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Märchenbasar

Eine gute Lehre

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Zwei Jünglinge gesellten sich zusammen und gingen in Handelsgeschäften in die Welt. Während sie von Dorf zu Dorf herumzogen, trafen sie an einem Abende in einem auf einer Anhöhe gelegenen Dorfe ein und traten in ein Haus, welches ihnen das beste zu sein schien, um daselbst die Nacht zu verbringen. Sie klopften, und es kam ihnen ein alter Mann entgegen, der sehr würdevoll aussah. Dieser empfing die beiden Jünglinge sehr freundlich, lud sie ins Haus, wo sie auch gleich mit aller Offenherzigkeit ihn anredeten: »Väterchen! wir haben gewaltigen Hunger, seid so gut und besorget ein Nachtessen.« – »Seid unbesorgt«, erwiderte der Greis, »ein wenig Essen darf uns nicht fehlen.« Ehe jedoch der Alte ein Essen auftrug, fragte er die Fremden, was sie wohl Neues aus der Ferne brächten? Die Jünglinge erzählten ihm allerlei Unbedeutendes, wie dies auch heute der Fall ist, wenn Leute zusammenkommen. Inzwischen hatte sich einer von den Jünglingen aus der Stube ins Freie begeben. Der Greis benützte diesen Augenblick und fragte den in der Stube zurückgebliebenen Jüngling: »Junger Herr! seid Ihr vielleicht Brüder, dass Ihr einander so ähnlich sehet?« – »Bewahre der Himmel!« erwiderte der Jüngling, »solch ein Bruder würde mir wahrlich wenig Ehre machen! Zwar sieht er einem Menschen ähnlich, allein der Kerl ist ein Ochse, der auch mit Stroh vorlieb nimmt.«
Kaum hatte der Jüngling ausgeredet, als auch sein Reisegefährte in die Stube trat, und alsobald nahm das Gespräch eine andere Wendung. Nach einer Weile entfernte sich der andere Jüngling aus der Stube, und der Greis fragte den jetzt Zurückgebliebenen aus Neugierde, ob der andere Jüngling wohl sein Bruder sei, da sie doch einander wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein schienen. Da erwiderte dieser unwillig: »Ihr irret Euch, Väterchen! Ich wollte es nimmer, dass er mein Bruder wäre; denn er ist ein Esel, der keinen Unterschied zu machen weiss, wenn man ihm auch Grütze zum Speisen vorlegen würde.«
Als der Greis merkte, wie wenig einer des anderen Ehre wahre, machte er sich gleich auf, suchte ein Bund Stroh hervor, füllte eine Schüssel mit Grütze und legte solches auf den Boden vor die beiden Jünglinge. Die Fremdlinge, so dies sahen, fragten den Alten: »Warum uns solches vorlegen?« – »Sollte es nicht genügen«, antwortete der Greis, »so habe ich Stroh und Grütze noch in Fülle. Führwahr! Ihr sollt daran nicht Mangel haben. Oder sollten wohl gar der Ochs und der Esel damit nicht zufrieden sein?« – Nun sahen sich die Jünglinge gegenseitig an und erröteten. Da begann der Greis: »Junge Männer! Ihr dürfet mir nicht zürnen, dass ich solches Spiel mit Euch treibe; denn so viel der Mensch auch lernt, so ist ihm ihm eine Lehre doch nie überflüssig. Bei Euch ist dies auch der Fall, wenn Ihr es nur willig aufnehmen würdet. Wenn ich auch nicht gar klug und gelehrt bin, vermag ich doch zwei, drei Worte zu reden. Ob Ihr Brüder oder bloss Reisegefährten seid, ist Eure Sache; hierüber könnt Ihr jedermann nach Gefallen antworten. Doch – ich sage Euch – es ist nicht gut, seinen Gesellen zu verleumden. Denn wisset, Ehre gesellt sich mit Schimpf nie, und immer wird man nach dem Gesellschafter beurteilt.«
Hierauf nahm der Greis das Stroh und die gefüllte Schüssel bei Seite, tischte den Fremdlingen ein Nachtessen auf und behandelte sie fernerhin sehr freundlich. Sie gingen am nächsten Morgen weiter, dachten jedoch, so lange sie lebten, an den Greis und seine Lehre.

[Ukraine: Raimund Friedrich Kaindl: Ruthenische Märchen und Mythen aus der Bukowina]

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