Als der nächste Morgen anbrach, kam der Sohn des Zaren und wollte sein Pferd tränken in dem Flusse, der am Friedhof vorbeifloß. Zu seinem großen Erstaunen trank das Pferd nicht, sondern wieherte nur und streckte den Kopf in die Höhe; die Diener trieben es wieder in den Fluß hinein, da sie meinten, es wolle klareres Wasser, aber das Pferd ließ sich nicht bewegen zu trinken. Jetzt wandte der Prinz den Kopf in die Höhe, sah scharf hinauf, und was sieht er? Strahlen wie von der Sonne kommen aus der Spitze der Pappel, und da oben steht etwas wie eine Frauengestalt. Da rief er aus: „He, Jungfrau, was bist du, bist du ein Mädchen oder eine Samovila oder eine Heilige? Dein Gesicht hat meine Augen geblendet. Wenn du ein Mädchen bist, steig herab, und ich mache dich zur Zarin.“ – „Ich bin keine Samovila, großer Zar, auch keine Heilige, sondern nur eine arme Waise ohne Vater und Mutter.“ – „Komm herab, komm herab, und fürchte nichts.“ – Da stieg das Mädchen herab, der Prinz nahm sie auf sein Pferd, und sie zogen samt den Dienern nach Hause. Als dort der alte Zar das Mädchen sah, war er auch erstaunt über ihre Schönheit und wartete nicht erst die Bitte seines Sohnes ab, sondern gab ihm mit seinem Segen die Erlaubnis, sie zur Frau zu nehmen, schickte einen Herold aus und ließ alle Leute der Hauptstadt, groß und klein, einladen. Dann war die Hochzeit, und da gab es Schmäuse und Tänze, daß man lange davon erzählte.
Aber wie nahmen es die Schwestern der Prinzessin auf? Als sie hörten, welch glückliches Geschick auf ihre Schwester gefallen war, fraß der Neid noch mehr an ihnen und ließ ihnen keine Ruhe. So machten sie sich auf den Weg und wanderten als Bettlerinnen von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus und kamen auch an das Schloß des Zaren, wo sie taten, als bäten sie um Gottes willen um eine Gabe. Die Prinzessin, ihre Schwester, saß um die Zeit gerade am Fenster, sah sie am Tore stehen und erkannte sie sogleich. Sie taten ihr sehr leid, als sie sie in solchem Zustande sah, und sie schickte eine Dienerin und ließ sie zu sich hinaufrufen. Da stiegen sie hinauf, und die Prinzessin fragte sie nach dem und jenem, endlich aber tat sie sich ihnen kund und lud sie ein, bei ihr zu bleiben. Die beiden blieben nun da und benahmen sich so liebevoll, als wenn sie ihre Schwester wirklich lieb hätten. Eines Tages im Winter gingen alle drei Schwestern hinaus auf den Altan und setzten sich dort in die Sonne. Da sprachen die beiden älteren zu der Prinzessin: „Komm, wenn du magst, wollen wir dich lausen.“ Die war vertrauensvoll und legte ihren Kopf in den Schoß der einen, aber die teuflischen Schwestern hatten gar nicht die Absicht sie zu lausen, sondern als die Prinzessin so da lag, stachen sie ihr eine Nadel in das rechte Ohr, und sogleich wurde sie zu einem Vogel und flog davon. Darauf zogen die beiden Schwestern die Kleider der Prinzessin an und benahmen sich abwechselnd eine nach der andern, als wären sie die Prinzessin. Der Prinz wunderte sich, wie es zugeht, daß seine Frau anders ist, machte sich aber keine Gedanken darüber, wie es komme.
Der Vogel, in den die Prinzessin verwandelt war, hatte sich nicht vom Hause entfernt, sondern kam immer nachts in den Garten, setzte sich auf einen Baum und rief: „Gärtner, Gärtner, schläft der Prinz?“ – „Er schläft.“ – „Schlafen meine bösen Schwestern?“ – „Sie schlafen.“ – „Schläft mein Söhnchen?“ – „Es schläft.“ – „Möge der Baum, auf dem ich sitze, sich verzehren, wie ich mich verzehre vor Sehnsucht nach meinem Söhnchen.“ – Und sogleich vertrocknete der Baum wie verbrannt. Ebenso vertrockneten noch weiter des Nachts die schönsten Bäume im Garten des Zaren. Da nun der Gärtner einsah, daß es ihm selbst nicht gelingen könne, den Vogel zu fangen, zeigte er es dem Prinzen an. Der ging am Abend in der Dunkelheit hin und versteckte sich hinter einem Baum. Um Mitternacht kam auch wirklich der Vogel, setzte sich auf einen Baum und fing wieder an zu rufen: „Gärtner, Gärtner, schläft der Prinz?“ – „Er schläft.“ – „Schlafen meine bösen Schwestern?“ – „Sie schlafen.“ – „Schläft auch mein Söhnchen?“ – „Es schläft.“ – Aber kaum hatte der Vogel angefangen: „Möge der Baum verdorren“, da ergriff ihn der Prinz und brachte ihn auf sein Zimmer, und als er ihn bei Licht betrachtete, um zu sehen, was das für ein Vogel ist, bemerkte er, wie eine Nadel in seinem Ohr flimmerte, zog sie heraus, und zu seiner großen Verwunderung stand auf einmal statt des Vogels die Prinzessin vor ihm. Da stürzte er zu ihr hin, umarmte sie mit Tränen in den Augen und fragte sie, warum sie das getan habe. Sie aber konnte vor Schluchzen nicht sprechen und antwortete nur: „Meine Schwestern.“ Alsbald befahl der Prinz seinen Dienern, die Schwestern je an zwei Pferde zu binden, das eine Bein an das eine, das andere an das andere, und die Pferde mit der Peitsche auseinander zu treiben. Das geschah, und die Schwestern der Prinzessin wurden so in zwei Stücke zerrissen. Prinz und Prinzessin aber lebten fortan ohne Gefahr und Schaden.
Quelle:
(Balkanmärchen aus Bulgarien)