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Märchenbasar

Die zwei ungleichen Brüder

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Vor langer Zeit lebten zwei Brüder, deren jeder einen Sack Geld besass. Der eine war ein guter Mensch, der andere neidisch und böse. Einst stritten sie sich bei irgend einer Gelegenheit.
»Wer Gutes thut, thut gut«, sagte der eine; »nein, wer Böses thut, thut gut«, sagte der andere. – Sie wetteten dann um einen Sack Geld, und Richter sollte der Nächstbeste sein, der ihnen auf dem Wege begegnen würde. Und so machten sie sich auf und gingen auf die Strasse.
Siehe, da kam ihnen ein ansehnlicher und vornehmer Herr entgegen geritten. »Wohin eilet ihr guten Leute so sehr?« so sprach er sie an. »Wir suchen Jemanden, der unsern Streit entscheidet«, antworteten sie und erzählten ihm den Hergang.
»Ganz natürlich«, rief der Herr, »nur wer Böses thut, handelt gut und noch obendrein weise.« Es war der Teufe.
Traurig ging hierauf der Gute nach Hause und gab seinem drängenden Bruder seinen Sack mit Geld.
Arm, wie er nun ist, geht er ins Gebirge, sich als Hirt oder Knecht zu verdingen, da überfällt ihn Nacht und Sturm. Lange irrt und sucht er herum, einen Ort zum Ruhen zu finden, bis ihn der Zufall zur Hütte eines Einsiedlers führt. Unwillig, weil er aus dem Schlafe geweckt, lässt ihn der Einsiedler erst dann zu sich hinein, nachdem er ein durch das Fenster gereichtes Crucifix andächtig geküsst und so sich als guten Christen erwiesen hatte.
Ein Nachtlager gewährte er ihm nicht, weil die Zelle für zwei zu enge war und unser Verirrter als junger kräftiger Bursche nicht verlangen konnte, dass sich der Einsiedler, ein alter, schwacher Mann, seiner Bequemlichkeit halber dem Unwetter aussetze; jedoch gab ihm dieser den Rath, sich auf das Gesimse der nahestehenden Martersäule zu legen, um nicht von wilden Thieren gefressen zu werden, und das breit genug sei, darauf schlafen zu können. Kaum hatte er sich auf die Säule gelegt, so wurde es Mitternacht, und am Fusse der Säule erschienen vier Hexen, die Feuer anmachten und für fünf Personen kochten. – Lange warteten sie auf die fehlende Person, da rief die eine von ihnen laut und wiederholt: »Margerita, Margerita! komme doch bald, das Essen verkocht sich.« Da erschien plötzlich die erwartete fünfte Hexe im grössten Aufputz und strahlend vor Freude.
»Wo warst du so lange? erzähle doch und warum bist du so in Galla?« riefen ihr die andern entgegen. »Ja«, antwortete Margerita, »ich komme so eben vom Hofe, wo ich des Königs schönem Töchterlein sieben böse Geister in den Leib gejagt habe. Die bringt ihr keiner heraus, der sie nicht mit dem Wasser besprengt, das hier bei der Säule hervorquillt.«
Hierauf setzten sich alle fünf, assen und tranken und plauderten lustig, bis das Mahl geendet war, worauf sie verschwanden. Unser armer Wanderer aber, dem von der vertraulichen Mittheilung Margerita’s keine Silbe entgangen war, konnte das Grauen des Tages kaum abwarten.
Flugs eilt er zum Einsiedler, borgt sich dessen Kürbisflasche, füllt sie aus der Quelle mit Wasser und ging in die Stadt zum Hofe des Königs.
Dort begehrt er den König zu sprechen, der aber giebt niemanden Audienz aus Gram über den Zustand seines einzigen Kindes. Da gelingt es dem Jüngling, einen Ritter von des Königs Leibwache zu sprechen, dem er entdeckt, dass gerade die Heilung der Prinzessin der einzige Zweck seiner Reise sei. »Unglücklicher!« sagt ihm dieser, »an der Krankheit ist die Kunst der ersten Professoren gescheitert, nimm dich wohl in Acht, denn suchst du uns zu täuschen, oder täuschest du dich selbst, kostet es dir den Kopf.«
Endlich gab er seinen dringenden Bitten und Betheuerungen nach und meldete ihn dem Könige. Als er eingetreten, sagte ihm der König: »Heilst du mir mein Kind, so möge es dein sein und mit ihm mein Reich, belügst du mich aber, so ist der Galgen dein Lohn.«
Hierauf führte er ihn zu seiner Tochter in das Gemach, wo sie in einem Zustande äusserster Entkräftung und unsäglichen Schmerzes lag. Seiner Sache sicher, schüttete er ihr gleich die ganze Kürbisflasche über den Kopf, aber ach! war es Schrecken über das kalte Bad, oder die grosse Portion der Medizin, die Prinzessin verfiel hierauf in eine tödtliche Ohnmacht. Voll Wuth und Angst über sein Kind lässt ihn der König durch die Wache abführen, mit dem Befehl, ihn augenblicklich aufzuknüpfen. Zum Glück für ihn erholte sich die Prinzessin schnell, sprang munter und frisch vom Bette, so dass es noch Zeit war ihn zu retten.
Der König bereute seinen Jähzorn und hielt sein Wort.
Die Liebe der schönsten Prinzessin und die Schätze eines Königreichs bewiesen ihm deutlich, dass nicht sein Bruder und der fremde Herr, sondern er Recht gehabt, und dass wer Gutes thut, auch gut thut. Unterdessen war die Mähre von so grossem Glücke auch bis zu seinem durch Laster ganz verarmten Bruder gedrungen. Schnell machte der sich auf den Weg, seinen Bruder zu verfolgen. Glücklich gelangte er zu derselben Einsiedelei und schlief in Folge des Raths des Eremiten auf dem Simse der Säule.
Wieder kamen die vier Hexen um Mitternacht und kochten für fünf. Margareth liess dieses mal nicht so lange auf sich warten, dafür aber kam sie auch nicht in grosser Pracht, sondern schmutzig, zerfetzt, mit zerrauftem Haar und in der übelsten Laune. -»Hört!« schrie sie ausser sich vor Wuth, »hört, was mir geschah; das Töchterlein des Königs ist gänzlich geheilt. Wie wäre das möglich gewesen, wäre ich nicht belauscht worden, während ich euch kürzlich die Behexung erzählte. Nirgends kann der Lauscher gewesen sein, als auf der Säule oben.«
Dabei warf sie einen Blick auf die Säule, und von dieser hing der Zipfel eines Bauernrockes herab, der unserm bösen Lauscher gehörte.
Ihn sammt dem darin steckenden Eigenthümer herab und beide in tausend Stücke zerreissen, war das Werk eines Augenblicks.

[Italien: Georg Widter/Adam Wolf: Volksmärchen aus Venetien]

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