1
(2)
Vor langer, langer Zeit rüsteten alle vierfüßigen Thiere gegen die Vögel zum Krieg. Der Sohn des Königs von Tethertown sagte, er wolle ausziehen, um die Schlacht zu sehen und seinem Vater zu berichten, wer dieses Jahr König der Thiere sein werde. Als er ankam, war die Schlacht bereits vorüber, nur ein Rabe und eine Schlange waren noch in heftigem Kampfe begriffen, und es schien, als sollte die Schlange den Sieg über den Raben davontragen. Als dies der Königssohn sah, eilte er dem Raben zu Hilfe und schlug mit einem Hiebe der Schlange den Kopf ab. Sobald der Rabe sich von seiner Erschöpfung erholte und die Schlange todt daliegen sah, sprach er: »Für den Dienst, den du mir erwiesen hast, will ich dir etwas zeigen. Setze dich dorthin, wo meine beiden Flügel sprießen.«
Der Königssohn bestieg den Raben, und der trug ihn, ohne anzuhalten, über sieben Berge, sieben Thäler und sieben Heiden.
»Nun denn,« sagte der Rabe, »siehst du jenes Haus dort? Darauf gehe jetzt los. Drinnen wohnt eine Schwester von mir, ich bürge dafür, dass du willkommen bist. Und wenn sie dich fragt: Bist du bei der Vogelschlacht dabei gewesen? so sage Ja. Und wenn sie dich fragt: Hast du mein Ebenbild gesehen? so sage: Ja. Aber vergiss nicht, mich morgen früh bestimmt an dieser Stelle zu treffen.«
Der Königssohn wurde in dieser Nacht vortrefflich bewirtet. Er bekam von jeder Speise zu essen, von jedem Getränke zu trinken, warmes Wasser für seine Füße und ein weiches Bett für seine Glieder.
Am folgenden Tage trug ihn der Rabe wieder über sieben Berge, sieben Thäler und sieben Heiden. In weiter Ferne stand eine Hütte, aber so weit es auch war, sie waren doch bald zur Stelle. Er wurde wieder vortrefflich bewirtet; er bekam Speise und Trank in Hülle und Fülle, warmes Wasser für die Füße und ein weiches Bett für seine Glieder. Geradeso gieng es am folgenden Tage.
Am dritten Morgen war der Rabe nicht zur Stelle; aber was glaubt Ihr wohl, wen der Königssohn sah? Einen wunderschönen Jüngling mit einem Bündel in der Hand. Der Königssohn fragte ihn, ob er nicht einen großen, schwarzen Raben gesehen hätte. Da sagte der Jüngling zu ihm: »Du wirst den Raben niemals wieder sehen, denn der Rabe war ich. Ich war verzaubert, und du hast mich erlöst, dafür bekommst du dieses Bündel zum Lohn. Jetzt gehe denselben Weg wieder zurück und schlafe jede Nacht in demselben Hause wie gestern und vorgestern; aber du darfst das Bündel nicht verlieren, bis du an dem Orte bist, der dir auf Erden am besten gefällt.«
Der Königssohn wandte dem Jünglinge den Rücken und sein Antlitz dem Vaterhause zu, und wieder wurde er von den Schwestern des Raben bewirtet, wie die Abende vorher. Als er sich schon dem Hause seines Vaters näherte, führte der Weg durch einen dichten Wald. Das Bündel schien ihm immer schwerer zu werden, und er wurde begierig, zu sehen, was es enthielt.
Wie erstaunt war er, als er das Bündel öffnete! In einem Augenblick stand die größte Herrlichkeit vor ihm; ein großes Schloss und ein Garten ringsum, in welchem sich alle Arten von Früchten und Kräutern befanden. Voll Verwunderung und Bedauern sah er, dass er nicht imstande war, das Bündel wieder zu schließen; wie gerne hätte er die ganze Herrlichkeit in dem schönen grünen Thale gegenüber dem Hause seines Vaters gesehen! Wie er von dem Bündel aufsah, stand plötzlich ein Riese vor ihm.
»Auf einem schlechten Platze, o Königssohn, hast du dein Haus gebaut,« sagte der Riese.
»Gegen meinen Wunsch und zu meinem Schmerze ist es hieher gerathen,« sagte der Königssohn.
»Was gibst du mir, wenn ich alles wieder in das Bündel thue, wie es zuvor war?« fragte der Riese.
»Was verlangst du von mir?« fragte der Königssohn.
»Gib mir deinen erstgeborenen Sohn, wenn er das Alter von sieben Jahren erreicht hat,« sagte der Riese.
»Wenn ich einen Sohn bekomme, sollst du ihn haben,« sagte der Königssohn.
Im Nu that der Riese Schloss und Garten wieder in das Bündel.
»Nun,« sagte er, »gehe du deinen Weg, und ich gehe meinen; aber gedenke deines Versprechens, und wenn du es auch vergessen solltest, ich werde es im Gedächtnis behalten.«
Der Königssohn machte sich auf den Weg, und nach wenigen Tagen erreichte er den Ort, der ihm auf der Welt der liebste war. Er öffnete das Bündel, und die Herrlichkeit war richtig darin wie zuvor. Als er aber das Thor des Schlosses öffnete, sah er die schönste Jungfrau, der er jemals begegnet war. »Tritt ein, o Königssohn,« sprach sie, »alles ist für dich bereit, wenn du mich noch heute heiraten willst.«
»Von Herzen gern!« sagte der Königssohn, und so wurden sie noch am selben Tage getraut.
Als aber sieben Jahre und ein Tag um waren, kam der Riese auf das Schloss. Der Königssohn hatte sein Versprechen nicht vergessen, hatte aber bis jetzt seiner Frau nichts davon gesagt. »Überlasse das nur mir,« sagte die Königin.
»Heraus mit deinem Sohne!« sagte der Riese, »denke an dein Versprechen.«
»Du sollst ihn haben,« antwortete der König, »wenn ihn seine Mutter für die Reise ausgestattet hat.«
Die Königin aber zog dem Sohne des Kochs schöne Kleider an und übergab ihn dem Riesen. Sie machten sich auf den Weg; als sie eine Strecke gegangen waren, gab der Riese dem Knaben eine Ruthe in die Hand und sprach: »Wenn dein Vater diese Ruthe in der Hand hätte, was würde er thun?«
»Wenn mein Vater die Ruthe in der Hand hätte, so würde er damit die Hunde und Katzen von den Speisen des Königs wegscheuchen,« sagte der Knabe.
»Du bist der Sohn des Kochs,« sagte der Riese, packte ihn bei den Knöcheln und schlug ihn gegen einen der Felsen, die sich rechts und links erhoben.
Darauf eilte er in wüthendem Zorne zum Schlosse zurück und schrie, man solle den Königssohn herausgeben, sonst werde er das Oberste zu unterst kehren.
Da sprach die Königin zum König: »Wir wollen es noch einmal versuchen; der Sohn des Kellermeisters ist im selben Alter wie unser Kind.«
Sie zog dem Sohne des Kellermeisters schöne Kleider an und übergab ihn dem Riesen. Er war nicht weit gegangen, als er dem Knaben die Ruthe in die Hand gab. »Wenn dein Vater diese Ruthe hätte, was würde er thun?«
»Er würde damit die Hunde und Katzen von den Gläsern und Flaschen verscheuchen,« antwortete das Kind.
»Du bist der Sohn des Kellermeisters,« rief der Riese und erschlug auch ihn an der Felswand. Er kehrte in fürchterlicher Wuth zurück; die Erde erbebte unter seinen Tritten, und das Schloss mit allem, was darin war, zitterte. »Heraus mit deinem Sohne!!!« schrie er, »sonst wird das Oberste zu unterst gekehrt.«
Da mussten sie ihm denn das Kind übergeben.
Der Riese brachte den Knaben in sein Haus und erzog ihn als seinen eigenen Sohn. Eines Tages, als der Riese fortgegangen war, hörte der Knabe die süßeste Musik, die er jemals vernommen hatte; sie kam von einem Zimmer im höchsten Stockwerke des Hauses her. Wie er hinaufsah, erblickte er das schönste Fräulein, das ihm jemals begegnet war. Sie winkte ihm, näher zu kommen und sprach: »Morgen wird mein Vater es dir freistellen, eine meiner beiden Schwestern zu heiraten; du aber sage, du wollest keine von ihnen, sondern mich zur Frau. Mein Vater will mich an den König der grünen Stadt verheiraten, aber ich kann ihn nicht ausstehen.«
Am folgenden Tage führte ihm der Riese seine drei Töchter vor und sprach: »Sohn des Königs von Tethertown, es soll dein Schade nicht sein, dass du so lange in meinem Hause gelebt hast. Du darfst dir eine von meinen zwei ältesten Töchtern zur Frau aussuchen und darfst mit ihr am Tage nach der Hochzeit in deine Heimat ziehen.«
»Wenn du mir,« sagte der Königssohn, »diese hübsche Kleine geben willst, so nehme ich dich beim Wort.«
Der Riefe wurde furchtbar zornig und sprach: »Bevor du sie zur Frau bekommst, musst du drei Dinge verrichten.«
»Lass hören,« sagte der Königssohn.
Da führte ihn der Riese in den Stall und sprach: »Hier siehst du den Dünger von hundert Ochsen und Kühen, der seit sieben Jahren nicht weggeräumt wurde; ich gehe heute vom Hause fort, und wenn dieser Stall nicht bis zum Abend gereinigt ist, so dass ein goldener Apfel von einem Ende bis zum anderen rollt, so wirst du meine Tochter nicht bekommen, und dein Blut wird noch heute meinen Durst löschen.«
Der Königssohn begann den Stall zu reinigen, aber es war gerade so, als hätte er es versucht, das große Meer auszuschöpfen. Um die Mittagszeit, als ihm der Schweiß in Strömen von der Stirne rann, kam die Königstochter zu ihm und sprach: »Jetzt bist du gestraft, o Königssohn!«
»Ach ja,« sagte er.
»Komme zu mir herüber,« sprach sie, »und ruhe dich aus.«
»Das will ich,« sagte er, »sowieso gehe ich dem Tode entgegen.«
Er setzte sich neben sie und schlief vor Müdigkeit ein. Als er erwachte, war die Königstochter nicht zu sehen, aber der Stall war so gründlich gereinigt, dass ein goldener Apfel von einem Ende zum anderen rollen konnte.
Da kam der Riese herein und sagte: »Königssohn, hast du den Stall gereinigt?«
»Jawohl,« antwortete er.
»Jemand hat ihn gereinigt,« sagte der Riese.
»Du hast es gewiss nicht gethan,« sagte der Königssohn.
»Schon gut,« sagte der Riese, »da du heute so fleißig gewesen bist, so gebe ich dir Zeit bis morgen um dieselbe Stunde, den Stall mit Flaumfedern zu decken, aber nicht zwei von ihnen dürfen die gleiche Farbe haben.«
Der Königssohn stand vor der Sonne auf, nahm Bogen und Pfeile und gieng hinaus, um die Vögel zu tödten. Er lief hinter ihnen her, bis ihm der Schweiß von der Stirne rann. Um die Mittagsstunde kam die Tochter des Riesen daher.
»Königssohn, du verschwendest deine Kraft,« sagte sie.
»Ach ja,« antwortete er, »ich habe erst zwei Amseln geschossen, und beide sind von der gleichen Farbe.«
»Komm‘ herüber und ruh‘ dich aus,« sagte sie.
»Recht gerne,« antwortete er.
Er gieng zu ihr hinüber, setzte sich neben sie und schlief vor Ermüdung ein. Als er erwachte, war die Tochter des Riesen verschwunden, der Stall aber war mit Federn gedeckt.
Der Riese kam nach Hause und sprach: »Königssohn, hast du den Stall gedeckt?«
»Jawohl,« antwortete er.
»Jemand hat ihn gedeckt,« sagte der Riese.
»Du hast es gewiss nicht gethan,« sagte der Königssohn.
»Schon gut,« sagte der Riese, »gib acht. Neben jenem See dort steht ein Fichtenbaum, in dessen Wipfel hat eine Elster ihr Nest. Die Eier, die du in dem Neste finden wirst, muss ich zu meiner ersten Mahlzeit haben, nicht eines von ihnen darfst du zerbrechen, und es sind ihrer fünf in dem Neste.«
Früh am Morgen gieng der Königssohn aus, um den Baum zu suchen, und es war auch nicht schwer, ihn zu finden; es gab nicht seinesgleichen im ganzen Wald. Er maß von der Wurzel bis zum ersten Zweige fünfhundert Fuß. Rathlos gieng der Königssohn immer wieder um den Baum. Da kam sie, die ihm stets Hilfe brachte in der Noth.
»Der Baum schindet dir die Haut von Händen und Füßen,« sprach sie.
»Ach ja,« sagte er, »ich bemühe mich umsonst, auf den Baum zu gelangen.«
»Es ist keine Zeit zu verlieren,« sagte die Tochter des Riesen, steckte einen Finger nach dem anderen in den Baum und machte so eine Leiter für den Königssohn, damit er zum Neste der Elster gelange.
Als er oben beim Neste war, rief sie: »Spute dich jetzt mit den Eiern, denn ich spüre den Athem meines Vaters im Rücken.«
In der Eile ließ sie den kleinen Finger im Wipfel des Baumes stecken.
»Jetzt,« sprach sie, »eile mit den Eiern nach Hause, und noch heute werde ich deine Frau, wenn du mich erkennst. Ich und meine beiden Schwestern werden ganz gleich gekleidet sein und ganz gleich aussehen. Wenn nun mein Vater sagt: ‚Königssohn, nimm‘ dir deine Frau,‘ so wirst du mich an der Hand erkennen, an welcher der kleine Finger fehlt.«
Er gieng hin und übergab dem Riesen die Eier.
»Schon gut,« sagte der Riese, »jetzt mache dich für die Hochzeit bereit.«
Wirklich fand die Hochzeit statt. War das eine Hochzeit! Riesen und Edelleute und der Sohn des Königs von der grünen Stadt waren unter den Gästen. Nachdem sie getraut worden waren, begann der Tanz. War das ein Tanz! Das Haus des Riesen erdröhnte vom First bis in den Keller. Dann sagte der Riese: »Königssohn, jetzt suche dir deine Frau.«
Sie streckte die Hand aus, an welcher der kleine Finger fehlte, und er nahm sie bei der Hand.
»Du hast es auch diesmal getroffen,« sagte der Riese, »aber wer weiß, vielleicht werden wir uns noch in anderer Weise begegnen.«
Als sie sich zur Ruhe begaben, sagte sie: »Du darfst nicht schlafen, sonst geht es dir ans Leben. Wir müssen fliehen, schnell, schnell, sonst wird dich mein Vater tödten.«
Sie giengen hinaus und setzten sich auf das graue Füllen des Riesen. »Warte eine Weile,« sagte sie, »ich habe vorher noch einiges zu verrichten.«
Sie eilte hinein, schnitt einen Apfel in neun Stücke, legte zwei Stücke zu Häupten des Bettes, zwei zu Füßen des Bettes, zwei vor die Küchenthür, zwei vor das große Thor und ein Stück draußen vor das Haus. Der Riese erwachte und rief: »Schlaft Ihr schon?«
»Noch nicht,« rief der Apfel zu Häupten des Bettes.
Nach einer Weile wiederholte er seine Frage.
»Noch nicht,« rief der Apfel zu Füßen des Bettes.
Nach einer Weile wiederholte er von neuem seine Frage.
»Noch nicht,« antwortete der Apfel vor der Küchenthüre.
Noch einmal rief sie der Riese an; diesmal antwortete der Apfel vor dem großen Thore.
»Ihr geht ja von mir fort,« rief der Riese.
»Noch nicht,« antwortete der Apfel draußen vor dem Hause.
»Ihr entflieht ja,« rief der Riese, sprang auf und gieng zum Bette; das aber war kalt und leer.
»Das sind die Streiche meiner Tochter,« sagte der Riese, »ihnen nach!«
Bei Tagesanbruch sagte die Tochter des Riesen: »Ich spüre den Athem meines Vaters im Rücken. Schnell, stecke deine Hand in das Ohr des grauen Füllens, und was du darin findest, wirf hinter dich!«
»Es ist ein Zweiglein von einem Schlehenbusch,« sagte er.
»Wirf es hinter dich,« antwortete sie.
Kaum hatte er dies gethan, als sich ein zwanzig Meilen langer Wald von dichtem Schlehdorngestrüpp erhob, so dicht, dass kaum ein Wiesel hindurchzuschlüpfen vermochte. Der Riese prallte gegen das Gestrüpp und zerriss sich Kopf und Nacken an den Dornen.
»Wieder die Streiche meiner Tochter,« sagte der Riese, »hätte ich nur Axt und Messer bei mir, es würde mir nicht schwer werden, einen Pfad durch den Wald zu hauen.«
Er eilte nach Hause, holte sich Axt und Messer, war im Nu zurück, und wie war er hinter der Arbeit her! Bald war der Weg durch das Gestrüpp gebahnt.
»Jetzt lass ich Axt und Messer hier, bis ich zurückkomme,« sprach er.
»Wenn du sie hier lässt,« sagte eine Krähe, »so werden wir sie stehlen.«
Der Riese trug Axt und Messer nach Hause zurück.
Um die Zeit der Mittagsglut spürte die Tochter des Riesen den Athem ihres Vaters im Rücken.
»Stecke deinen Finger in das Ohr des Füllens und wirf hinter dich, was du darin findest.«
Er zog einen Splitter grauen Sandsteines hervor, und im Nu erhob sich ein Gebirge von grauem Sandstein, zwanzig Meilen breit und zwanzig Meilen hoch, hinter ihnen. Der Riese prallte gegen das Gestein, aber er konnte nicht hindurch.
»Die Streiche meiner Tochter geben mir zu schaffen,« sagte der Riese, »hätte ich Hammer und Stange bei mir, so würde es mir nicht schwer werden, mir auch durch das Gestein einen Weg zu brechen.«
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als umzukehren, um Hammer und Stange zu holen. Wie war er hinter der Arbeit her! Alsbald war der Weg durch das Gestein gebrochen.
»Jetzt lass ich mein Werkzeug hier und kehre nicht zurück.«
»Wenn du sie hier lässt,« sagte die Krähe, »so werde ich sie stehlen.«
»Thu‘ das, wenn du willst, ich habe keine Zeit, zurückzugehen.«
Beim Anbruch der Nacht sagte die Tochter des Riesen: »Ich spüre den Athem meines Vaters im Rücken. Königssohn, suche im Ohre des Füllens, sonst sind wir verloren.«
Diesmal fand er eine Blase voll Wasser im Ohr. Er warf sie hinter sich, und im Nu erstreckte sich ein Süßwassersee, zwanzig Meilen breit und zwanzig Meilen lang, hinter ihnen. Der Riese eilte spornstreichs mitten in den See, gieng unter und ward nicht mehr gesehen.
Am nächsten Tage erblickten sie das Haus, das dem Vater des Königssohnes gehörte. Da sprach die Tochter des Riesen: »Mein Vater ist todt, von ihm haben wir also nichts mehr zu befürchten. Bevor wir aber weitergehen, begib du dich in das Haus deines Vaters und sag‘ ihm, wer mit dir gekommen ist. Nimm dich aber wohl inacht, dass weder Mensch noch Thier dich küsse, sonst wirst du vergessen, dass du mich jemals gesehen hast.«
Jedermann, der ihn traf, hieß ihn herzlich willkommen, und er ließ sich weder vom Vater, noch von der Mutter küssen. Aber das Unglück wollte, dass ein Windspiel ihn erkannte und vor Freude an ihm hinaufsprang und seinen Mund beleckte. Darauf entschwand ihm die Tochter des Riesen aus dem Sinn. Sie hatte sich an den Brunnenrand gesetzt, als sie der Königssohn verlassen hatte, und sie wartete vergeblich auf seine Rückkehr. Beim Einbruche der Nacht kletterte sie auf einen Eichenbaum neben dem Brunnen und brachte die ganze Nacht dort zu. Ein Schuhmacher wohnte in der Nähe, und um die Mittagszeit des folgenden Tages hieß er seine Frau zum Brunnen gehen, um ihm einen Trunk Wasser zu holen. Als sie zum Brunnen kam und den Schatten im Wasser sah, der von der Tochter des Riesen herrührte, hielt sie ihn für ihren eigenen und war über ihre Schönheit so erstaunt, dass ihr das Gefäß auf den Boden fiel und zerbrach; so kehrte sie denn ohne Gefäß und Wasser ins Haus zurück.
»Wo ist denn das Wasser, Frau?« fragte der Schuhmacher.
»Du krummbeiniges, altes Scheusal, ich bin lange genug deine Magd gewesen.«
»Frau, ich glaube, du hast den Verstand verloren. Geh‘ du, meine Tochter, schnell, und hole deinem Vater einen Trunk Wasser.«
Wie es der Mutter ergangen war, so ergieng es der Tochter.
»Wo ist das Wasser?« fragte der Vater.
»Du jämmerlicher Flickschuster, ich bin viel zu gut für dich, suche dir eine andere Magd.«
Der arme Schuhmacher meinte, sie wären beide um den Verstand gekommen und gieng selbst zum Brunnen. Er sah den Schatten der Jungfrau im Wasser, und wie er zum Baum hinaufblickte, sah er das schönste Weib, dem er jemals begegnet war.
»Du hast einen unsicheren Platz, aber ein schönes Gesicht,« sagte er, »komm‘ herunter, du kannst dich eine Zeitlang in meinem Hause nützlich machen.«
Der Schuhmacher merkte, dass es ihr Schatten war, der Frau und Tochter um den Verstand gebracht hatte. Er nahm sie in sein Haus und sagte ihr, dass er wohl nur eine ärmliche Hütte besitze, dass er aber alles ehrlich mit ihr theilen wolle.
Nach einigen Tagen kamen mehrere Edelleute in das Haus des Schuhmachers, um Schuhe zu kaufen, denn der Königssohn war zurückgekehrt, und seine Hochzeit stand bevor. Sie sahen die Tochter des Riesen und waren von ihrer Schönheit geblendet.
»Du hast eine schöne Tochter,« sagten sie zum Schuhmacher.
»Sie ist wohl schön,« antwortete er, »aber nicht meine Tochter.«
»Der Tausend,« sagte einer von ihnen, »ich würde es mich hundert Pfund kosten lassen, könnt‘ ich sie zur Frau bekommen.« Die anderen Edelleute sagten dasselbe.
Da sagte der Schuhmacher, dass er keinerlei Macht über sie besitze.
Als die Schuhe fertig waren und der Schuhmacher im Begriffe war, sie in das Schloss des Königs zu tragen, sagte die Tochter des Riesen: »Ich möchte gerne den Königssohn sehen, bevor er sich vermählt.«
»So komm‘ mit mir,« antwortete der Schuhmacher, »die Diener im Schlosse kennen mich wohl, und du sollst den Königssohn und die ganze Gesellschaft sehen.«
Als die Edelleute die schöne Jungfrau erblickten, führten sie sie in den Hochzeitssaal und boten ihr ein Glas Wein an. Sie führte das Glas zum Munde, da züngelte eine Flamme daraus hervor, und eine goldene und eine silberne Taube flogen heraus. Während sie im Saale herumflogen, fielen drei Gerstenkörner auf den Boden. Die silberne Taube eilte auf sie zu und pickte sie auf. Da sagte die goldene Taube zu ihr: »Dächtest du daran, wie ich den Stall reinigte, so würdest du nicht essen, ohne mir meinen Antheil zu geben.«
Wieder fielen drei Gerstenkörner zu Boden, und wieder aß sie die silberne Taube wie zuvor.
»Dächtest du daran, wie ich den Stall deckte, so würdest du nicht essen, ohne mir meinen Antheil zu geben,« sagte die goldene Taube.
Und wieder fielen drei Körner zu Boden, und wieder aß sie die silberne Taube.
»Dächtest du daran, wie ich das Nest der Elster aushob,« sagte die goldene Taube, »so würdest du nicht essen, ohne mir meinen Antheil zu geben. Ich habe dabei meinen kleinen Finger verloren, und er fehlt mir noch jetzt.«
Da kehrte dem Königssohne das Gedächtnis zurück, und er wusste, wer sie war. Er eilte auf sie zu und küsste sie von der Hand bis zum Mund. Und als der Priester kam, wurden sie zum zweitenmale vermählt.
Der Königssohn bestieg den Raben, und der trug ihn, ohne anzuhalten, über sieben Berge, sieben Thäler und sieben Heiden.
»Nun denn,« sagte der Rabe, »siehst du jenes Haus dort? Darauf gehe jetzt los. Drinnen wohnt eine Schwester von mir, ich bürge dafür, dass du willkommen bist. Und wenn sie dich fragt: Bist du bei der Vogelschlacht dabei gewesen? so sage Ja. Und wenn sie dich fragt: Hast du mein Ebenbild gesehen? so sage: Ja. Aber vergiss nicht, mich morgen früh bestimmt an dieser Stelle zu treffen.«
Der Königssohn wurde in dieser Nacht vortrefflich bewirtet. Er bekam von jeder Speise zu essen, von jedem Getränke zu trinken, warmes Wasser für seine Füße und ein weiches Bett für seine Glieder.
Am folgenden Tage trug ihn der Rabe wieder über sieben Berge, sieben Thäler und sieben Heiden. In weiter Ferne stand eine Hütte, aber so weit es auch war, sie waren doch bald zur Stelle. Er wurde wieder vortrefflich bewirtet; er bekam Speise und Trank in Hülle und Fülle, warmes Wasser für die Füße und ein weiches Bett für seine Glieder. Geradeso gieng es am folgenden Tage.
Am dritten Morgen war der Rabe nicht zur Stelle; aber was glaubt Ihr wohl, wen der Königssohn sah? Einen wunderschönen Jüngling mit einem Bündel in der Hand. Der Königssohn fragte ihn, ob er nicht einen großen, schwarzen Raben gesehen hätte. Da sagte der Jüngling zu ihm: »Du wirst den Raben niemals wieder sehen, denn der Rabe war ich. Ich war verzaubert, und du hast mich erlöst, dafür bekommst du dieses Bündel zum Lohn. Jetzt gehe denselben Weg wieder zurück und schlafe jede Nacht in demselben Hause wie gestern und vorgestern; aber du darfst das Bündel nicht verlieren, bis du an dem Orte bist, der dir auf Erden am besten gefällt.«
Der Königssohn wandte dem Jünglinge den Rücken und sein Antlitz dem Vaterhause zu, und wieder wurde er von den Schwestern des Raben bewirtet, wie die Abende vorher. Als er sich schon dem Hause seines Vaters näherte, führte der Weg durch einen dichten Wald. Das Bündel schien ihm immer schwerer zu werden, und er wurde begierig, zu sehen, was es enthielt.
Wie erstaunt war er, als er das Bündel öffnete! In einem Augenblick stand die größte Herrlichkeit vor ihm; ein großes Schloss und ein Garten ringsum, in welchem sich alle Arten von Früchten und Kräutern befanden. Voll Verwunderung und Bedauern sah er, dass er nicht imstande war, das Bündel wieder zu schließen; wie gerne hätte er die ganze Herrlichkeit in dem schönen grünen Thale gegenüber dem Hause seines Vaters gesehen! Wie er von dem Bündel aufsah, stand plötzlich ein Riese vor ihm.
»Auf einem schlechten Platze, o Königssohn, hast du dein Haus gebaut,« sagte der Riese.
»Gegen meinen Wunsch und zu meinem Schmerze ist es hieher gerathen,« sagte der Königssohn.
»Was gibst du mir, wenn ich alles wieder in das Bündel thue, wie es zuvor war?« fragte der Riese.
»Was verlangst du von mir?« fragte der Königssohn.
»Gib mir deinen erstgeborenen Sohn, wenn er das Alter von sieben Jahren erreicht hat,« sagte der Riese.
»Wenn ich einen Sohn bekomme, sollst du ihn haben,« sagte der Königssohn.
Im Nu that der Riese Schloss und Garten wieder in das Bündel.
»Nun,« sagte er, »gehe du deinen Weg, und ich gehe meinen; aber gedenke deines Versprechens, und wenn du es auch vergessen solltest, ich werde es im Gedächtnis behalten.«
Der Königssohn machte sich auf den Weg, und nach wenigen Tagen erreichte er den Ort, der ihm auf der Welt der liebste war. Er öffnete das Bündel, und die Herrlichkeit war richtig darin wie zuvor. Als er aber das Thor des Schlosses öffnete, sah er die schönste Jungfrau, der er jemals begegnet war. »Tritt ein, o Königssohn,« sprach sie, »alles ist für dich bereit, wenn du mich noch heute heiraten willst.«
»Von Herzen gern!« sagte der Königssohn, und so wurden sie noch am selben Tage getraut.
Als aber sieben Jahre und ein Tag um waren, kam der Riese auf das Schloss. Der Königssohn hatte sein Versprechen nicht vergessen, hatte aber bis jetzt seiner Frau nichts davon gesagt. »Überlasse das nur mir,« sagte die Königin.
»Heraus mit deinem Sohne!« sagte der Riese, »denke an dein Versprechen.«
»Du sollst ihn haben,« antwortete der König, »wenn ihn seine Mutter für die Reise ausgestattet hat.«
Die Königin aber zog dem Sohne des Kochs schöne Kleider an und übergab ihn dem Riesen. Sie machten sich auf den Weg; als sie eine Strecke gegangen waren, gab der Riese dem Knaben eine Ruthe in die Hand und sprach: »Wenn dein Vater diese Ruthe in der Hand hätte, was würde er thun?«
»Wenn mein Vater die Ruthe in der Hand hätte, so würde er damit die Hunde und Katzen von den Speisen des Königs wegscheuchen,« sagte der Knabe.
»Du bist der Sohn des Kochs,« sagte der Riese, packte ihn bei den Knöcheln und schlug ihn gegen einen der Felsen, die sich rechts und links erhoben.
Darauf eilte er in wüthendem Zorne zum Schlosse zurück und schrie, man solle den Königssohn herausgeben, sonst werde er das Oberste zu unterst kehren.
Da sprach die Königin zum König: »Wir wollen es noch einmal versuchen; der Sohn des Kellermeisters ist im selben Alter wie unser Kind.«
Sie zog dem Sohne des Kellermeisters schöne Kleider an und übergab ihn dem Riesen. Er war nicht weit gegangen, als er dem Knaben die Ruthe in die Hand gab. »Wenn dein Vater diese Ruthe hätte, was würde er thun?«
»Er würde damit die Hunde und Katzen von den Gläsern und Flaschen verscheuchen,« antwortete das Kind.
»Du bist der Sohn des Kellermeisters,« rief der Riese und erschlug auch ihn an der Felswand. Er kehrte in fürchterlicher Wuth zurück; die Erde erbebte unter seinen Tritten, und das Schloss mit allem, was darin war, zitterte. »Heraus mit deinem Sohne!!!« schrie er, »sonst wird das Oberste zu unterst gekehrt.«
Da mussten sie ihm denn das Kind übergeben.
Der Riese brachte den Knaben in sein Haus und erzog ihn als seinen eigenen Sohn. Eines Tages, als der Riese fortgegangen war, hörte der Knabe die süßeste Musik, die er jemals vernommen hatte; sie kam von einem Zimmer im höchsten Stockwerke des Hauses her. Wie er hinaufsah, erblickte er das schönste Fräulein, das ihm jemals begegnet war. Sie winkte ihm, näher zu kommen und sprach: »Morgen wird mein Vater es dir freistellen, eine meiner beiden Schwestern zu heiraten; du aber sage, du wollest keine von ihnen, sondern mich zur Frau. Mein Vater will mich an den König der grünen Stadt verheiraten, aber ich kann ihn nicht ausstehen.«
Am folgenden Tage führte ihm der Riese seine drei Töchter vor und sprach: »Sohn des Königs von Tethertown, es soll dein Schade nicht sein, dass du so lange in meinem Hause gelebt hast. Du darfst dir eine von meinen zwei ältesten Töchtern zur Frau aussuchen und darfst mit ihr am Tage nach der Hochzeit in deine Heimat ziehen.«
»Wenn du mir,« sagte der Königssohn, »diese hübsche Kleine geben willst, so nehme ich dich beim Wort.«
Der Riefe wurde furchtbar zornig und sprach: »Bevor du sie zur Frau bekommst, musst du drei Dinge verrichten.«
»Lass hören,« sagte der Königssohn.
Da führte ihn der Riese in den Stall und sprach: »Hier siehst du den Dünger von hundert Ochsen und Kühen, der seit sieben Jahren nicht weggeräumt wurde; ich gehe heute vom Hause fort, und wenn dieser Stall nicht bis zum Abend gereinigt ist, so dass ein goldener Apfel von einem Ende bis zum anderen rollt, so wirst du meine Tochter nicht bekommen, und dein Blut wird noch heute meinen Durst löschen.«
Der Königssohn begann den Stall zu reinigen, aber es war gerade so, als hätte er es versucht, das große Meer auszuschöpfen. Um die Mittagszeit, als ihm der Schweiß in Strömen von der Stirne rann, kam die Königstochter zu ihm und sprach: »Jetzt bist du gestraft, o Königssohn!«
»Ach ja,« sagte er.
»Komme zu mir herüber,« sprach sie, »und ruhe dich aus.«
»Das will ich,« sagte er, »sowieso gehe ich dem Tode entgegen.«
Er setzte sich neben sie und schlief vor Müdigkeit ein. Als er erwachte, war die Königstochter nicht zu sehen, aber der Stall war so gründlich gereinigt, dass ein goldener Apfel von einem Ende zum anderen rollen konnte.
Da kam der Riese herein und sagte: »Königssohn, hast du den Stall gereinigt?«
»Jawohl,« antwortete er.
»Jemand hat ihn gereinigt,« sagte der Riese.
»Du hast es gewiss nicht gethan,« sagte der Königssohn.
»Schon gut,« sagte der Riese, »da du heute so fleißig gewesen bist, so gebe ich dir Zeit bis morgen um dieselbe Stunde, den Stall mit Flaumfedern zu decken, aber nicht zwei von ihnen dürfen die gleiche Farbe haben.«
Der Königssohn stand vor der Sonne auf, nahm Bogen und Pfeile und gieng hinaus, um die Vögel zu tödten. Er lief hinter ihnen her, bis ihm der Schweiß von der Stirne rann. Um die Mittagsstunde kam die Tochter des Riesen daher.
»Königssohn, du verschwendest deine Kraft,« sagte sie.
»Ach ja,« antwortete er, »ich habe erst zwei Amseln geschossen, und beide sind von der gleichen Farbe.«
»Komm‘ herüber und ruh‘ dich aus,« sagte sie.
»Recht gerne,« antwortete er.
Er gieng zu ihr hinüber, setzte sich neben sie und schlief vor Ermüdung ein. Als er erwachte, war die Tochter des Riesen verschwunden, der Stall aber war mit Federn gedeckt.
Der Riese kam nach Hause und sprach: »Königssohn, hast du den Stall gedeckt?«
»Jawohl,« antwortete er.
»Jemand hat ihn gedeckt,« sagte der Riese.
»Du hast es gewiss nicht gethan,« sagte der Königssohn.
»Schon gut,« sagte der Riese, »gib acht. Neben jenem See dort steht ein Fichtenbaum, in dessen Wipfel hat eine Elster ihr Nest. Die Eier, die du in dem Neste finden wirst, muss ich zu meiner ersten Mahlzeit haben, nicht eines von ihnen darfst du zerbrechen, und es sind ihrer fünf in dem Neste.«
Früh am Morgen gieng der Königssohn aus, um den Baum zu suchen, und es war auch nicht schwer, ihn zu finden; es gab nicht seinesgleichen im ganzen Wald. Er maß von der Wurzel bis zum ersten Zweige fünfhundert Fuß. Rathlos gieng der Königssohn immer wieder um den Baum. Da kam sie, die ihm stets Hilfe brachte in der Noth.
»Der Baum schindet dir die Haut von Händen und Füßen,« sprach sie.
»Ach ja,« sagte er, »ich bemühe mich umsonst, auf den Baum zu gelangen.«
»Es ist keine Zeit zu verlieren,« sagte die Tochter des Riesen, steckte einen Finger nach dem anderen in den Baum und machte so eine Leiter für den Königssohn, damit er zum Neste der Elster gelange.
Als er oben beim Neste war, rief sie: »Spute dich jetzt mit den Eiern, denn ich spüre den Athem meines Vaters im Rücken.«
In der Eile ließ sie den kleinen Finger im Wipfel des Baumes stecken.
»Jetzt,« sprach sie, »eile mit den Eiern nach Hause, und noch heute werde ich deine Frau, wenn du mich erkennst. Ich und meine beiden Schwestern werden ganz gleich gekleidet sein und ganz gleich aussehen. Wenn nun mein Vater sagt: ‚Königssohn, nimm‘ dir deine Frau,‘ so wirst du mich an der Hand erkennen, an welcher der kleine Finger fehlt.«
Er gieng hin und übergab dem Riesen die Eier.
»Schon gut,« sagte der Riese, »jetzt mache dich für die Hochzeit bereit.«
Wirklich fand die Hochzeit statt. War das eine Hochzeit! Riesen und Edelleute und der Sohn des Königs von der grünen Stadt waren unter den Gästen. Nachdem sie getraut worden waren, begann der Tanz. War das ein Tanz! Das Haus des Riesen erdröhnte vom First bis in den Keller. Dann sagte der Riese: »Königssohn, jetzt suche dir deine Frau.«
Sie streckte die Hand aus, an welcher der kleine Finger fehlte, und er nahm sie bei der Hand.
»Du hast es auch diesmal getroffen,« sagte der Riese, »aber wer weiß, vielleicht werden wir uns noch in anderer Weise begegnen.«
Als sie sich zur Ruhe begaben, sagte sie: »Du darfst nicht schlafen, sonst geht es dir ans Leben. Wir müssen fliehen, schnell, schnell, sonst wird dich mein Vater tödten.«
Sie giengen hinaus und setzten sich auf das graue Füllen des Riesen. »Warte eine Weile,« sagte sie, »ich habe vorher noch einiges zu verrichten.«
Sie eilte hinein, schnitt einen Apfel in neun Stücke, legte zwei Stücke zu Häupten des Bettes, zwei zu Füßen des Bettes, zwei vor die Küchenthür, zwei vor das große Thor und ein Stück draußen vor das Haus. Der Riese erwachte und rief: »Schlaft Ihr schon?«
»Noch nicht,« rief der Apfel zu Häupten des Bettes.
Nach einer Weile wiederholte er seine Frage.
»Noch nicht,« rief der Apfel zu Füßen des Bettes.
Nach einer Weile wiederholte er von neuem seine Frage.
»Noch nicht,« antwortete der Apfel vor der Küchenthüre.
Noch einmal rief sie der Riese an; diesmal antwortete der Apfel vor dem großen Thore.
»Ihr geht ja von mir fort,« rief der Riese.
»Noch nicht,« antwortete der Apfel draußen vor dem Hause.
»Ihr entflieht ja,« rief der Riese, sprang auf und gieng zum Bette; das aber war kalt und leer.
»Das sind die Streiche meiner Tochter,« sagte der Riese, »ihnen nach!«
Bei Tagesanbruch sagte die Tochter des Riesen: »Ich spüre den Athem meines Vaters im Rücken. Schnell, stecke deine Hand in das Ohr des grauen Füllens, und was du darin findest, wirf hinter dich!«
»Es ist ein Zweiglein von einem Schlehenbusch,« sagte er.
»Wirf es hinter dich,« antwortete sie.
Kaum hatte er dies gethan, als sich ein zwanzig Meilen langer Wald von dichtem Schlehdorngestrüpp erhob, so dicht, dass kaum ein Wiesel hindurchzuschlüpfen vermochte. Der Riese prallte gegen das Gestrüpp und zerriss sich Kopf und Nacken an den Dornen.
»Wieder die Streiche meiner Tochter,« sagte der Riese, »hätte ich nur Axt und Messer bei mir, es würde mir nicht schwer werden, einen Pfad durch den Wald zu hauen.«
Er eilte nach Hause, holte sich Axt und Messer, war im Nu zurück, und wie war er hinter der Arbeit her! Bald war der Weg durch das Gestrüpp gebahnt.
»Jetzt lass ich Axt und Messer hier, bis ich zurückkomme,« sprach er.
»Wenn du sie hier lässt,« sagte eine Krähe, »so werden wir sie stehlen.«
Der Riese trug Axt und Messer nach Hause zurück.
Um die Zeit der Mittagsglut spürte die Tochter des Riesen den Athem ihres Vaters im Rücken.
»Stecke deinen Finger in das Ohr des Füllens und wirf hinter dich, was du darin findest.«
Er zog einen Splitter grauen Sandsteines hervor, und im Nu erhob sich ein Gebirge von grauem Sandstein, zwanzig Meilen breit und zwanzig Meilen hoch, hinter ihnen. Der Riese prallte gegen das Gestein, aber er konnte nicht hindurch.
»Die Streiche meiner Tochter geben mir zu schaffen,« sagte der Riese, »hätte ich Hammer und Stange bei mir, so würde es mir nicht schwer werden, mir auch durch das Gestein einen Weg zu brechen.«
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als umzukehren, um Hammer und Stange zu holen. Wie war er hinter der Arbeit her! Alsbald war der Weg durch das Gestein gebrochen.
»Jetzt lass ich mein Werkzeug hier und kehre nicht zurück.«
»Wenn du sie hier lässt,« sagte die Krähe, »so werde ich sie stehlen.«
»Thu‘ das, wenn du willst, ich habe keine Zeit, zurückzugehen.«
Beim Anbruch der Nacht sagte die Tochter des Riesen: »Ich spüre den Athem meines Vaters im Rücken. Königssohn, suche im Ohre des Füllens, sonst sind wir verloren.«
Diesmal fand er eine Blase voll Wasser im Ohr. Er warf sie hinter sich, und im Nu erstreckte sich ein Süßwassersee, zwanzig Meilen breit und zwanzig Meilen lang, hinter ihnen. Der Riese eilte spornstreichs mitten in den See, gieng unter und ward nicht mehr gesehen.
Am nächsten Tage erblickten sie das Haus, das dem Vater des Königssohnes gehörte. Da sprach die Tochter des Riesen: »Mein Vater ist todt, von ihm haben wir also nichts mehr zu befürchten. Bevor wir aber weitergehen, begib du dich in das Haus deines Vaters und sag‘ ihm, wer mit dir gekommen ist. Nimm dich aber wohl inacht, dass weder Mensch noch Thier dich küsse, sonst wirst du vergessen, dass du mich jemals gesehen hast.«
Jedermann, der ihn traf, hieß ihn herzlich willkommen, und er ließ sich weder vom Vater, noch von der Mutter küssen. Aber das Unglück wollte, dass ein Windspiel ihn erkannte und vor Freude an ihm hinaufsprang und seinen Mund beleckte. Darauf entschwand ihm die Tochter des Riesen aus dem Sinn. Sie hatte sich an den Brunnenrand gesetzt, als sie der Königssohn verlassen hatte, und sie wartete vergeblich auf seine Rückkehr. Beim Einbruche der Nacht kletterte sie auf einen Eichenbaum neben dem Brunnen und brachte die ganze Nacht dort zu. Ein Schuhmacher wohnte in der Nähe, und um die Mittagszeit des folgenden Tages hieß er seine Frau zum Brunnen gehen, um ihm einen Trunk Wasser zu holen. Als sie zum Brunnen kam und den Schatten im Wasser sah, der von der Tochter des Riesen herrührte, hielt sie ihn für ihren eigenen und war über ihre Schönheit so erstaunt, dass ihr das Gefäß auf den Boden fiel und zerbrach; so kehrte sie denn ohne Gefäß und Wasser ins Haus zurück.
»Wo ist denn das Wasser, Frau?« fragte der Schuhmacher.
»Du krummbeiniges, altes Scheusal, ich bin lange genug deine Magd gewesen.«
»Frau, ich glaube, du hast den Verstand verloren. Geh‘ du, meine Tochter, schnell, und hole deinem Vater einen Trunk Wasser.«
Wie es der Mutter ergangen war, so ergieng es der Tochter.
»Wo ist das Wasser?« fragte der Vater.
»Du jämmerlicher Flickschuster, ich bin viel zu gut für dich, suche dir eine andere Magd.«
Der arme Schuhmacher meinte, sie wären beide um den Verstand gekommen und gieng selbst zum Brunnen. Er sah den Schatten der Jungfrau im Wasser, und wie er zum Baum hinaufblickte, sah er das schönste Weib, dem er jemals begegnet war.
»Du hast einen unsicheren Platz, aber ein schönes Gesicht,« sagte er, »komm‘ herunter, du kannst dich eine Zeitlang in meinem Hause nützlich machen.«
Der Schuhmacher merkte, dass es ihr Schatten war, der Frau und Tochter um den Verstand gebracht hatte. Er nahm sie in sein Haus und sagte ihr, dass er wohl nur eine ärmliche Hütte besitze, dass er aber alles ehrlich mit ihr theilen wolle.
Nach einigen Tagen kamen mehrere Edelleute in das Haus des Schuhmachers, um Schuhe zu kaufen, denn der Königssohn war zurückgekehrt, und seine Hochzeit stand bevor. Sie sahen die Tochter des Riesen und waren von ihrer Schönheit geblendet.
»Du hast eine schöne Tochter,« sagten sie zum Schuhmacher.
»Sie ist wohl schön,« antwortete er, »aber nicht meine Tochter.«
»Der Tausend,« sagte einer von ihnen, »ich würde es mich hundert Pfund kosten lassen, könnt‘ ich sie zur Frau bekommen.« Die anderen Edelleute sagten dasselbe.
Da sagte der Schuhmacher, dass er keinerlei Macht über sie besitze.
Als die Schuhe fertig waren und der Schuhmacher im Begriffe war, sie in das Schloss des Königs zu tragen, sagte die Tochter des Riesen: »Ich möchte gerne den Königssohn sehen, bevor er sich vermählt.«
»So komm‘ mit mir,« antwortete der Schuhmacher, »die Diener im Schlosse kennen mich wohl, und du sollst den Königssohn und die ganze Gesellschaft sehen.«
Als die Edelleute die schöne Jungfrau erblickten, führten sie sie in den Hochzeitssaal und boten ihr ein Glas Wein an. Sie führte das Glas zum Munde, da züngelte eine Flamme daraus hervor, und eine goldene und eine silberne Taube flogen heraus. Während sie im Saale herumflogen, fielen drei Gerstenkörner auf den Boden. Die silberne Taube eilte auf sie zu und pickte sie auf. Da sagte die goldene Taube zu ihr: »Dächtest du daran, wie ich den Stall reinigte, so würdest du nicht essen, ohne mir meinen Antheil zu geben.«
Wieder fielen drei Gerstenkörner zu Boden, und wieder aß sie die silberne Taube wie zuvor.
»Dächtest du daran, wie ich den Stall deckte, so würdest du nicht essen, ohne mir meinen Antheil zu geben,« sagte die goldene Taube.
Und wieder fielen drei Körner zu Boden, und wieder aß sie die silberne Taube.
»Dächtest du daran, wie ich das Nest der Elster aushob,« sagte die goldene Taube, »so würdest du nicht essen, ohne mir meinen Antheil zu geben. Ich habe dabei meinen kleinen Finger verloren, und er fehlt mir noch jetzt.«
Da kehrte dem Königssohne das Gedächtnis zurück, und er wusste, wer sie war. Er eilte auf sie zu und küsste sie von der Hand bis zum Mund. Und als der Priester kam, wurden sie zum zweitenmale vermählt.
[Anna Kellner: Englische Märchen]