Vor Millionen von Jahren spazierten die Sonne und der Mond noch gemeinsam einträchtig über das Himmelszelt. Doch eines Tages begannen die beiden sich zu streiten und hörten nicht mehr auf. Unter diesem Gezanke litten besonders die Menschen auf Erden. Das Wetter änderte sich von einer Minute auf die andere. Blitz und Donner tobten sich aus, wenn die hitzige Sonne und der kühle Mond aneinander gerieten. Kaum hüllten sich die Menschen zitternd in ihre Fellmäntel, schob sich die Sonne zornentbrannt vor den Mond. Mit ihren heißen Strahlen heizte sie Seen und Meere auf, dass sie vor Hitze sprudelten und die Fische darin kochten wie in einem großen Suppentopf. Der Sand begann zu glühen und die Steine schienen zu schmelzen, sodass die Pflanzen kümmerlich verdursteten. Der Mond in seinem Zorn rief dichte, schwarze Wolken herbei, die ihre Schleusen öffneten und die Erde überschwemmten, nur um die Sonne zu ärgern.
Die vielen Sternenkinder, die jede Nacht am Himmel leuchteten, betrübte das sehr und sie baten: „Hört doch bitte auf, euch zu streiten!“
Doch weder Mond noch Sonne hörten auf sie. Da wickelten sich die Sterne in watteweiche Wolken und die Nacht wurde finster. Endlich, als Sonne und Mond ihren Streit beendeten und für immer getrennte Wege gingen, schauten sie wieder hervor.
Nur Alrai, der kleinste Sternenjunge, schlummerte sanft in seiner Wolke und wollte nicht erwachen. Die Wolke wollte weiter ihrer Wege ziehen und versuchte das Sternenkind aus seinem tiefen Schlaf zu wecken, doch Alrai erwachte nicht. Da trug ihn die Wolke einfach mit sich fort.
Unterdessen bemerkten die großen Sternengeschwister, dass der Platz, an dem Alrai stehen sollte, leer blieb. Sie begannen, überall nach ihm zu suchen, doch er war unauffindbar. Die Wolke aber trieb auf ein kleines, heimeliges Dorf zu. Behutsam schwebte sie der Erde zu und legte das schlafende Sternenkind vor der Schwelle eines Hauses nieder. Dann setzte sie ihren Weg fort.
Am frühen Morgen, der Hahn hatte noch nicht gekräht, erwachte der Bauer, dem das Haus gehörte, weil seine Ziegen im Stall unruhig waren und laut meckerten. Als er die Haustüre öffnete, um nach ihnen zu sehen, stolperte er über das Sternenkind. Die Morgendämmerung war kaum angebrochen, doch das Haar des fremden Kindes glänzte hell wie die Sonne, sodass der Bauer einen Moment lang geblendet schien. Da öffnete Alrai seine Augen und fragte verstört: „Wo bin ich?“ Er wollte sich aufrichten, doch eine tiefe Müdigkeit erfasste ihn, als er ins Tageslicht blinzelte. Die Bäuerin war neben ihren Mann getreten. „Ein Kind“, rief sie überrascht. „Wo kommt es wohl her?“
„Ich weiß es auch nicht. Vielleicht hat es uns der Himmel geschickt. Schau doch nur sein leuchtendes Haar!“ Sie beugten sich zärtlich über das Kind und versuchten, es zu wecken, doch dem fielen seine Äuglein immer wieder zu.
Da spannte der Bauer sein Pferd vor den Wagen und fuhr von Ort zu Ort, ob jemand das Kind vermisste. Haus für Haus klapperte er ab. Doch alle Nachforschungen blieben vergebens.
„Können wir ihn nicht behalten?“, bat die Bäuerin. Dabei schaute sie das Kind sehnsüchtig an. Ihre Ehe war kinderlos geblieben und es fehlte ein fröhliches Kinderlachen im Haus.
„Lass es wenigstens so lange bei uns, bis wir wissen, wem und wohin es gehört!“
Damit war der Bauer einverstanden, denn ihm erging es wie seiner Frau und insgeheim freute er sich, das Haus mit Leben zu füllen. Außerdem konnten sie einen Hütejungen für die Ziegen gut gebrauchen.
Die Wochen vergingen und in einem waren sich die Bauersleute schon bald einig. Das Kind war sonderbar. Es nannte sich selbst Alrai und auf die Frage, woher es käme, zeigte es in den Himmel. Damit konnten die Bauersleute nicht viel anfangen.
Abends war der Sternenjunge stets munter und tobte durchs Haus, sodass der Bauer ihn ein paarmal ermahnte, sich zur Ruhe zu legen. Schickte der Bauer Alrai morgens mit den Ziegen auf die Weide, legte der Sternenjunge sich ins weiche Gras und schlief. Die Tiere irrten umher und mussten abends gesucht und eingefangen werden. So geriet der Tagesplan des Bauern durcheinander. Zudem hörten die Ziegen plötzlich auf andere Namen, die ihnen Alrai gegeben hatte. Nun hießen sie Segin, Rukba, Shidir, Kuma, Tarf. Sie hörten nicht mehr auf die Namen, die sie vorher trugen.
Der Bauer hatte das Kind liebgewonnen und konnte ihm darüber nicht böse sein. So fragte er ihn nach einiger Zeit:
„Alrai, was sind das für Namen, die du den Ziegen gegeben hast?“
„Das sind die Namen meiner Geschwister, die oben im Himmel leben“. Nun begann der Bauer zu verstehen, dass Alrai ein Sternenkind war.
„Dann weißt du auch sicher, wie du hier hergekommen bist!“
„Ich weiß nur noch, dass ich mich in eine Wolke gehüllt habe und wohl eingeschlafen bin. Als ich erwachte, war ich hier unten bei dir.“
Die Antwort klang so überzeugend, dass der Bauer an den Worten des Jungen nicht mehr zweifelte. Spontan drückte er das Kind an sein Herz.
„Wie kann ich dir helfen?“, fragte er. „Gibt es einen Weg, wie du wieder zu deinen Geschwistern kommen kannst?“
„Ich glaube nicht“, antwortete der Sternenjunge. „Sie sind zu weit entfernt.“
Manchmal, wenn die Bauersleute schliefen, verließ Alrai heimlich sein Zimmer. Dann lief er zur Wiese, auf der er täglich mit den Ziegen weilte und blickte traurig den ziehenden Wolken nach. Wenn er glaubte, sie hingen tief genug, winkte er ihnen zu und rief: „Bitte, bitte nehmt mich mit!“
Doch die Wolken zogen schweigend vorüber, und erhörten ihn nicht. Alrai wurde immer trauriger und begann, bitterlich zu weinen. Die Bauersleute trösteten den Jungen so gut sie es vermochten, doch seinen Schmerz konnten sie nicht stillen.
Eines nachts, der Bauer und die Bäuerin wollten zu Bett gehen, vermissten sie das Sternenkind. Draußen war es stockdunkel, als sie sich auf den Weg machten, um es zu suchen. Der Himmel war übersät mit fröhlich blinkenden Sternlein, und die Milchstraße zeichnete sich so deutlich ab, als wäre sie gewaschen und blank gerieben worden.
Alrais helles Haar leuchtete schon von weitem. Er saß auf der Wiese und schaute wie immer zum Himmel empor. Da sahen sie, wie sich eine Wolke langsam schwebend der Erde näherte und mit Alrai sprach: „Bist du nicht der Sternenjunge, den ich vor Wochen hier zurückgelassen habe? Verzeih, ich vergaß dich mit der Zeit, denn Wolken ziehen immer weiter. Doch heute hörte ich dein Weinen und da erinnerte ich mich an dich. Wenn du möchtest, nehme ich dich wieder mit hinauf in den Himmel zu deinen Geschwistern?“
Alrai sprang freudig auf und die Wolke weitete sich, als würde sie die Arme ausbreiten.
Die Bauerleute eilten hinzu, um Abschied von ihrem geliebten Sternekind zu nehmen, dass sie schweren Herzens ziehen ließen. Doch sie wussten, es war richtig so und dass der Platz des kleinen Sternenjungen oben am Himmel bei seinen Geschwistern war.
Da hüllte ihn die Wolke liebevoll ein und zog mit ihm davon.
„Leb wohl, kleiner Sternenjunge“, riefen die Bauerleute und blickten der Wolke nach, bis sie nicht mehr zu sehen war.
„Ein Hütejunge wäre Alrai nie geworden!“, lachte die Bäuerin und plötzlich war ihr leicht ums Herz, denn es war gut so, wie es war. „Schau hinauf“, stupste sie ihren Mann an, der schmunzelnd zum Himmel blickte, „gleich wird ein Sternlein besonders hell am Himmel aufleuchten und uns zum Abschied zuwinken!“
Doch es waren tausende von Sternen, die in dieser Nacht vor Freude den Himmel besonders hell erstrahlen ließen.
Quelle: Marianne Schaefer