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Drei Tage in Jerusalem

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„Du hast wohl nichts Besseres zu tun, als den ganzen Tag in der Stadt herumzulaufen und Maulaffen feil zu halten. Gestern habe ich dich überhaupt nicht gesehen. Immer unterwegs“, schimpfte meine Mutter eines Morgens. Wenn sie sich aufregte, wurde ihre Stimme schrill wie die einer Maus in der Falle.
„Was sollte ich auch anderes machen? Du weißt doch genau, dass es für unsereinen keine vernünftige Arbeit gibt. Keiner stellt einen Jungen an, der so zerlumpt ist wie ich. Und seit die Geschichte mit dem Onkel passiert ist, traut mir erst recht keiner mehr. Alle halten mich für einen Dieb“, entgegnete ich.
„Da hast du eigentlich Recht, Nathan“, meinte Mutter ein wenig ruhiger. „Es stimmt schon, seit die Häscher meinen Bruder gefangen haben, betrachten sie auch uns als Verbrecher. Dabei hat er dem Römer doch nur die Geldbörse fort genommen, um ein bisschen Brot kaufen zu können.“
Sie seufzte. „Schreckliche Zustände sind das hier in Jerusalem. Es wird wirklich Zeit, dass der König kommt, von dem alle reden, und eine bessere Zeit anbricht. Was soll jetzt nur aus deiner Tante und den Kindern werden, wenn die Soldaten den Onkel wirklich umbringen?“
Ich nickte stumm. Wenn kein Wunder geschah, würden meine Verwandten sicher Hungers sterben.
„Soll ich dir noch ein bisschen helfen“, fragte ich dann.
„Ja, hole mal Wasser am Brunnen!“, bat Mama.
Ich packte den großen Eimer und stob davon. An der Wasserstelle hatte sich eine lange Schlange gebildet. Eigentlich war ich gern hier, auch wenn es viel Zeit kostete, bis man an die Reihe kam. Viel anderes zu tun gab es für mich wirklich nicht, und beim Warten erzählten die Menschen stets das Neueste aus der Stadt. So kam ich immer gut informiert zurück.
„Habt ihr schon gehört“, sagte vor mir die alte Rebecca. „Jonathan soll ans Kreuz geschlagen werden. He, Kleiner, du gehörst doch zu seiner Familie – stimmt das?“
Ich nickte.
Rebecca sprach weiter. „Es war ja klar, dass das eines Tages geschehen musste. Er konnte die Hände nicht bei sich halten, wenn er einen Reichen sah. Aber wen wundert es – elf Kinder und keine Arbeit – von irgend etwas muss man doch leben.“
„Stimmt“, mischte sich Rabea ein. „Man sagt, es sollen drei Kreuze errichtet werden. Für wen sind wohl die anderen?“
„Also, eins ist für einen Straßenräuber. Ein Fremder, den keiner hier kennt“, wusste Sara. Aber das dritte?“
„Mein Josef hat erzählt, daran soll Jesus aus Nazareth hängen. Das ist der Mann, dem sie letztens alle so zugejubelt haben. Man meinte ja sogar, er sei der neue König, in dessen Reich alles für uns besser würde.“
Rebecca lachte bitter. „Hat sich was mit einem Königreich. Da die Römer ihn gefasst haben, kann er sein Testament machen. Wenn er dazu noch kommt. Der Kaiser mag es nämlich gar nicht, wenn jemand König werden will, ohne ihn zu fragen!“
„Wo ist dieser Jesus denn nun?“, fragte ich neugierig.
„Ach, wo sie alle sind – im Gefängnis. Schon verurteilt. Nachher geht der Zug hoch zu den Kreuzen und dann ist es im Nu vorbei mit unserer Hoffnung auf bessere Zeiten!“, antwortete Rabea und spuckte auf den Boden. „Jetzt komm, Nathan, fülle dein Gefäß und steh uns nicht im Weg, ja?“ Sie schob mich mit harter Hand zum Brunnen. Ich warf den Eimer hinein, zog ihn langsam wieder hoch und nahm ich ihn vorsichtig in die Hand – der Henkel war ein wenig gesplittert, aber wir hatten weder Werkzeug noch Geld, das zu ändern. Schwer beladen ging ich zurück zu unserer elenden Hütte. Mutter wartete schon – sie wollte Suppe kochen.
„Darf ich wieder raus?“, bat ich. „Schon heute soll die Kreuzigung sein.“
Ich erzählte alles, was ich am Brunnen erfahren hatte. Mutter hörte mit Tränen in den Augen zu. „Ich komme auch“, sagte sie. „Vielleicht tut es der Tante gut, wenn sie nicht allein unter dem Kreuz stehen muss.“
Ich nickte traurig. Dass mein Onkel so sein Ende finden sollte, hatte ich nie gedacht.
„Lauf ruhig schon los“, meinte Mutter. „Ich setze noch den Topf auf das Feuer und gehe dann bei den Verwandten vorbei. Wir treffen uns sicher auf Golgotha.“

Ich rannte davon und traf bald auf eine große Menge Menschen, die alle in Richtung des Kreuzigungshügels zogen. Mit ein paar Püffen drängte ich mich zwischen den Menschen durch, um besser sehen zu können. Weit vorn lief Onkel Ruben, das schwere Kreuz wie ein Spielzeug auf seinem breiten Rücken. Er war stark wie ein Stier, doch nun schlurfte er mutlos seinen letzten Weg entlang. Ich versuchte, mich zu ihm durch zu drängen. Dann sah ich ihn, Jesus, den Mann, der unser König sein wollte.
Mühsam schleppte er sein Kreuz bergan. Schweiß stand ihm auf der Stirn und rollte in dicken Tropfen über sein Gesicht. Seine Lippen bewegten sich wie zu einem stummen Gespräch. Was er wohl dachte? Etwas wirklich Böses hatte er sich nicht zuschulden kommen lassen, und doch sollte er wie ein gemeiner Verbrecher ans Kreuz geschlagen werden. Eine Frau trat aus der Menge und reichte dem Erschöpften ein Tuch. Vorsichtig half sie ihm sich abzuwischen. Die Soldaten trieben Jesus an, sie wollten alles schnell hinter sich bringen und zu ihren Weinkrügen zurück. Einige Male stolperte der Gefangene, konnte dann nicht mehr weiter. Mit harten Worten zwangen die Römer einen der Schaulustigen, ihm das Kreuz abzunehmen und es bis oben auf den Hügel zu tragen.

Die Menschenmenge wurde dichter, ich verlor für einige Zeit den Blick auf die Verurteilten. Als ich mich wieder in die erste Reihe drängen konnte, waren die Kreuze bereits aufgerichtet. Jesus hing in der Mitte, rechts Onkel Ruben, links der Fremde. Es war furchtbar, den Bruder der Mutter dort so zu sehen. Er war immer gut zu mir gewesen, hatte mir Spielzeug geschnitzt und oft mit mir und seinen vielen Kindern gespielt. Elf Jahre zählte der Älteste, nur ein Jahr weniger als ich. Und heute sollte sein Vater sterben.
Ich quetschte mich auf die rechte Seite.
„Onkel“, flüsterte ich.
Der am Kreuz Hängende (hob den Kopf.
„Nathan“, wisperte er erschöpft. „Wie gut es tut, noch einen aus der Familie zu sehen, bevor ich gehe!“
„Die Tante ist auch da“, flüsterte ich. „Wahrscheinlich steht sie weiter hinten!“
„Grüß alle“, sagte er schwach. „Bald ist es vorbei.“
Lautes Stöhnen entrang sich seinen Lippen. Ein Soldat jagte mich ein Stück fort, aber ich blieb in der Nähe. Die Menschen verspotteten Jesus. Sie waren enttäuscht, dass er doch kein König war. „Du hast gesagt, du bist Gottes Sohn“, schrien sie bitter. „Und nun – was ist? Du kannst dir ja nicht einmal selber helfen. Und uns schon gar nicht!“
Was – dieser Mann sollte ein Sohn Jahwes sein? Dieses Gerücht war mir neu. Ich spitzte die Ohren.
Auch der fremde Verbrecher auf der linken Seite fiel in den Hohn der Menge ein und verspottete Jesus mit harten Worten. Da hob mein Onkel noch einmal den Kopf.
„Gleich musst du sterben“, sagte er matt. „Wie kannst du nur so böse von Gottes Sohn reden? Man hat ihn unschuldig ans Kreuz geschlagen! Das weiß ich sicher.“
„Ich danke dir, mein Freund“, flüsterte Jesus mit rauer Stimme. „Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein!“
Der Onkel nickte. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem strahlenden Lächeln und der Kopf sank ihm auf die Brust. Er war tot.
Von innen her schüttelte mich ein Weinen, wie ich es noch nie kannte. Ich fühlte, dass Jesus die Wahrheit sagte: Mein Onkel würde bei ihm im Himmel sein und er war wirklich Gottes Sohn. Aber auch er musste nun elend sterben. All das war schwer zu verstehen. Ich spürte nun keine Lust mehr, mir das Ende der anderen zwei Gekreuzigten anzusehen und schlich stumm durch die Menge nach Hause zurück. Mutter kam erst spät und völlig verweint heim. Sie war lange bei der Tante geblieben. Ich berichtete ihr, was ich unter dem Kreuz gehört hatte und sie nickte still.
„Ja, Nathan, auch ich glaube, dass es so ist, wie dieser Jesus sagt. Aber auch er starb, während ich noch mit deiner Tante unter des Onkels Kreuz stand.“
Mein Herz krampfte sich in Trauer zusammen. Ich verkroch mich auf mein Lager und blieb fast den ganzen folgenden Tag dort liegen. Viel bewegen durfte man sich am Sabbat ja ohnehin nicht.

Am nächsten Morgen musste ich in aller Herrgottsfrühe wieder zum Brunnen gehen und hörte dort viele Geschichten über die Kreuzigung. Der Vorhang des Tempels sei zerrissen, als Jesus starb, hieß es, und eine Finsternis habe sich um den Hügel gelegt. Ein reicher Kaufmann hätte den Leichnam mitgenommen und ihn in sein eigenes Grab im Fels legen lassen. Eilig brachte ich Mutter den vollen Eimer und rannte sofort zu den Hügeln, denn noch einmal wollte ich in der Nähe des Mannes sein, den ich nicht mehr vergessen würde. Außer Atem kam ich dort an, als die Sonne gerade ganz aufgegangen war. Auf einmal bebte die Erde unter meinen Füßen und vor mir sah ich eine weiße Gestalt. Bei der Grabhöhle standen einige Frauen, die sich jammernd unterhielten.
„Wie kriegen wir den schweren Stein denn fort? So versperrt er den ganzen Eingang und wir können unseren armen Herrn nicht einmal mehr salben!“
Die Frauen begannen zu weinen. Da trat die helle Gestalt zu dem schweren Felsbrocken und rollte ihn fort, als sei es ein Kieselstein.
„Seht“, sagte der Engel, „Das Grab ist leer. Der Herr ist auferstanden!“
Die Frauen wurden blass. Eine schrie auf. Eine andere rannte in das Grab und kam nach einem Moment wieder heraus.
„Es stimmt – die Höhle ist leer. Der Herr ist fort. Er ist auferstanden, wie er gesagt hat!“, jubelte sie. „Kommt, lasst uns in die Stadt eilen und allen Leuten erzählen, was sich hier Wunderbares zugetragen hat!“
Die Frauen stürmten davon. Vorsichtig schlich ich in die Grabhöhle. Ja, er war verschwunden. Nur die Leintücher, in die man Jesus gewickelt hatte, lagen noch in einer Ecke. Ein Stückchen Stoff steckte ich mir unter das Gewand – ich wollte diesen Moment nie vergessen. Lange stand ich still und spürte, die Welt hatte sich über Nacht verändert. Dann nahm ich die Beine in die Hand und lief so schnell ich konnte zu meiner Mutter.
„Junge – woher kommst du? Du bist ganz rot und dein Gesicht leuchtet so. Was ist geschehen?“
„Mutter“, rief ich. „Jesus lebt und sein Königreich wird kommen. Jetzt wird alles gut!“
Mama nickte nur. Dann nahm sie mich ganz fest in die Arme und sagte: „Ja, Nathan, nun wird alles besser. Lass uns aufbrechen und Jesus suchen. Vielleicht kann er uns gebrauchen. Wir wollen ihm helfen, sein Reich zu bauen.“

Maria Sassin

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