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Märchenbasar

Die Zwillingsbrüder

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Die Prinzessin fand sich in alles; sie stellte nur die eine Bedingung, daß man mit der Hochzeit bis zum nächsten Jahrestag ihrer Rettung warte, und da es dem König recht war, so mußte sich auch Ritter Roth dreinfinden.
Der junge Ritter Drachentödter ritt währenddem mit seinem Sperber und Hund wieder zu dem Kreuzweg zurück, bei dem er sich vor Jahr und Tag von seinem jüngern Zwillingsbruder getrennt hatte. Er kam zur Linde hin und fand die beiden Messer und sah, daß seines Bruders Messer noch ebenso blank war wie sein eigenes; er war also am Leben und es ging ihm gut. Er sah auch, daß sein Bruder hier gewesen sein müsse, um nach dem Messer seines Bruders zu schauen; und das konnte noch nicht lange her sein, was er an dem Einschnitt in die Baumrinde unter dem Messer leicht bemerken konnte. Daher ritt er auf dem Weg, den sein Bruder damals, als sie sich trennten, eingeschlagen, weiter und kam von einer Stadt in die andere, von einem Land ins andere, aber nirgends konnte er etwas sehen oder hören von seinem Zwillingsbruder. So verging das ganze Jahr und er mußte sich eilen, um zur ausgemachten Zeit wieder in die Königsstadt zurückkommen zu können und er kam gerade am Jahrestage seines Sieges über das Ungeheuer.
Als er zum Thore hinein und durch die Gassen ritt, sah er alle Häuser mit Teppichen und Kränzen festlich geschmückt und als er bei seiner alten Herberge gerade gegenüber von dem Schloß anlangte, fand er sie ebenso wie alle andern Häuser geschmückt und das Schloß sah aus, als wäre es mit rothem Scharlach und goldschimmernden Franzen und Quasten ganz überzogen.
Er ging in seine alte Herberge und bekam auch sein altes Zimmer wiederum und er fragte den Wirth, was denn heute in der Stadt los sei. »Nun habe ich viel Ritter und Lande gesehen,« sagte er, »aber nirgends bin ich hingekommen, wo immer etwas so Wichtiges los gewesen wäre. Als ich vor einem Jahr zum letztenmal hier war, da waren alle Häuser schwarz verhängt und man mußte mit einem Seeungeheuer kämpfen. Heuer ist alles mit Roth, Gold und Blumen geschmückt. Was ist denn wieder los?« Der Wirth erzählte ihm dann ein langes und breites, was sich alles zugetragen, seit er zuletzt hier gewesen. Und heute hielt Ritter Roth endlich seine Hochzeit mit des Königs einziger Tochter, die er aus den Klauen des Ungeheuers gerettet hat.
»Da müssen wir ja eine Flasche Wein auf das Wohl des Brautpaares leeren!« sagte der fremde Ritter. Und der Wirth holte eine Flasche aus dem Keller und schenkte dem Ritter und sich daraus ein. »Der Wein schmeckt mir nicht,« sagte der Ritter, als er gekostet hatte, »an des Königs Tafel trinkt man heute wohl einen besseren!« – »Ja, das glaub‘ ich!« rief der Wirth aus; »wer nur auch davon trinken könnte!« – »Das soll uns bald möglich werden,« antwortete der Ritter, pfiff seinem Sperber, der sich auf seine Schulter setzte; der Ritter flüsterte ihm dann etwas zu, worauf dieser zum Fenster hinaus und hinüber ins Schloß flog und gerade in den Rittersaal hinein, in welchem alle an der Brauttafel saßen. Dort setzte er sich auf der Prinzessin Schulter; sie erkannte ihn, den sie ja vor einem Jahr unten am Strand gesehen, sogleich wieder und schmeichelte und streichelte ihn. Aber plötzlich schnappte der Sperber nach der Weinkanne, die vor der Prinzessin stand und flog mit ihr zum Fenster hinaus und hinüber in die Herberge, wo der Ritter mit dem Wirthe saß. Da schenkte der Ritter für beide ein und sie tranken von des Königs eigenem Wein auf das Wohl des Brautpaares; und der Wirth mußte gestehen, daß er solch‘ einen guten Wein all seiner Lebtage noch nicht getrunken habe.
Und der starke Wein stieg ihm in den Kopf und er sagte: »Ach, hätten wir nur auch etwas von dem Backwerk, das heute auf der Tafel des Königs steht! das müßte vortrefflich zu diesem Wein schmecken.« – »Nun, das können wir ja bald haben,« sagte der Ritter und er rief seinem Hund und flüsterte ihm etwas zu und der sprang gleich zur Thür hinaus und gerade ins Schloß hinüber. Die Wache wollte ihn sowohl vor dem Thore als vor den Treppen zurückhalten, ebenso wollten ihn die Lakaien und Kammerjunker in den Sälen aufhalten; aber er warf sowohl die Wachen als die Lakaien und Kammerjunker über den Haufen, als ob sie für ihn gar nicht da wären und lief geraden Weges in den Rittersaal hinein zur Brauttafel hin und legte seinen Kopf der Prinzessin auf den Schoß.
Da sprang der Bräutigam von seinem Sessel auf, als wäre er von einer Tarantel gestochen und rief. »Huh – da ist der Meerhund!« Aber die Prinzessin lachte ihn aus, streichelte den Hund, den sie recht gut wieder erkannte, und sagte: »Nennst du das einen Meerhund? – das ist doch ein ganz guter dänischer Hund. Und du wirst dich vor keinem Meerhund mehr fürchten, seit du das Seeungeheuer mit den neun Köpfen überwunden hast.« Darüber wurde an der ganzen Tafel gelacht und Ritter Roth setzte sich wieder auf seinen Stuhl; aber er zitterte noch am ganzen Körper vor dem Hund, denn auch er erkannte den Hund sogleich wieder, der sich ja damals unter denselben Baum, auf dem er gesessen, gelegt hatte. Plötzlich schnappte der Hund nach einem silbernen Korb mit Backwerk, der vor dem Brautpaare stand und sprang mit ihm zur Thüre hinaus, über die Treppe hinab und hinüber in die Herberge, wo sein Herr mit dem Wirthe trinkend saß.
Nun wußte die Prinzessin, daß ihr wahrer und echter Lebensretter in der Nähe war; aber es verging doch noch eine geraume Zeit, bis sie ihn zu sehen bekam. – Es war nun so eingerichtet, daß nach der Tafel am Nachmittag alle Unterthanen ins Schloß kommen durften, die nur wollten, um das Brautpaar zu begrüßen; und in einem Saal, durch welchen man gehen mußte, waren achtzehn Lanzenträger aufgepflanzt und jeder von ihnen trug auf seinem Spieß einen von den Köpfen des Ungeheuers, welche Ritter Roth am Strande aufgelesen hatte.
Nun ging der junge Ritter mit seinem Wirthe ins Schloß hinüber und als sie in den Saal kamen, in dem die Köpfe auf den Lanzen ausgestellt waren, ging der Ritter zu diesen hin und sperrte einem Kopf nach dem andern den Rachen auf und fragte ganz laut: »Aber wo sind denn ihre Zungen?« Da wurden die Leute darauf aufmerksam und alles lief hin und schaute nach – aber es waren keine Zungen zu sehen. Im selben Augenblick kam Ritter Roth dazu und sagte: »Es waren nie Zungen in den Köpfen, – denn Ungeheuer haben keine Zungen!« »Dann ist es aber merkwürdig, daß die Zungenwurzeln darin stecken!« rief der fremde Ritter aus, »und hier sind die Zungen, die gerade hineinpassen.« Bei diesen Worten zog er das Taschentuch der Prinzessin hervor, in dem die Zungen eingehüllt lagen. »Und jetzt mag jeder selbst urtheilen,« sagte er, »wer dem Ungeheuer die Köpfe abgeschlagen hat: entweder der, der ihnen die Zungen herausgeschnitten, oder der, welcher die Köpfe ohne Zungen dahergebracht und behauptet, daß sie nie welche gehabt hätten.«
Da entstand ein großer Alarm und alle Leute liefen zusammen und sahen staunend, wie genau jede Zunge in ihren Kopf paßte und schließlich kam auch der König mit seiner Tochter, der Braut, heraus. Und sobald diese den fremden Ritter erblickte, fiel sie ihm um den Hals und rief: »Hier ist der, der mein Leben gerettet und der alle drei Tage mit dem Ungeheuer gekämpft hat.« Und dann erzählte sie haarklein, wie Ritter Roth sie jedesmal verlassen, sobald die Gefahr nahte und erst wieder kam, wenn sie vorüber war und wie er ihr dann gedroht sie umzubringen, wenn sie nicht schweigen und seine Lügen bestätigen wolle. »Aber dieser fremde Ritter mit seinem Sperber, Pferd und Hund hat mit dem Ungeheuer gekämpft,« sagte sie, »und es am dritten Tag getödtet. Und mein Taschentuch ist es, in dem die Zungen eingehüllt lagen, es steht mein Name mit der Krone verziert darauf. Und als er am dritten Tag dem Ungeheuer alle neun Köpfe abschlug, flocht ich dem Jüngling einen goldenen Ring in seine Locken – und hier ist er!« rief sie und zeigte dem König zugleich denselben in den Locken des Ritters.
Da war niemand mehr da, der noch an der Wahrheit ihrer Worte gezweifelt hätte, und Ritter Roth mußte selbst, wohl oder übel, alles eingestehen. Da ließ ihn der König sogleich in Ketten legen und schickte ein paar Diener mit ihm in den Wald hinaus, damit er ihnen den Baum zeige, auf dem er während des Kampfes mit dem Ungeheuer gesessen. Sie hatten aber den heimlichen Befehl erhalten, ihn auf demselben Baum sogleich aufzuhenken, was auch am Abend desselben Tages noch pünktlichst vollzogen wurde, so daß wir in dieser Geschichte nichts mehr von dem Ritter Roth hören werden.
Auf dem Schlosse aber wurde jetzt erst die wirkliche Hochzeit gefeiert, denn der rechte Bräutigam war gekommen. Und der alte König, der des Regierens müde war, dankte nun ab und ließ den jungen Ritter als König des Landes ausrufen und ihm huldigen. Darüber herrschte überall die größte Freude und die jungen Eheleute waren glückselig mit einander. – Aber deswegen ist die Geschichte hier doch noch nicht aus.
Sogleich nach der Hochzeit reiste das königliche Paar fort aus dem Schloß und durch das ganze Land, von Stadt zu Stadt; denn der neu eingesetzte König mußte sich ja huldigen lassen und sein Land kennen lernen. Darüber verging eine lange Zeit, bis sie endlich wieder in ihre Hauptstadt zurückkehrten. Da geschah es gleich in der ersten Nacht, daß ein Hahn gerade vor dem Schlafkammerfenster des jungen Königspaares saß und in einem fort krähte, so daß beide kein Auge schließen konnten. Der junge König stand auf und jagte den Hahn ein übers andre mal fort; aber gleich darauf war er wieder da. Und so ging es die ganze Nacht in einer Tour. – Und in der nächsten Nacht war es gerade so: der Hahn saß wieder vor dem Fenster und krähte und wollte sich durchaus nicht fortjagen lassen. Und ebenso ging es in der dritten Nacht von neuem an: der Hahn krähte gerade vor dem Fenster lauter und ärger als alle vorhergehenden male.
Da sagte der junge König: »Das kann kein gewöhnlicher Hahn sein, da muß etwas anderes dahinter stecken. Vielleicht ist mein Bruder gar in Gefahr und läßt mich auf diese Weise rufen. Ich muß zu dem Hahn hinaus und sehen, wie das zusammenhängt.« Damit sagte er zur Königin »Lebewohl«, gürtete sein Schwert um, rief seinen Sperber und seinen Hund, setzte sich auf seinen schwarzen Hengst und ritt fort. Beständig hörte er den Hahn vor sich, der von Baum zu Baum flog und krähte und der König ritt ihm nach. Und so kam er durch den Wald, der gegen den Strand zu lag, er ritt darin herum, immer dem Hahn nach, bis er zum Strand hinaus kam und zwar an denselben Platz, an dem der Kampf mit dem Seeungeheuer stattgefunden. Aber er erkannte die Stelle nicht wieder und konnte auch vom Strande vor sich gar nichts sehen, obwohl es schon Morgendämmerung war, als er hinauskam, aber es lag allenthalben ein so dicker Nebel, daß man keinen Schritt weit sehen konnte und auch nicht wußte, ob man Land oder Wasser vor sich habe.
Sobald der König hier angelangt war, verschwand der Hahn und ließ sich nirgends mehr hören. Darum hielt er es für das Beste, zu sehen, wie er wieder heimkomme. Da hörte er in der Nähe ein kleines Geräusch und er ritt dem Laute nach, bis er zu einem häßlichen alten Weibe kam, die einen Sack auf dem Rücken trug und mit ihrem Stock im Sande scharrte. Er fragte sie, wer sie wäre und was sie in solcher Morgenfrühe hier treibe. »Ach, ich bin ein armes, altes, verlassenes und kinderloses Weib,« antwortete sie, »und ich gehe hier und suche ein wenig Beine zusammen; aber ich kann mich selbst kaum mehr schleppen, vielweniger noch meinen Sack. Und wenn du ein echter und rechter Ritter bist, so hilfst du einem alten Weibe und lässest mir meinen Sack von deinem Pferde zu meiner Wohnung tragen.« – »Wo bist du denn zu Hause?« fragte der König. »O, gleich da in der Nähe,« antwortete das Weib; »ich werde voraus gehen und dir den Weg zeigen, wenn du mir wirklich den Sack von deinem Pferde heimtragen lassen willst.«
Da sprang der König von seinem Pferd herab und legte den Sack darauf, der nichts weniger als leicht zu heben war und übel nach all‘ den verfaulten Knochen, die darin waren, roch. Das Weib ging voraus und geraden Weges ins Meer hinein. Sie schlug mit ihrem Stock ins Wasser und murmelte: »Vorn eine Brücke und hinten nichts,« und daher war beständig trockenes Land, aber auch nur da, wo sie, nämlich das Weib, der König, welcher sein Pferd am Zügel führte, und der Hund, welcher ihm auf den Fersen folgte, gingen. Vorne und hinten und auf beiden Seiten war nur das tiefe Meer; aber der Nebel war so dicht, daß man die eigene Hand vor den Augen nicht sehen konnte und so folgten der König und die Thiere dem Weibe, ohne zu wissen, wo sie gingen und wohin der Weg führte.
Sie gingen immer weiter und kamen an kein Ziel. »Ihr habt aber weit nach Hause,« sagte der König. »Ja, jetzt werden wir aber gleich da sein,« antwortete das Weib. Und es währte wirklich nicht mehr allzulange, da kamen sie an einen großen Berg, der mitten im Meer draußen lag. Das Weib klopfte mit ihrem Stock auf denselben und er öffnete sich und da kamen alle in eine große, steinerne Stube hinein, in der mitten auf dem Boden ein ungeheuer großer Holzstoß brannte.
Der König legte den Sack nieder, sah sich um und sagte: »Das ist aber ein schreckliches Feuer da; bratet Ihr denn hier Menschen?« – »Ach nein, keine Spur!« antwortete das Weib; »aber so eine alte Haut, wie ich, kann schon ein bischen Wärme brauchen.« Dann nahm sie ein Haar von ihrem Kopfe und sagte zu dem König: »O leg doch dieses Haar auf dein Pferd, dann wird es stille stehen bleiben. Es stampft mir ja sonst den Fußboden entzwei.« Der König erfüllte ihren Wunsch und das Pferd stand wirklich still; er hatte eben nicht gehört, wie das Weib dabei murmelte: »Festgeschmiedet an der Erden, soll das Haar zur Fessel werden!« Darauf nahm sie noch ein Haar von ihrem Kopfe und bat den König: »O nimm das und leg es auf deinen Hund, er schaut mich so falsch an und da fürchte ich mich, daß er mich beißen könnte.« Auch diese Bitte erfüllte ihr der König und der Hund legte sich sofort nieder und blieb ruhig liegen. Er hörte wieder nicht, daß sie dabei dieselben Worte wie vorher murmelte. Dann nahm sie noch ein drittes Haar von ihrem Kopfe und sagte zum König: »Geh, sei so gut und wirf dieses auf deinen Sperber, er fliegt sonst herum und erschreckt meine Küchlein.« Der König that es und sie murmelte ihren Spruch und der Sperber blieb ruhig sitzen. Dann sagte sie noch: »Und lege auch ein Haar auf das Blanke an deiner Seite, um es zu bedecken, weil es mich sonst blendet und meinen alten Augen zu wehe thut.« Mit diesen Worten warf sie ein Haar auf den goldenen Griff von des Königs Schwert und murmelte wie die vorhergehenden male.
Der König glaubte, das Weib müsse nicht recht gescheidt sein, aber er fürchtete sich weder vor ihr, noch vor sonst jemand. Er wollte sich jetzt ein wenig an diesem wunderlichen Ort umschauen.
Da richtete sich das Weib auf und war so hoch wie ein Haus und grimmig anzuschauen und dann schrie sie: »Nun will ich dich dafür bezahlen, daß du mir meinen hübschen Jungen umgebracht hast. Jede Nacht muß ich gehen und am Strand seine Knochen sammeln und suchen, bis ich sie alle beisammen habe, damit ich ihn wieder lebendig machen kann.«
Da merkte der König nun, bei wem er zu Gast war. Er griff nach seinem Schwert und ließ seinen alten Kriegsruf: »Steht mir bei in dieser Stund‘, Sperber, Pferd und du, mein Hund!« ertönen. – »Oho, die Haare sind zu eisernen Fesseln geworden, drum können dir deine Thiere nicht mehr helfen!« rief die Hexe höhnisch aus; und das Schwert ließ sich nicht ziehen und von den Thieren rührte sich keines von der Stelle. Darauf schlug das Weib mit seinem Stock nach dem König und er fiel sogleich um und war todt wie ein Stein. Dann stieß sie ihn in eine tiefe Höhle unter dem Fußboden hinunter; die Thiere ließ sie aber, wo sie waren.
Während dieser Zeit wartete und wartete die junge Königin von einem Tag zum andern, aber ihr Eheherr kam nicht zurück. Und so vergingen Wochen, vergingen Monate, aber der junge König war und blieb fort. Nach allen Richtungen hin wurden Leute ausgesandt, aber nirgends hatte man ihn gesehen. So saß sie in ihrem Schlosse und trauerte, aber sie hoffte doch, daß ihr Held und König plötzlich einmal zurückkehren werde.
Während die Sachen alle so standen, war der jüngere Zwillingsbruder (der am andern Ende der Welt herumgezogen und viele Abenteuer bestanden, die viel zu weitläufig zu erzählen wären) der Verabredung gemäß zur Linde am Kreuzweg gekommen. Es war noch kein ganzes Jahr vergangen, seit er zum letztenmale hier gewesen und sein Zeichen unter seines Bruders Messer, das er vollkommen blank und glänzend gefunden, in die Rinde des Baumes geschnitten hatte. Er sah nun, daß auch sein Bruder hier gewesen und ebenfalls ein Zeichen in den Baum geschnitten hatte. Darauf zog er seines Bruders Messer aus dem Baum heraus und sah, daß es so gut wie ganz verrostet war. Es sah aus, als wäre es in Blut getaucht worden und nur ein ganz kleines Fleckchen war noch blank.
Er schlug nun gleich den Weg ein, den sein Bruder damals gezogen war, als sie sich trennten und ritt so schnell er nur konnte von Stadt zu Stadt und Land zu Land, bis er in die Hauptstadt, in der sein Bruder König geworden, kam. Als er eines Tages gegen Abend in diese Stadt auf seinem schwarzen Hengst einritt, mit offenen, goldenen Locken, seinen Sperber auf dem Arm und hinter sich den großen gelben Hund, wurde er gleich darauf aufmerksam, daß alle Leute auf den Gassen stehen blieben, um ihn zu grüßen und ihm nachschauten und daß alle Leute in den Häusern ans Fenster kamen und dieses öffneten und ihm Grüße zuwinkten. Er wußte ja, daß er und sein Bruder sich so ähnlich sahen wie zwei Tropfen Wasser und ebenso auch ihre Thiere und er merkte sogleich, daß hier sein Bruder sowohl bekannt, als beliebt sein müsse, denn er selbst war ja noch nie in dieser Gegend gewesen. Er dankte allen, die ihn grüßten und ritt weiter, bis er zum königlichen Schlosse kam. Da wurde die Wache vor ihm herausgerufen und der Schweizer kam mit seinem goldbeknöpften Stock einherstolziert und riß Thür und Thore vor ihm auf. Es war also deutlich und klar, daß hier sein Bruder zu Hause sein mußte; daher ritt er zum Schloßthore hinein und sogleich kamen Stallmeister und Knechte dahergesprungen, nahmen ihm das Pferd ab und führten es in den Stall. Und die Lakaien auf den Treppen bückten sich vor ihm und machten ihm eine Thüre nach der andern auf, bis er in den Saal der jungen schönen Königin kam. Sobald sie ihn erblickte, sprang sie mit einem Freudenschrei auf, fiel ihm um den Hals und begann ihn zu fragen: wo er doch so lange gewesen sei? – es seien ja schon drei volle Monate vorüber, seit er in jener Nacht von ihr geritten, um den Hahn zu verfolgen, der vor ihrem Fenster gekräht habe. Ob er ihn auch gefangen habe? Und ob er Nachricht von seinem Zwillingsbruder bekam? Und ob er ihn glücklich, gesund und am Leben angetroffen habe? Und so noch mehr Fragen, die sie in einem Athem stellen konnte. Darauf liebkoste sie seinen Sperber und streichelte seinen Hund und erkundigte sich nach seinem Pferd und sagte, daß sie nach ihm seine Thiere, die bei ihrer Rettung aus den Klauen des Seeungeheuers mit den neun Köpfen mitgeholfen, am meisten liebe.
Da hatte er so viel erfahren, als er zu wissen brauchte. Aber er gab sich doch nicht zu erkennen. Er sagte nur, daß er todtmüde sei und der Ruhe bedürfe. Am Morgen solle sie Antwort auf alle ihre Fragen erhalten. Für den Abend sei es zu viel zum Erzählen. Er sei weit herum gekommen und habe viel erlebt. Sein Bruder wäre frisch und gesund und er selbst sei froh, sie ebenso zu finden. Sie nöthigte ihn, doch etwas als Abendbrot zu sich zu nehmen und führte ihn dann in das königliche Schlafgemach. Er ging sogleich ins Bett und legte sich nieder, vorher zog er aber sein blankes, scharfes Schwert aus der Scheide und legte es in die Mitte des Bettes. Darauf kehrte er sich um und that als ob er vor Ermattung und Müdigkeit sofort in einen tiefen Schlaf fiele.
Die Königin legte sich auch nieder, schlief aber nicht ein. Sie dankte Gott für die große Freude, daß ihr geliebter Herr und Gatte wieder von seiner langen und gewiß auch gefährlichen Fahrt, auf die er sich begeben, zurückgekommen war. Sie freute sich über sein Glück und freute sich schon auf den Morgen, an dem er ihr, nachdem er sich wieder ausgeruht hätte, alles bis ins kleinste erzählen wollte, was er während der langen Zeit, in der sie vor Sehnsucht nach ihm fast vergangen, erlebt und gethan habe.
Da hörte sie einen Hahnenruf vor dem Fenster. Es war gewiß derselbe Hahn, der sie schon vor einem Vierteljahr geplagt und ihren Gemahl von ihrer Seite gelockt hatte. Sie war nur froh, daß er jetzt so fest und sorglos schlief. – Aber er, den sie für ihren Gemahl hielt, schlief durchaus nicht. Er lag nur stille und lauschte. Und als er kurze Zeit gelegen und den Hahn krähen gehört, sprang er aus dem Bett heraus, kleidete sich rasch an, steckte sein Schwert in die Scheide und gürtete es sich um. »Ach!« rief die Königin aus, »du wirst doch dem Hahn nicht wieder nachlaufen; er muß dir ja schon gesagt haben, was er wußte.« Aber er antwortete, daß er um jeden Preis hinaus und dem Hahn nacheilen müsse; sie möge übrigens nicht bange sein, denn er käme bald wieder zurück. Darauf stürzte er zur Thüre hinaus, in den Stall hinunter, schwang sich auf sein Pferd und ritt mit seinem Sperber und Hund in die Nacht hinaus.
Der Hahn hörte nicht auf zu krähen und flüchtete sich dabei beständig vor dem Ritter, der ihm nacheilte. So ritt er genau denselben Weg, den sein Bruder vor einem Vierteljahr geritten, und kam ebenfalls durch den Wald in der Morgendämmerung zum Strand hinunter. Da verschwand der Hahn und bei dickem Nebel traf er dasselbe alte Weib, welches den Sack trug und im Sand herumwühlte. – Um es kurz zu erzählen, es erging ihm genau so, wie seinem Bruder: sie bat ihn, ihren Sack von seinem Pferd in ihre Wohnung tragen zu lassen und er that es. Sie ging wieder voraus, geradenwegs in das Meer, wo sie sagte: »Vorn eine Brücke und hinten nichts!« So kamen sie zu dem Berg im Meer und in diesen hinein, in die steinerne Stube, in der mitten auf dem Fußboden ein ungeheuer großer Holzstoß brannte.
Da sagte er wie sein Bruder: »Das ist aber ein schreckliches Feuer da; bratet ihr denn hier Menschen?« – Und das Weib antwortete: »Ach nein, keine Spur! aber so eine alte Haut wie ich kann schon ein bischen Wärme brauchen.« Dann nahm sie Haare von ihrem Kopf und bat den Ritter, sie auf sein Pferd, seinen Hund, Sperber und sein blankes Schwert zu legen. Er warf die Haare aber jedesmal ins Feuer.
Da richtete sich das Weib auf, daß man sehen konnte, was für eine böse Hexe sie war und fletschte mit den Zähnen und schrie mit heiserer Stimme: »Jetzt habe ich dich mit gefangen und du mußt nun auch hinunter zu deinem Bruder, der mir meinen hübschen Jungen umgebracht hat. Jede Nacht muß ich gehen und am Strand seine Knochen sammeln und suchen, bis ich sie alle beisammen habe, damit ich ihn wieder lebendig machen kann.« Da zog der Ritter sein Schwert und rief seinen Thieren zu: »Steht mir bei in dieser Stund‘, Sperber, Pferd und du, mein Hund!« – »Oho,« rief die alte Hexe höhnisch aus, »die Haare sind zu eisernen Fesseln geworden, drum können dir deine Thiere nicht mehr helfen!« – »O ja, sie können doch!« rief der Ritter, »denn die Haare sind verbrannt!« Und bei diesen Worten stürzte er mit seinen Thieren auf sie los und schwang sein blankes Schwert und ließ es ihr um die Ohren sausen.
Da wurde das Weib demüthig und bettelte und flehte ihn an, doch ihr Leben zu schonen. »Gieb mir sogleich meinen Bruder so lebendig als früher zurück!« sagte der Ritter. Und das Weib brachte ihn augenblicklich aus der Höhle herauf, bespritzte ihn mit einigen Tropfen aus einer Flasche voll Lebenswasser und da stand er wieder frisch und lebendig auf, erkannte und begrüßte sogleich seinen Bruder. »Löse seinen Thieren und dem Schwert die Fesseln!« sagte dann der Ritter. Und auch das that sie augenblicklich. »Führe uns jetzt übers Meer zurück!« fuhr der Ritter fort, »und gehe du voraus!« Da sahen die Brüder zugleich, wie sie ihre Brücke baute, sie ging voraus, wie ihr geheißen, schlug mit ihrem Stock ins Wasser und murmelte: »Vorn eine Brücke und hinten nichts!« Und die Brüder ritten mit ihren Thieren hinüber, der jüngere knapp hinter der Hexe; und im selben Augenblick, als alle glücklich das feste Land betraten, schlug er ihr mit einem Hieb den Kopf herunter und ließ sie am Uferrand zur Speise für die Fische des Meeres, des Himmels Vögel und die wilden Thiere des Waldes liegen.
Jetzt ritten die Brüder zusammen durch den Wald und hatten einander viel zu erzählen, was sie alles erlebt während der langen Jahre, da sie von einander getrennt waren. Dann mußte der Ritter doch auch erzählen, wie er seinen Bruder gefunden und wie man ihn im Schlosse empfangen und für den schmerzlich vermißten Herrn und König gehalten und daß er in des Königs Bett an der Seite seiner Frau, der Königin, die Nacht geruht hatte. Als er aber das erzählte, wurde der junge König wie rasend, zog sein Schwert und durchbohrte seinen Bruder damit, so daß er todt vom Pferde sank.
Dann gab der König seinem Rosse die Sporen und jagte über Stock und Stein davon, er wußte selbst nicht wohin, und sein Hund lief heulend hinter ihm drein. Da fing der Sperber auf seiner Schulter zu reden an, und sagte: »Reit‘ heim! Reit‘ heim!« Da ließ er seinem Pferd die Zügel und dieses trug ihn schnell in sein Schloß zurück. Dort sprang er vom Pferd und ließ es von den Knechten in den Stall führen, ging langsam die Treppen hinauf und zu seiner Gemahlin hinein. Sie lief ihm froh entgegen, aber er blickte sie nicht an und gab ihr auch keine Antwort auf alle ihre Fragen. Da sah sie leicht ein, daß entweder ein Unglück geschehen oder er krank sein müsse, deshalb führte sie ihn in das Schlafgemach, in welchem er sich, ohne ein Wort zu sagen, auf das Bett warf.
Da sagte sie zu ihm: »Eine Frage mußt du mir doch beantworten: warum legtest du neulich in der Nacht dein blankes, scharfes Schwert mitten in das Bett? Wolltest du mich damit ermorden? O hättest du es doch gethan, dann müßte ich dich nicht so wiedersehen, wie jetzt!« Da ging ihm nun ein Licht auf, wie treu sein Bruder gegen ihn gehandelt und ihm dann noch das Leben gerettet hatte, – und nun empfing er einen solchen Lohn dafür! Der König sprang jetzt auf und schloß die Königin in seine Arme; aber er sprach kein Wort. Dann stürzte er zur Thüre hinaus, zu seinem Pferd in den Stall hinunter und ritt mit Hund und Sperber wieder fort.
Er ritt geradenwegs in den Wald hinaus zu jener Stelle, an welcher er die grausige That vollführt hatte, da lag sein Bruder kalt und todt im Blute auf der Erde. Sein Hund lag bei seinem Kopfe und das Pferd stand bei seinen Füßen, aber sein Sperber war fort. Da sprang der König von seinem Pferde herunter und warf sich über die Leiche hin und brach in helle Thränen aus und schluchzte und jammerte. Dann sprang er wieder auf und zog sein Schwert und wollte sich in dieses stürzen, um seinem Bruder im Tode nachzufolgen. Da sauste etwas durch die Luft und des Bruders Sperber kam mit einer kleinen Flasche im Schnabel dahergeflogen. Es war Lebenswasser darin, das er im Zauberberge im Meere draußen geholt hatte, und er begann zu rufen: »Spritze ihn an! Spritze ihn an!« Der König nahm ihm die Flasche aus dem Schnabel und goß ihren Inhalt auf die Leiche seines Bruders, und sogleich sprang der Todte wieder frisch und munter auf und war so lebendig als je einmal zuvor.
Jetzt umarmte der König seinen Bruder und bat ihn um Verzeihung für sein Mißtrauen und seinen Jähzorn, und der verzieh ihm auch. Die Zwillingsbrüder ritten nun zusammen ins Schloß zurück und die Königin erfuhr dann alles auf das genaueste und sie wurde wieder froh. Und da das Reich eigentlich ihr Erbe war, so gab sie auch den Rath, daß der junge König mit seinem Bruder theilen solle, dann könnten sie immer beisammen bleiben. Und das that der König mehr als gerne. Darauf heiratete der jüngere Bruder auch eine Prinzessin aus einem andern Königreiche und dann sandten sie Boten aus ihrem Lande zu ihren alten Eltern und ließen sie zu sich holen und die verlebten dann den Rest ihrer Tage bei ihren Söhnen in froher Pracht und Herrlichkeit. Die Zwillingsbrüder, die jetzt beide Könige waren, regierten ihr Land in wirklich brüderlicher Eintracht und ihre Frauen, die Königinnen, kamen auch miteinander gut aus. Und ihre Kinder liebten sich so sehr, als wären sie alle zusammen nur Geschwister.

Und damit ist das Märchen aus.

[Dänemark: Svend Grundtvig: Dänische Volksmärchen]

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