ein Feuer machten, brachten sie endlich die Erstarrten wieder zum Leben, worauf sie sie zu ihrer Mutter trugen. Diese aber weinte Freudentränen, als sie wieder das Gesicht ihres Teiji und ihrer Oyoshi sah.

Quelle: Sage aus Japan

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