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Die zwei Künstler

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Ein Goldschmied und ein Wahrsager kamen an einem Sonntag in einem Wirtshaus zusammen. Sie fingen an, mit ihren Künsten zu prahlen, und da keiner dem andern nachgeben wollte, so beschlossen sie, es etwas gelten zu lassen. Sie wetteten also dreihundert Gulden, die derjenige bekommen sollte, der in einer Woche das größere Kunststück zuwege bringen würde.
Der Goldschmied ging schon am Montag zu seiner Arbeit und saß den ganzen Tag in der Werkstätte. Wenn jemand sagte, er solle doch bald Feirum lassen, so dachte er bei sich: Du hast leicht sagen, du weißt nicht, was es gilt. Der Wahrsager aber tat, als ob ihm gar nichts daran läge, kam alle Abend fleißig ins Wirtshaus und soff sich einen tüchtigen Dusel an. Da der Goldschmied sah, wie sein Wettgeselle alle fünf gerade sein ließ, zweifelte er gar nimmer, daß er gewinnen würde. Wie aber die Woche zu Ende ging und schon der Freitag da war, fing auch der Wahrsager an zu arbeiten, um bis zum Sonntag mit seinem Kunststück fertig zu werden.
Am Sonntag kamen die beiden Künstler ins Wirtshaus, und es sagte einer zum andern: »Nun, laß schauen, was du hast!« Da ließ der Goldschmied ein Becken mit Wasser bringen, packte dann etliche Goldfische aus und warf sie ins Wasser. Da fingen sie an herumzuschwimmen und aufzuhüpfen wie lebendige Fische, und er meinte, so ein Stück habe der Wahrsager doch nicht zustande gebracht. Der Wahrsager lachte ihn aber aus, zog zwei Flügel aus seiner Tasche und schwang sich dieselben über die Achseln. Dann hob er sich vom Boden, flatterte zum Fenster hinaus und flog dreimal um das Haus herum. Sooft er wieder einmal herumgeflogen war, schaute er beim Fenster herein, zum Zeichen, daß er wieder einen Flug ums Haus gemacht habe.
Der Goldschmied wollte kaum seinen Augen trauen, allein endlich mußte er doch glauben, was er sah, und als der Wahrsager nach der dritten Runde zum Fenster hereinschoß, hieß es den Beutel auftun und die dreihundert Gulden bezahlen.
Der Wahrsager hatte einen Sohn, dem das Fliegen seines Vaters gar so gut gefiel, so daß es ihm keine Ruhe ließ, bis er nicht auch die Flügel probierte. Er schwang sich die Flügel auf die Achseln und flog auf. Wie er aber einmal in der Höhe war, da ging’s mit ihm fort wie der Wind, und er mochte anstellen, was er wollte, er konnte nicht wieder herabkommen. Es schwindelte ihn ganz, wenn er auf die Erde hinabschaute und ein Dorf nach dem anderen, eine Stadt nach der anderen unter ihm vorbeilief.
Er war schon lange Zeit so fortgeflogen, da gelang es ihm endlich, in einem fernen, fernen Land auf den Boden zu kommen. Als er sich umschaute, sah er einige Schweinehirten neben sich, die ihn anschauten wie die Narren, weil sie nicht wußten, wie er da herangeflogen kam. Er besann sich nicht lange, was er zu den Hirten sagen sollte, denn auf der langen Reise hatte er einen Hunger bekommen, daß ihm der Magen völlig hinabfiel. Er bat also zuallererst um ein Stück Brot. Den Hirten kam das sonderbar vor, daß der rüstige, schön gekleidete junge Herr, der aus der Luft geflogen kam, um ein Stück Brot bat. Weil er aber gar so inständig bat und man ihm die Mattigkeit an allen Gliedern ansehen konnte, so faßten sie Mitleid mit ihm, reichten ihm nicht nur Brot zur Stillung des Hungers, sondern gaben ihm auch Arbeit, so daß er bei ihnen bleiben und unter ihnen sich sein Brot verdienen konnte. Darüber war der Sohn des Wahrsagers froh und blieb bei den Hirten.
Nicht weit von dem Platz, wo diese ihre Schweine hüteten, wohnte der König des Landes. Der hatte eine wunderschöne Tochter, die er aber immer eingesperrt hielt, so daß niemand zu ihr kommen konnte. Er hatte sogar den Fußboden des Zimmers mit Asche bestreuen lassen, damit es schnell aufkäme, wenn einer es wagte, seine Tochter zu besuchen.
Auch der Sohn des Wahrsagers hörte von der schönen Königstochter und ihrem strengen Vater erzählen. Wart nur, dachte er sich, ich komm‘ schon hinein, wenn auch alles verriegelt und versperrt ist. Er nahm seine Flügel, schwang sich auf und flog zu dem Fenster der Königstochter. Mit kräftiger Baßstimme rief er zu ihr hinein: »Ich bin der Engel Gabriel und bin vom Himmel gekommen, um dich aus deiner Gefangenschaft zu retten.« Dann flog er wieder weg und kam ein zweites und drittes Mal wieder und sagte die nämlichen Worte. Einmal flog er gar durch das Fenster hinein und trat mit einem Fuß in die aufgestreute Asche, so daß sein Fuß darin sichtbar blieb.
Als nun der »Engel Gabriel« wieder weg war und der König zu seiner Tochter in das Zimmer trat und den Fußabdruck in der Asche bemerkte, da wurde er krebsrot vor Zorn und gab sogleich Befehl, daß alle seine Untertanen vor ihm erscheinen müßten. Als nun die Leute von allen Ecken und Enden seines Reiches zusammenkamen, da mußten alle versuchen, ob ihr Fuß in den in die Asche gedrückten Fußabdruck passe. Allein keiner wollte passen, und der König meinte schon, daß alle seine Mühe vergeblich sei.
Eines Tages kamen drei Schweinehirten am königlichen Palast vorbeigegangen, und da der König merkte, daß diese seinem Gebot noch nicht nachgekommen waren, rief er sie zu sich herauf. Sie mußten nun auch ihren Fuß mit dem Abdruck in der Asche vergleichen lassen. Und richtig, als sie alle nacheinander ihren Fuß hinhielten, schrie der König auf einmal mit wütender Miene: »Halt! Du bist es, der sich erfrecht hat, zu meiner Tochter zu kommen. Du sollst mir aber bitter dafür büßen.«
Der, den er so anfuhr, war aber kein anderer als der Schweinehirt mit den Flügeln.
Der König befahl nun, seine Tochter und den Schweinehirten in abgesonderte Gemächer einzusperren, er werde dann beide der verdienten Strafe überantworten. Wie der Schweinehirt das hörte, erhob er seine Stimme und sprach: »O König! Möchtest du mir nur noch eine Bitte gewähren, so wollte ich gerne meine Strafe aushalten.«
»Was willst du noch?« fragte barsch der König.
»Ich bitte dich, daß du mir erlaubst, deiner Tochter nur einen einzigen Kuß zu geben, bevor ich auf immer von ihr scheide.«
Das wurde ihm gerne gewährt. Als nun die Prinzessin herbeikam, eilte der Schweinehirt auf sie zu, schlang seine Arme um sie und gab ihr einen herzhaften Kuß. Dann ließ er sie aber nicht los, sondern fing an, seine Flügel zu schlagen, flog zum Fenster hinaus und trug die Königstochter mit sich durch die Luft. Jetzt hatte der König eine lange Nase und mochte Gift und Galle speien – alles half ihm nichts.
Der Schweinehirt flog mit der schönen Jungfrau seinem Vaterland zu, und nach einer langen, langen Luftfahrt kam er endlich dort an und kehrte mit der Prinzessin im nächsten Wirtshaus ein. Hier fand er mehrere Gäste, die sich eben erzählten, daß vor einigen Jahren der Sohn des Wahrsagers mit den wunderlichen Flügeln fortgeflogen sei. Er hörte eine Weile ihrem Gespräch zu. Endlich aber stand er von seinem Sitz auf, trat vor die übrigen Gäste und sagte: »Der Sohn des Wahrsagers, von dem ihr da redet, steht vor euch, und die schöne Jungfrau da drüben ist eine Königstochter, die ich als meine Braut mit mir heimgebracht habe.«
Die Gäste schauten ihn groß an, und als sie ihn als denjenigen erkannten, der vor mehreren Jahren davongeflogen war, da staunten sie nicht wenig über seine plötzliche Wiederkunft.
Der Sohn des Wahrsagers aber hielt Hochzeit mit der schönen Königstochter und lebte mit ihr glücklich bis an sein Ende.

(mündlich bei Meran)
[Österreich: Ignaz und Joseph Zingerle: Kinder und Hausmärchen aus Süddeutschland]

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