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Elena die Weise

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In der ganz alten Zeit, in einem Land, nicht in unserem Reiche, mußte einmal ein Soldat vor einem steinernen Turme Wache stehen. Der Turm war mit einem Schloß verschlossen und einem Siegel versiegelt, und es war in der Nacht. Gerade um Mitternacht hörte der Soldat jemanden aus dem Turme rufen: »He, Soldat!«
»Wer ruft mich?« fragte der Soldat.
»Ich bin es – der böse Geist!« antwortete eine Stimme hinter einem vergitterten Fenster. »Dreißig Jahre sitze ich hier, ohne zu essen und zu trinken.«
»Was willst du?«
»Laß mich heraus; wenn du in Not bist, will ich dir helfen. Denk nur an mich, dann komme ich dir zu Hilfe.«
Da riß der Soldat gleich das Siegel ab, zerbrach das Schloß und öffnete die Tür. Der Böse flog aus dem Turme heraus, schwang sich in die Höhe und verschwand schneller als der Blitz.
»Nun«, dachte der Soldat, »da habe ich mir schöne Sachen angefangen. Mein ganzer Dienst ist verdorben. Jetzt werde ich eingesperrt, vor das Kriegsgericht gestellt und muß Spießruten laufen – besser, ich gehe davon, solang es noch Zeit ist.«
Er warf Büchse und Ranzen auf die Erde und ging fort, immer der Nase nach. Er ging einen Tag um den andern, da packte ihn der Hunger. Zu essen und zu trinken hatte er nichts; er setzte sich am Wege nieder, weinte bittere Tränen und dachte:
»Bin ich nicht dumm? Zehn Jahre diente ich dem Zaren, war immer satt und zufrieden, jeden Tag bekam ich drei Pfund Brot und jetzt! Ich lief davon, nur um vor Hunger zu sterben. Ach, böser Geist, an all dem bist du schuld!«
Plötzlich, der Soldat wußte nicht von woher, stand der Böse vor ihm und sagte:
»Guten Tag, Soldat, weshalb jammerst du?«
»Wie sollte ich anders, wenn ich schon den dritten Tag vor Hunger vergehe.«
»Gräm dich nicht, dem kann man abhelfen,« sagte der Böse. Er sprang hierhin und dorthin und brachte allerhand Weine und Speisen herbei, sättigte den Soldaten damit und schlug ihm dann vor:
»Komm mit in mein Haus, dort wirst du ein sehr freies Leben haben. Essen, trinken und faul sein kannst du so viel dein Herz begehrt; nur mußt du auf meine Töchter aufpassen, mehr verlange ich nicht von dir.«
Der Soldat war einverstanden. Der Böse nahm ihn beim Arm, erhob sich mit ihm hoch, hoch in die Luft und trug ihn über dreimal neun Lande ins dreimal zehnte Reich in seinen weißsteinernen Palast. Der Böse hatte drei Töchter, die waren wunderschön. Er befahl ihnen, dem Soldaten zu gehorchen und ihm genügend zu essen und zu trinken zu geben. Er selbst flog wieder fort, Schlechtigkeiten zu verüben, denn er war eben der Böse. Er kann nicht an einem Ort bleiben, er streift immer durch die Welt, verführt die Menschen und verleitet sie zur Sünde. Der Soldat blieb bei den schönen Mädchen und führte ein Leben, bei dem man ans Sterben vergessen konnte. Nur eines bekümmerte ihn: jede Nacht gingen die Mädchen aus dem Hause und er wußte nicht wohin. Wenn er sie danach fragte, so sagten sie es ihm nicht, sondern leugneten alles ab.
»Schon gut,« dachte der Soldat, »ich werde die ganze Nacht wachen, dann werde ich sehen, wohin ihr geht.«
Am Abend ging der Soldat zu Bett und tat, als schliefe er ganz fest ein; aber heimlich wartete er nur auf das, was geschehen würde. Als es Zeit war, schlich er leise zur Schlafkammer der Mädchen und sah durch das Schlüsselloch an der Türe. Die schönen Mädchen nahmen gerade einen Zauberteppich, breiteten ihn auf dem Fußboden aus, schlugen darauf und verwandelten sich in Tauben, flatterten auf und flogen zum Fenster hinaus.
»Was für ein Wunder!« dachte der Soldat, »das will ich auch probieren.«
Er sprang in das Zimmer, schlug auf den Teppich und verwandelte sich in eine kleine Grasmücke; so flog er zum Fenster hinaus und den Mädchen nach. Die Tauben ließen sich auf einer grünen Wiese nieder und die Grasmücke auch. Der Soldat verbarg sich hinter den Blättern eines Johannisbeerstrauches und von dort schaute er hervor. Es kamen noch viele, viele Tauben geflogen und füllten die ganze Wiese, und in der Mitte von der Wiese stand ein goldener Thron. Nach kurzer Weile erstrahlten Himmel und Erde, und durch die Luft kam ein goldener Wagen geflogen, der war mit sechs feurigen Drachen bespannt; darin saß Elena die Weise. Die war von so unbeschreiblicher Schönheit, daß man sie sich weder vorstellen, noch erfinden, noch im Märchen schildern kann. Sie stieg aus dem Wagen, setzte sich auf den Thron, rief dann die Tauben der Reihe nach auf und lehrte sie verschiedene Weisheiten. Als der Unterricht zu Ende war, sprang sie in ihren Wagen und fort war sie.
Jetzt erhoben alle Tauben ihre Flügel und flogen davon, jede nach ihrer Seite. Die Grasmücke folgte den drei Schwestern und war zu gleicher Zeit mit ihnen wieder in der Schlafkammer. Die Tauben verwandelten sich auf dem Teppich in Mädchen, die Grasmücke in den Soldaten.
»Woher kommst du?« fragten ihn die Mädchen.
»Ich war mit euch auf der Wiese, sah die schöne Königstochter auf dem goldenen Thron und hörte, wie sie euch mancherlei Künste lehrte.«
»Nun, es ist dein Glück, daß du heil wieder hier bist, denn diese Königstochter, Elena die Weise, ist unsere mächtige Gebieterin. Hätte sie ihr Zauberbuch bei sich gehabt, so hätte sie dich sofort erspäht und mit einem harten Tode bedroht. Hüte dich, Soldat! Flieg nicht mehr auf die grüne Wiese! Bewundere nicht mehr die schöne Königstochter, sonst verlierst du deinen stürmischen Kopf.«
Den Soldaten bekümmerte das nicht. Er ließ die Reden an seinen Ohren vorübergleiten und erwartete die nächste Nacht.
Durch den Teppich verwandelte er sich wieder in eine Grasmücke und flog auf die grüne Wiese.
Unter dem Johannisbeerstrauche verborgen, betrachtete er Elena die Weise. Er freute sich über ihre unsagbare Schönheit und dachte:
»Könnte ich ein solches Weib erlangen, so bliebe mir auf dieser Welt nichts zu wünschen übrig. Ich fliege ihr nach und erfahre, wo sie lebt.«
Als Elena die Weise ihren goldenen Thron verließ, ihren Wagen bestieg und durch die Luft in ihren schönen Palast fuhr, flog die Grasmücke hinter ihr drein.
Die Königstochter fuhr in ihr Schloß und Wärterinnen und Ammen eilten ihr entgegen, ergriffen ihre Hände und führten sie ins Schloß.
Die Grasmücke flog in den Garten, wählte einen schönen Baum, der unter dem Fenster des königlichen Schlafzimmers lag, setzte sich auf ein Zweiglein und begann zu singen, so schön und so schmerzlich, daß die Königstochter die ganze Nacht kein Auge zutat, sondern immer nur zuhörte.
Kaum war die rote Sonne aufgegangen, so rief Elena die Weise mit lauter Stimme:
»Dienerinnen und Ammen, lauft in den Garten, das Vöglein zu fangen.«
Wärterinnen und Ammen eilten in den Garten, den Singvogel zu fangen, aber wie hätte den Alten das gelingen können? Die Grasmücke hüpfte von Strauch zu Strauch, von Ast zu Ast, flog nicht weit fort, aber greifen ließ sie sich nicht.
Die Königstochter hielt es nicht aus, lief selbst in den grünen Garten hinaus, um die Grasmücke zu fangen. Sie trat an den Strauch, da rührte sich das Vöglein auf seinem Ästchen nicht, ließ die Flüglein hängen, als hätte es Elena erwartet. Das freute die Königstochter. Sie nahm das Vöglein in ihre Hand, trug es ins Schloß, setzte es in einen goldenen Käfig und hängte den in ihrem Schlafzimmer auf. Der Tag verging, die Sonne sank, Elena flog auf die grüne Wiese, kehrte wieder zurück in ihr Zimmer und legte ihren Schmuck ab. Sie zog sich aus und legte sich schlafen.
Die Grasmücke sah ihren weißen Leib, ihre unbeschreibliche Schönheit und bebte. Sobald die Königstochter eingeschlafen war, verwandelte sich die Grasmücke in eine Fliege, flog aus dem goldenen Käfig heraus, schlug auf den Fußboden und wurde zum wackern jungen Mann.
Er trat an das Bett der Königstochter, sah fort und fort ihre Schönheit an. Er ertrug es nicht länger, sie nur anzusehen und küßte ihren süßen Mund. Als er merkte, daß sie erwachte, verwandelte er sich schnell wieder in eine Fliege, flog in den Käfig und war wieder eine Grasmücke.
Elena die Weise machte die Augen auf und sah sich um, es war aber niemand da.
»Gewiß träumte ich nur«, dachte sie, drehte sich auf die andere Seite um und schlief wieder ein.
Der Soldat hielt es nicht aus und versuchte es ein zweites- und ein drittesmal.
Die Königstochter hatte aber einen leichten Schlaf und erwachte nach jedem Kusse.
Das drittemal verließ sie ihr Bett und sprach:
»Sicherlich ist jemand hier. Ich muß in meinem Zauberbuche nachsehen.«
Sie tat es und wußte sofort, daß in dem goldenen Käfig kein einfacher Vogel, sondern ein junger Soldat saß.
»Ach, du Lümmel!« schrie Elena die Weise. »Komm aus dem Käfig heraus. Für deine Unaufrichtigkeit zahlst du mit deinem Leben!«
Es war nichts zu machen. Die Grasmücke mußte aus dem Käfig herausfliegen, schlug auf dem Fußboden auf und verwandelte sich in einen wackeren Jüngling.
Der Soldat fiel vor der Königstochter auf die Knie und flehte um Vergebung.
»Nein, Bösewicht, für dich gibt es keine Gnade!« schrie Elena die Weise und rief nach dem Henker mit seinem Richtblock, damit er dem Soldaten den Kopf abschlage.
Sogleich stand ein Riese mit Beil und Richtblock vor ihr, warf den Soldaten zu Boden, drückte sein stürmisches Haupt auf den Block und hob das Richtbeil. Winkte nur die Königstochter, so rollte sein junges Haupt davon.
»Hab Erbarmen, wunderschöne Königstochter«, bat der Soldat mit Tränen, »laß mich ein letztes Lied singen.«
»Sing, aber eile dich.«
Der Soldat stimmte ein Lied an, so traurig und wehmutsvoll, daß Elena die Weise zu weinen begann. Ihr wurde es leid um den jungen Mann und sie sagte zu ihm:
»Ich gebe dir zehn Stunden Zeit; kannst du dich so geschickt verstecken, daß ich dich nicht finden kann, werde ich dein Weib. Gelingt es dir nicht, laß ich dir den Kopf abschlagen.«
Der Soldat ging in den dichten Wald, setzte sich unter einen Strauch, dachte nach und war sehr traurig.
»Ach böser Geist, deinethalben sterbe ich!«
Sofort stand der Böse vor ihm.
»Soldat, was willst du?«
»Ach,« sagte er, »ich muß sterben, denn wie sollte ich mich vor Elena der Weisen verstecken?«
Der Böse schlug auf die Erde auf und verwandelte sich in einen schillernden Adler.
»Soldat, setz dich auf meinen Rücken, ich trage dich in die Luft.«
Der Soldat tat es und der Adler flog hinauf in die Luft, bis hinter einen schwarzen Wolkenberg.
Fünf Stunden waren vergangen, da nahm Elena die Weise ihr Zauberbuch, schaute nach, sah alles wie auf der flachen Hand und sprach laut:
»Adler, du bist hoch genug geflogen, vor mir verbirgst du dich doch nicht.«
Der Adler ließ sich herab und der Soldat trauerte noch mehr als vorher.
»Was soll ich jetzt tun, wohin soll ich mich verstecken?«
»Warte, ich helfe dir«, sagte der Böse, sprang zu dem Soldaten und schlug ihn auf die Wange. Da wurde er zu einer Stecknadel. Sich selbst verwandelte er in eine Maus, packte die Nadel mit den Zähnen und schlich ins Schloß. Er fand das Zauberbuch und steckte die Nadel hinein.
Als die zweiten fünf Stunden um waren, schlug Elena die Weise ihr Zauberbuch auf. Sie schaute und schaute, aber das Buch zeigte ihr nichts, da wurde die Königstochter sehr zornig und warf das Buch in den Ofen. Dabei fiel die Nadel aus dem Buche, schlug auf dem Fußboden auf und verwandelte sich in einen wackeren Jüngling.
Elena die Weise nahm ihn bei der Hand und sagte:
»Ich bin klug, aber du bist noch klüger.«
Sie überlegten nicht lange, sondern heirateten und lebten vergnügt miteinander.

[Rußland: A.N. Afanaßjew: Russische Volksmärchen]

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