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Märchenbasar

Fingerhütchen

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Es war einmal ein armer Mann, der lebte in dem fruchtbaren Tale von Acherlow an dem Fuße des finstern Galti-Berges. Er hatte einen großen Höcker auf dem Rücken und es sah gerade aus, als wäre sein Leib heraufgeschoben und auf seine Schultern gelegt worden. Von der Wucht war ihm der Kopf so tief herabgedrückt, daß wenn er saß, sein Kinn sich auf seine Knie zu stützen pflegte. Die Leute in der Gegend hatten Scheu, ihm an einem einsamen Orte zu begegnen und doch war das arme Männchen so harmlos und friedliebend wie ein neugebornes Kind. Aber seine Ungestaltheit war so groß, daß er kaum wie ein menschliches Geschöpf aussah, und boshafte Leute hatten seltsame Geschichten von ihm verbreitet. Man erzählte sich, er besitze große Kenntnis der Kräuter und Zaubermittel, aber gewiß ist, daß er eine geschickte Hand hatte, Hüte und Körbe aus Stroh und Binsen zu flechten, auf welche Weise er sich auch sein Brot erwarb.
Fingerhütchen war sein Spottname, weil er allzeit auf seinem kleinen Hut einen Zweig von dem roten Fingerhut oder dem Elfenkäppchen trug. Für seine geflochtenen Arbeiten erhielt er einen Groschen mehr als andere und aus Neid darüber mögen einige wohl die wunderlichen Geschichten von ihm in Umlauf gebracht haben. Damit verhalte es sich nun, wie es wolle, genug es trug sich zu, daß Fingerhütchen eines Abends von der Stadt Cahir nach Cappagh ging und da er wegen des lästigen Höckers auf dem Rücken nur langsam fortkonnte, so war es schon dunkel, als er an das alte Hünengrab von Knockgrafton kam, welches rechter Hand an dem Wege liegt. Müde und abgemattet, niedergeschlagen durch die Betrachtung, daß noch ein gutes Stück Weg vor ihm liege und er die ganze Nacht hindurch wandern müsse ,setzte er sich unter den Grabhügel, um ein wenig auszuruhen und sah ganz betrübt den Mond an, der eben silberrein aufstieg.
Auf einmal drang eine fremdartige, unterirdische Musik zu den Ohren des armen Fingerhütchens. Er lauschte und ihm deuchte, als habe er noch nie so etwas entzückendes gehört. Es war wie der Klang vieler Stimmen, deren jede zu der andern sich fügte und wunderbar einmischte, so daß es nur eine einzige zu sein schien, während doch jede einen besondern Ton hielt. Die Worte des Gesangs waren diese: »Da Luan, Da Mort, Da Luan, Da Mort, Da Luan, Da Mort.« Darnach kam eine kleine Pause, worauf die Musik von vorne wieder anfing.
Fingerhütchen horchte aufmerksam und getraute kaum Atem zu schöpfen, damit ihm nicht der geringste Ton verloren ginge. Er merkte nun deutlich, daß der Gesang mitten aus dem Grabhügel kam und obgleich anfangs auf das höchste davon erfreut, ward er es doch endlich müde, denselben Rundgesang in einem fort, ohne Abwechslung, anzuhören. Als abermals Da Luan, Da Mort dreimal gesungen war, benutzte er die kleine Pause, nahm die Melodie auf und führte sie weiter mit den Worten: augus Da Cadine! dann fiel er mit den Stimmen in dem Hügel ein, sang Da Luan, Da Mort, endigte aber bei der Pause mit seinen augus Da Cadine.
Die Kleinen in dem Hügel, als sie den Zusatz zu ihrem Geistergesang vernahmen, ergötzten sich außerordentlich daran und beschlossen sogleich das Menschenkind hinunter zu holen, dessen musikalische Geschicklichkeit die ihrige so weit übertraf, und Fingerhütchen ward mit der kreisenden Schnelligkeit des Wirbelwindes zu ihnen getragen.
Das war eine Pracht, die ihm in die Augen leuchtete, als er in den Hügel hinabkam, rund umher schwebend, leicht wie ein Strohhälmchen! und die lieblichste Musik hielt ordentlich Takt bei seiner Fahrt. Die größte Ehre wurde ihm aber erzeigt, als sie ihn über alle die Spielleute setzten. Er hatte Diener, die ihm aufwarten mußten, alles was sein Herz begehrte, wurde erfüllt und er sah, wie gerne ihn die Kleinen hatten; kurz, er wurde nicht anders behandelt, als wenn er der erste Mann im Lande gewesen wäre.
Darauf bemerkte Fingerhütchen, daß sie die Köpfe zusammensteckten und mit einander ratschlagten und so sehr ihm auch ihre Artigkeit gefiel, so fing er doch an sich zu fürchten. Da trat einer der Kleinen zu ihm hervor und sagte:

»Fingerhut, Fingerhut!
faß dir frischen Mut!
lustig und munter,
dein Höcker fällt herunter,
siehst ihn liegen, dir gehts gut,
Fingerhut, Fingerhut!«

Kaum waren die Worte zu Ende, so fühlte sich das Fingerhütchen so leicht, so selig, daß es wohl in einem Satz über den Mond weggesprungen wäre, wie die Kuh in dem Märchen von der Katze und der Geige. Er sah mit der größten Freude von der Welt den Höcker von seinen Schultern herab auf den Boden rollen. Er versuchte darauf, ob er seinen Kopf in die Höhe heben könnte, tat es aber mit Vorsicht und Verstand, aus Furcht, er möchte ihn an dem Tafelwerk der großen Halle einstoßen. Dann aber schaute er rings herum mit der größten Bewunderung und ergötzte sich an all den Dingen, die ihm immer schöner vorkamen. Zuletzt ward er so überwältigt von der Betrachtung des glänzenden Aufenthalts, daß ihm der Kopf schwindelte, die Augen geblendet wurden und er in einen tiefen Schlaf verfiel.
Bei seinem Erwachen war es voller Tag geworden. Die Sonne schien hell, die Vögel sangen und er lag gerade an dem Fuße des Riesenhügels, während Kühe und Schafe friedlich um ihn her weideten. Nachdem Fingerhütchen sein Gebet gesagt hatte, war sein erstes Geschäft mit der Hand nach seinem Höcker zu greifen, aber es war auf dem Rücken keine Spur davon zu finden, und er betrachtete sich nicht ohne Stolz, denn aus ihm war ein wohlgebildeter, behender Bursche geworden, und, was keine Kleinigkeit schien, er sah sich von Kopf bis zu Füßen in neuen Kleidern und merkte wohl, daß die Geister ihm diesen Anzug besorgt hatten.
Nun machte er sich auf den Weg nach Cappagh, er ging so tapfer daher und sprang bei jedem Schritte, als wenn er es sein Lebtag nicht anders gewohnt gewesen wäre. Niemand, der ihm begegnete, erkannte Fingerhütchen ohne den Höcker und er hatte große Mühe, die Leute zu überreden, daß er es wirklich wäre und in der Tat, seinem Aussehen nach war er es auch nicht mehr.
Wie es aber zu gehen pflegt, die Geschichte von Fingerhütchens Höcker wurde überall bekannt und viel Wesens davon gemacht. Meilenweit in der Gegend redete Jedermann, vornehm oder gering, von nichts als von dieser Begebenheit.
Eines Morgens saß Fingerhütchen an seiner Haustüre und war guter Dinge. Da trat eine alte Frau zu ihm und sagte:
»Zeigt mir doch den Weg nach Cappagh.«
»Ist nicht nötig, liebe Frau«, antwortete er, »denn das ist hier Cappagh, aber wo kommt ihr her?«
»Ich komme aus der Gegend von Decie in der Grafschaft Waterford und suche einen Mann, der Fingerhütchen genannt wird und dem die Elfen sollen einen Höcker von der Schulter genommen haben. Da ist der Sohn meiner Gevatterin, der hat einen Höcker auf sich sitzen, der ihn noch tot drücken wird; vielleicht würde er davon erlöst, wenn er wie Fingerhütchen ein Zaubermittel anwenden könnte. Nun stellt Ihr Euch leicht vor, warum ich so weit hergekommen bin, ich möchte, wenns möglich wäre, etwas von dem Zauber-mittel erfahren.«
Fingerhütchen, das immer gutmütig gewesen war, erzählte der alten Frau den Hergang ganz umständlich, wie es den Gesang der Elfen in dem Grabhügel fortgeführt, wie sie den Höcker von seinen Schultern weggenommen und wie sie ihm einen neuen Anzug von Kopf bis zu Füßen noch obendrein gegeben hätten.
Die alte Frau dankte tausendmal und machte sich wieder auf den Heimweg, zufrieden gestellt und ganz glücklich in ihren Gedanken. Als sie bei ihrer Gevatterin in der Grafschaft Waterford angelangt war, erzählte sie genau, was sie von Fingerhütchen erfahren hatte. Darnach setzte sie den kleinen buckelichen Kerl, der sein Lebelang ein heimtückisches, hämisches Herz gehabt hatte, auf einen Wagen und zog ihn fort. Es war ein langer Weg, »aber was tut das«, dachte sie, »wenn er nur den Höcker los wird«; eben als die Nacht einbrach, langte sie bei dem Riesenhügel an und legte ihn dabei nieder.
Hans Madden, denn das war der Name des Buckelichen, hatte noch gar nicht lange gesessen, so hub schon die Musik in dem Hügel an, noch viel lieblicher als je, denn die Elfen sangen ihr Lied mit dem Zusatz, den sie von Fingerhütchen gelernt hatten: Da Luan, Da Mort, Da Luan, Da Mort, Da Luan, Da Mort, augus Da Ladine, ohne Unterbrechung. Hans, der nur geschwind seinen Höcker los sein wollte, wartete nicht, bis die Elfen mit ihrem Gesang fertig waren, noch achtete er auf einen schicklichen Augenblick, um die Melodie weiter, als Fingerhütchen fortzuführen, sondern als sie ihr Lied mehr als siebenmal in einem fort gesungen hatten, so schrie er ohne Rücksicht auf Takt und Weise der Melodie, und wie er seine Worte passend anbringen könnte, aus vollem Halse: Augus Da Dardine, augus Da Hena, und dachte: »war ein Zusatz gut, so sind zwei noch besser, und hat Fingerhütchen einen neuen Anzug erhalten, so werden sie mir wohl zwei geben.«
Kaum waren aber die Worte über seine Lippen gekommen, so ward er aufgehoben und mit wunderbarer Gewalt in den Hügel hineingetragen. Hier umringten ihn die Elfen, waren sehr böse, und schreiend und kreischend riefen sie: »Wer hat unsern Gesang geschändet? Wer hat unsern Gesang geschändet?« Einer trat hervor und sprach zu ihm:

»Hans Madden, Hans Madden!
deine Worte schlecht klangen,
so lieblich wir sangen,
hier bist du gefangen,
was wirst du erlangen?
zwei Höcker für einen! Hans Madden!«

Und zwanzig von den stärksten Elfen schleppten Fingerhütchens Höcker herbei und setzten ihn oben auf den Buckel des unglückseligen Hans Madden und da saß er so fest, als wenn er mit zwölfpfennigs Nägeln von dem besten Zimmermann, der je Nägel eingeschlagen hat, aufgenagelt wäre. Darnach stießen sie ihn mit den Füßen aus ihrer Wohnung und am Morgen, als Hans Maddens Mutter und ihre Gevatterin kamen, nach dem kleinen Kerl zu sehen, so fanden sie ihn an dem Fuß des Hügels liegen, halbtot mit einem zweiten Höcker auf seinem Rücken. Sie betrachteten ihn eine nach der andern, aber es blieb dabei; am Ende ward ihnen Angst, es könnte ihnen auch ein Höcker auf den Rücken gesetzt werden. Sie brachten den armseligen Hans wieder heim, so betrübt im Herzen und so jämmerlich anzusehen, als noch je ein paar alte Weiber. Hans, durch das Gewicht des zweiten Höckers und die lange Fahrt erschöpft, starb bald hernach, indem er jedem eine schwere Verwünschung hinterließ, der auf den Gesang der Elfen horchen wollte.

Anmerkung
Knockgrafton, nach der Aussprache des Volks, sollte O’Briens irischem Wörterbuch zufolge vielmehr Knockgraffan oder Raffan geschrieben sein; daselbst wird auch bemerkt, daß dies in alten Zeiten ein Haus der Könige von Munster gewesen und hierhin der berühmte Cormac Mac Airt als Gefangener sei gebracht worden.
Die Worte des einfachen Gesanges bezeichnen die Wochentage: Montag, Dienstag und Mittwoch und mußten eigentlich geschrieben sein: Dia Luain, Dia Mairt, agus Dia Ceadaoine.
Die Melodie hat A. D. Roche aufgezeichnet, sie ist ohne Zweifel alt und wird gemeinlich von jedem geschickten Erzähler gesungen, um den Eindruck zu erhöhen.
Unter Fingerhut (lusmore, wörtlich: das große Kraut) ist die zierliche pupurea digitalis gemeint, welche das Volk Elfenkäppchen nennt, weil die Mützen der Elfen ihren Blüten ähnlich sein sollen. Mit dieser Pflanze ist noch mancher Aberglaube verbunden, namentlich soll sie überirdische Wesen grüßen, indem sie zum Zeichen der Anerkenntnis ihren hohen Stengel beuge.
Es gehört zu jener Reihe von Märchen, in welchen dargestellt wird, daß die Geister nur den Guten Glück gewähren, und dem Bösen dieselbe Gunst, wenn er sie fordert, zum Bösen ausschlägt. Vergl. die Anmerkungen im 3ten B. der Hausmärchen, S. 155.

Quelle: Brüder Grimm (Irische Elfenmärchen)

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