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Die verstorbene Gerechtigkeit

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Vor langer Zeit lebte ein gewaltig reicher und mächtiger Graf, dem alles nach seinem Kopf gehen mußte. Er fragte nicht nach Recht und Billigkeit, sondern schaltete und waltete nur nach Willkür. Da kam er einmal auf einem Spazierritt zu einem großen, schönen Landhaus, das ihm gar sehr in die Augen stach. Er besichtigte deshalb das ganze Gehöft und ritt dann vor das Haus hin, wo eben der Bauer, dem das Anwesen gehörte, unter der Haustür stand. Der Graf grüßte ihn freundlich, stieg vom Roß und sprach: »Guter Freund, möchtest du mir nicht deinen Hof zu kaufen geben? Ich würde ihn sehr gut bezahlen.«
Der Bauer aber bedachte die Frage nicht lange und antwortete: »Euer Gnaden, nichts für ungut. Aus dem Handel wird nichts, denn auf diesem Hof saßen meine Voreltern schon, und ich will auch darauf meine alten Tage zubringen. Also nichts für ungut!«
Da sagte der Graf: »Ich will dir bis morgen Bedenkzeit lassen. Überleg es dir gut.« Dann stieg er auf sein Pferd und sprengte von dannen.
Der Bauer blieb aber bei seinem Vorhaben, schüttelte den Kopf und dachte sich: Daraus wird nun einmal nichts.
Am folgenden Tag kam der Graf schon in aller Frühe dahergeritten und fragte, ohne abzusteigen, den Bauern, was er jetzt beschlossen habe. Da antwortete der Bauer: »Ich habe, Euer Gnaden, meinen Entschluß nicht aufgegeben. Ich bleibe auf meinem Hof, und aus diesem Handel wird nichts.«
Da wurde der Graf wild und sprach: »Ich frage dich noch einmal, ob du dein Anwesen gutwillig hergeben willst. Wo nicht, so bekomme ich es doch!«
Der Bauer schüttelte jedoch seinen Kopf und erwiderte: »Dabei bleibt’s, ich verkaufe meinen Hof nicht.«
Nun wurde der Graf ganz wild vor Zorn und sprengte mit seinem Roß auf und davon. Er ritt spornstreichs zu einem Advokaten, bestach ihn mit vielem Gold und ließ dem Landmann einen Prozeß anhängen. Die Richter wußten, daß der Graf ein steinreicher Mann war und bei dem Handel Geld herausschaute. Deshalb hielten sie zu dem Grafen und versprachen ihm, das Bäuerlein mürbe zu machen. Sie ließen nun den Bauern durch den Gerichtsdiener herbeiholen und fragten ihn, ob er seinen Hof verkaufen wolle oder nicht. Als er ein entschiedenes Nein erwiderte, wurde ihm eine Klageschrift vorgelesen, und es wurde ihm gesagt, wenn er den Hof behalten wolle, so müsse er mit dem Herrn Grafen einen Prozeß führen.
Der einfältige Bauer, der sich nicht zu helfen wußte, ging darauf ein und ließ sich die Sache gefallen. Der Graf hatte einen pfiffigen Advokaten, der Bauer hatte aber keinen, weil er sparen wollte. Da wurde nun hin und her prozessiert und der Bauer so oft in die Stadt gerufen und übertölpelt, bis er ganz verschuldet war. Die Richter entschieden auch gegen ihn, so daß er vom Hof mußte und ihm nur mehr hundert Gulden blieben. Er fügte sich in die traurige Geschichte, machte aber den Richtern bittere Vorwürfe und sprach: »Wenn auf Erden keine Gerechtigkeit mehr ist, so lebt droben noch ein Richter, der euch finden wird.«
Da lachten die Herren, und einer sagte: »Ja, die Gerechtigkeit ist lange gestorben; die kann dir nicht helfen.«
Der betrogene Bauer ging dann schweigend aus der Kanzlei hinaus und begab sich geradewegs zum Kirchenvater. Als dieser den ihm wohlbekannten Bauern kommen sah, rief er ihm freundlich zu: »Grüß dich Gott, Hans! Kommst du auch einmal in die Stadt, mich zu besuchen?«
»Ja«, antwortete Hans, »aber in einer sehr traurigen Lage.« Dann erzählte er dem Kirchenvater die Geschichte und schloß: »Jetzt hab‘ ich noch hundert Gulden, und die geb‘ ich dir. Es ist gerade so viel Geld, wie man bei euch in der Stadt da zahlen muß, wenn man die große Glocke für einen Verstorbenen läuten läßt. Da hast du das Geld, und jetzt läute schnell der Gerechtigkeit, weil sie gestorben ist, zu ihrem Hinscheiden. Aber läute recht lang.«
Der Kirchenvater nahm das Geld, ging mit seinem Knecht in den Turm und läutete die große Glocke, und zwar länger als gewöhnlich. Da gab’s nun in der Stadt ein Gefrage und Gerede, wer gestorben sei, für wen man so lange läute. Doch niemand wußte Bescheid darauf, und die Neugierde wurde immer größer.
Auch der König, der in derselben Stadt seine Residenz hatte, erkundigte sich, wer gestorben sei, konnte aber keine Auskunft erhalten. Da schickte er einen Läufer zum Kirchenvater und ließ ihn fragen, für wen man so lange geläutet habe.
Der Kirchenvater sprach: »Für die Gerechtigkeit.«
Der Läufer eilte mit dieser Antwort zum König zurück. Wie der König dies hörte, wurde er rot vor Zorn und rief: »Die Gerechtigkeit ist nicht gestorben. Sie schläft nur, und ich will ihr neues Leben einhauchen.« Dann ließ er den Kirchenvater holen und frage ihn, wer die große Glocke für die verstorbene Gerechtigkeit habe läuten lassen.
Dieser sprach: »Eure Majestät, der Schauferle- Hans, der früher Schauferle-Bauer war.«
Wie der König dies erfahren hatte, ließ er sogleich den Schauferle-Hans herbeiholen und fragte ihn, warum er die Glocke habe läuten lassen. Da erzählte Hans, wie er des Grafen wegen von Haus und Hof gekommen war, weil die Gerechtigkeit nicht mehr lebe.
Der König war über die Richter ganz ergrimmt, machte kurzen Prozeß und gab dem Bauern sein Eigentum zurück. Dann ließ er den Grafen, den pfiffigen Advokaten und die bestochenen Richter rufen, die Sache untersuchen und verurteilte allesamt zum Tod. Sie wurden in Gestalt einer Glocke aufgehängt, und in ihrer Mitte zappelte der Graf. Seitdem aber kam die Gerechtigkeit wieder zum Leben, und die Richter sprachen Recht, wie es sich geziemt.

(mündlich bei Reutte)
[Österreich: Ignaz und Joseph Zingerle: Kinder und Hausmärchen aus Süddeutschland]

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