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Märchenbasar

Die Waldgeister

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Dort, im Wald, wo die Bäume am engsten beieinander stehen, wo es die Sonne nicht einmal, wenn sie am höchsten steht, durchs Dickicht schafft, da wohnen die Waldgeister. Kein Mensch hat sie je gesehen, aber es ranken sich unzählige Geschichten um sie, die die Alten abends beim Feuerschein erzählen:

Einst lebte in einer Hütte nahe am Waldesrand ein armer Köhler. Seine Frau hatte er im Kindbett verloren und so musste er sich neben der Arbeit auch noch um seine Zwillingssöhne Josef und Johann kümmern. Die beiden Buben waren recht aufgeweckt und ließen sich Tag für Tag neuen Schabernack einfallen.
Der Köhler verbot ihnen, in den Wald zu gehen.
„Es gibt dort wilde Tiere, giftige Kräuter, Pilze und Beeren und nicht zu vergessen, die Waldgeister. Wen sie einmal gefangen haben, der muss für sie unter der Erde arbeiten und bekommt nie wieder Tageslicht zu sehen.“
Die Zwillinge wurden durch die Rede des Vaters erst recht neugierig. Am nächsten Tag, als sie in der Nähe der Hütte spielten, sagte einer zum anderen: „Ich würde mir nur zu gern die Waldgeister aus der Nähe ansehen!“
„Der Vater hat´s verboten!“, wandte Josef ein.
„Er hat uns auch den Wald verboten, und doch spielen wir jeden Tag heimlich darin! Vielleicht haben sie unter der Erde Gold und Edelstein versteckt. Niemand hat sie je gesehen, wahrscheinlich gibt es sie gar nicht!“ Johann nahm den Bruder am Arm und zog ihn Richtung Wald. Er flüsterte verschwörerisch: „Stell dir vor, wir würden den Schatz der Waldgeister finden. Nie mehr müssten wir Hunger leiden, wir hätten neue Kleider und Vater müsste sich nicht mehr den Rücken krumm arbeiten.“
Da ließ sich Josef von Johann in den Wald führen. Sie liefen immer weiter, waren bald an Stellen angelangt, die sie vorher noch nie gesehen hatten und es dauerte nicht lange, bis sie jegliche Orientierung verloren.
„Ich habe Hunger! Wir hätten etwas zu essen mitnehmen sollen“, sagte Josef. „Es gibt hier doch genügend Beeren, Wurzeln und Pilze, die wir uns schmecken lassen können“, meinte Johann und wollte sich eine schwarze Beere in den Mund schieben. Doch der andere hielt ihn zurück. „Du weißt, was Vater gesagt hat! Sie könnte giftig sein! Lieber hungere ich noch eine Weile, bevor ich etwas esse, was ich nicht kenne.“
Diesmal hörte Johann auf seinen Bruder und so marschierten sie weiter in den Wald hinein. Das Vorankommen war jetzt schon mühsam, denn sie mussten sich ihren Weg durch dichtes Gewächs bahnen. Sie zerrissen sich die Hemden und zerkratzten sich Arme und Beine an den Dornen und Zweigen, doch zurück konnten sie nun auch nicht mehr.
Endlich kamen sie an eine kleine Lichtung. Erschöpft ließen sie sich nieder und blickten zum Himmel. Es war schon finster geworden und trotz der hohen Bäume ringsum konnten sie einige wenige Sterne sehen.
„Vater wird sich bestimmt Sorgen machen!“, sprach Josef.
„Wahrscheinlich! Ich habe die Lust auf die Waldgeister verloren!“, sagte der andere.
„Dann lass uns doch umkehren!“, meinte Josef.
„Ich bin müde und hungrig. Außerdem ist es Nacht. Da finden wir den Weg sowieso nicht!“, entgegnete der andere und kaum hatte er ausgesprochen, fielen ihm schon die Augen zu und er war tief und fest eingeschlafen.
Josef war genauso erschöpft, wie sein Bruder. Doch traute er sich nicht, die Lider zu schließen. Der Wald war unheimlich und er fürchtete sich, kalt war ihm obendrein, so dass an Schlaf gar nicht zu denken war.
Plötzlich glaubte er ein Wispern zu hören. Er stieß seinen Bruder an: „Johann, wach auf! Da ist etwas!“
„Das ist bloß der Wind, du Angsthase!“, murmelte dieser, drehte sich um und schlief weiter.
Das Wispern legte sich und Josef schalt sich selbst einen Narren. Auf einmal begann sich zwischen den Bäumen etwas zu bewegen. Erneut rempelte er seinen Bruder an, der unsanft aus seinem Schlummer gerissen wurde.
„Johann, es bewegt sich was!“
Der ließ sich nicht in seiner Ruhe stören. „Das sind bloß die Schatten, du Dummkopf! Und jetzt gib Frieden, ich will schlafen!“
Josef strengte seine Augen an, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Offenbar hatte Johann abermals Recht behalten, denn alles war nun ruhig.
Es dauerte eine ganze Weile, bis auch Josef von der Müdigkeit überrollt wurde und schließlich doch einschlief.
Am Morgen schreckte Johann hoch. Er blickte verschlafen um sich und fand sich allein auf der Lichtung. Er rief nach seinem Bruder, bekam aber keine Antwort. Er wartete, aber je mehr Zeit verging, desto klarer wurde ihm, dass seinem Bruder etwas Schreckliches zugestoßen sein musste. Er suchte überall nach ihm, weinte und schluchzte. Er kämpfte sich durch das dichte Gestrüpp, schrie immer wieder Josefs Namen. Doch der war und blieb verschwunden.
Tagelang irrte Johann im Wald umher, bis ihn schließlich einige der Dorfbewohner fanden. Er war halb verhungert und sein Blick war wirr.
Als sie ihn nach Josefs Verbleib fragten, fing er zu stottern an und alles, was sie aus ihm herausbekamen war: „Es waren die Waldgeister!“
Fortan sprach Johann kein Wort mehr. Sein gramgebeugter Vater suchte den Wald in jeder freien Minute ab. Er glaubte, sein zweiter Sohn würde irgendwann auch auftauchen.
Doch als die Zeit verging, gab er die Hoffnung auf, Josef jemals wieder lebend zu sehen.
Auf den Tag genau, ein Jahr nach Josefs Verschwinden, lag auf der Schwelle ein Goldstück. Das wiederholte sich nun an jedem Jahrestag, auch nachdem der Köhler schon gestorben war. Johann wusste, das war die Bezahlung der Waldgeister für Josefs Arbeit unter der Erde. Er brachte es nicht übers Herz, jemals auch nur eines der Goldstücke auszugeben.
Es war der Tag gekommen, an dem das 65. Goldstück zu den anderen in die Truhe wandern sollte, welche Johann eigens dafür geschreinert hatte. Doch dieses Mal wartete er vergeblich. Da wusste er, sein Bruder war tot. Nur zwei Tage danach starb auch Johann, der Einzige, der den Waldgeistern jemals lebend entkommen war.

Quelle: Berta Berger

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