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Märchenbasar

Fünf im Überfluss

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In einer kleinen Hütte am Rande eines dichten Waldes lebte einmal ein armer Mann mit Frau und Kindern. Mühsam versuchte der Vater, seine Familie mit dem bisschen, das er im Wald finden konnte, am Leben zu erhalten. Sein einziger Schatz war ein altes Huhn, das täglich ein Ei legte, und damit einen wichtigen Beitrag zur Ernährung der Familie lieferte.

Doch eines Morgens stürzte die jüngste Tochter aufgeregt in die Stube. „Vater, Mutter, die Hanna liegt am Boden und rührt sich nicht! Und ein Ei habe ich auch nicht gefunden.“ Sofort liefen alle zu dem kleinen Käfig, in dem Hanna die Nächte verbrachte. Mit einem Stoßgebet auf den Lippen legte die Mutter ihre zitternde Hand auf das Huhn und ließ sie scheinbar eine Ewigkeit dort liegen. Zuerst beobachteten die Kinder hoffnungsvoll ihr Tun, doch als sie sahen, dass sich die Augen der lieben Mutter mit Tränen füllten, senkten sie den Blick und bissen sich auf die Unterlippen. Niemand wollte die schreckliche Tatsache aussprechen: Hanna war tot.

Endlich fasste sich die Mutter ein Herz, lächelte tapfer ihre Kinder an und sagte mit zitternder Stimme: „Heute gibt es ein besonderes Mittagessen.“ Fragend und neugierig blickten die Kleinen zu ihrer Mutter auf. „Hühnersuppe“, konnte diese noch schnell hervorpressen, bevor ihr der Gram die Stimme nahm.

Der Vater sagte zu all dem nichts, schulterte einen alten Sack, nahm einen ebenso alten Korb und ging mit festen Schritten in den Wald. „Lieber Gott, lass den gestrigen Regen nicht vergeblich gewesen sein. Lass die Pilze wachsen. Heute ist Markttag. Da kann ich sie sicher gegen ein junges Huhn eintauschen.“ Doch der Himmel hatte kein Erbarmen. Außer ein paar Eierschwammerln fand der arme Mann nichts.

Als die Sonne schon hoch am Himmel stand, kam er zu einer Lichtung, die er noch nie gesehen hatte, obwohl er doch den ganzen Wald wie seine Westentasche kannte. Aber der Mann verschwendete daran keinen Gedanken, denn in der Mitte dieser Lichtung standen in einem perfekten Fünfeck angeordnet fünf stattliche, makellose Herrenpilze. Schnell kramte er sein Messer aus der Hosentasche, schnitt die Pilze ordentlich ab und legte sie vorsichtig, ja andächtig in seinen Korb. Dann richtete er sich wieder auf und blickte suchend umher, ob diese Lichtung nicht weitere Überraschungen zu bieten hatte.

Plötzlich ertönte eine leise Stimme: „Was machst du mit meinem Eigentum?“

Der Mann zuckte zusammen und für einen Moment hörte er nur das Blut in seinen Ohren rauschen. Da er aber niemanden sah, beruhigte er sich schnell wieder und setzte seine Suche fort. Doch da hörte er schon wieder die Stimme: „Was machst du mit meinem Eigentum?“

Wieder erschrak der Mann, doch dann fasste er sich ein Herz und fragte ebenso leise: „Wer bist du?“

„Ich bin der Besitzer dieses Ortes“, antwortete die Stimme, und gleichzeitig stand ein kleines Männchen mit einem langen, grauen Bart vor dem verblüfften Mann. Es trug eine lederne Hose, einen roten Rock und eine braune, kegelförmige Kopfbedeckung. „Und jetzt antworte mir: Was machst du mit meinem Eigentum?“

Dem armen Mann hatte es die Sprache verschlagen. Er hatte zwar schon viele Geschichten über Zwerge, Kobolde und andere mystische Wesen gehört, aber diese immer als Ausgeburt der Phantasie betrachtet. Doch jetzt stand tatsächlich ein solches Wesen vor ihm und verlangte Rechenschaft. Es brauchte einige Zeit, bis er seine Sinne wieder so weit zusammen hatte, dass er der Aufforderung folgen und sein ganzes Leid klagen konnte.

Das kleine Männchen hörte aufmerksam zu, sagte aber nichts. Es strich nur immer wieder über seinen Bart und runzelte hin und wieder die Stirn. Als die Erzählung beendet war, senkte es seinen Kopf, schloss kurz die Augen, als ob es angestrengt nachdenken würde, und begann plötzlich wieder zu sprechen:

„Ich erkenne deine Not und will dir daher deinen Diebstahl verzeihen. Du darfst die Pilze behalten. Ich kann mir jederzeit neue wachsen lassen.“

Dann blickte es dem verängstigten Mann scharf in die Augen und fragte ihn: „Soll ich noch etwas für dich tun? Hast du einen Wunsch?“

„Nein, nein, was solltest du für mich tun?“, stammelte der Mann. „Ich bin in dein Eigentum eingedrungen, ich habe doch gar kein Recht, etwas von dir zu verlangen.“

Bei diesen Worten wurde der Blick des kleinen Männchens wieder mild und es sprach: „Du hast mir richtig geantwortet, du hast dazu gar kein Recht. Aber ich kenne die Menschen. Die meisten hätten von mir Gold und andere Schätze verlangt. Ihnen hätte ich nichts gegeben. Doch du sollst etwas bekommen. Aber überlege dir gut, ob du es auch haben willst.“

Der arme Mann wurde immer verwirrter. Was wollte ihm das Männchen geben? Warum sollte er sich überlegen, ob er es haben wolle? Konnte er in seiner Not nicht alles gebrauchen? Da das Männchen nicht weiter sprach, fasste er sich ein Herz und fragte es: „Was willst du mir denn geben? Wenn ich das nicht weiß, kann ich keine Entscheidung treffen.“

„Wieder hast du richtig geantwortet. Ich will dir einen Zauber schenken, der aus allem, von dem genau fünf Stück in deinem Besitz sind, viele macht. Verstehst du, was ich meine?“

„Ja, ich hätte dann nicht fünf Pilze sondern viele.“

Das Männchen lachte: „Genau, aber der Zauber gilt nicht nur für die Pilze, sondern für alles, von dem du jetzt oder irgendwann einmal fünf Stück hast. Und zwar genau fünf. Also überlege dir, wovon du fünf Stück hast.“

Schnell folgte der Mann dieser Aufforderung, konnte aber das Problem nicht erkennen. Wovon hätte er nicht gern mehr? Nach längerem Nachdenken schüttelte er schließlich den Kopf: „Nein, ich habe von nichts fünf Stück.“

„Hast du auch an alles gedacht? Mein Zauber gilt wirklich für alles. Wie viele Fenster hat deine Hütte?“

„Zwei“, antwortete der Mann erstaunt und zählte schnell noch einmal alles nach.

„Kinder?“, unterbrach ihn das Männchen. „Ich möchte dich aufmerksam machen, dass auch für die mein Zauber gilt.“

„Vier“, stammelte der Mann, während ihm der Schreck durch die Glieder fuhr. Wenn seine Frau noch ein Kind bekommen würde, dann … Er wagte es gar nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Doch nach der letzten Geburt war es seiner Frau so schlecht gegangen, dass er sie zu einem Arzt gebracht hatte, und dieser hatte ihm versichert, dass sie keine Kinder mehr bekommen könnte. Da ihn das Männchen immer noch lauernd ansah, ergänzte er: „Meine Frau ist unfruchtbar, wir werden kein fünftes Kind bekommen.“

„Gut, wie lautet also deine Antwort?“

Noch einmal überlegte der Mann, dann antwortete er mit fester Stimme: „Ich nehme dein Angebot gerne an und will dir auch immer dafür dankbar sein.“

„So soll es sein.“ Nach diesen Worten zog das Männchen einen Stab aus seinem Rock, machte damit einige schnelle Bewegungen, richtete schließlich die Spitze des Stabs auf sein Gegenüber und sprach nunmehr mit lauter Stimme:

„Hokuspokus, Zauberstein:
Fünfe sollen viele sein!“

Kaum waren diese Worte verklungen, verschwand das Männchen und dort, wo es eben noch gestanden hatte, lag ein Berg prächtigster Pilze. Verwundert rieb sich der Mann die Augen. Er konnte sein Glück kaum fassen. Vorsichtig nahm er einen der Pilze in die Hand, befühlte ihn mit seinen Fingern und roch daran. Es war keine Täuschung. Die Pilze waren echt. Freudig füllte er seinen Korb und seinen Sack mit der kostbaren Ware und machte sich rasch auf den Weg zum Markt.

Am Abend wanderte mit leichtem Schritt ein fröhlicher Mann zur kleinen Hütte am Waldesrand. In der linken Hand trug er einen Käfig, in dem ein braunes Huhn saß. Mit der rechten Hand trieb er eine Kuh den Hang hinauf. Voller Vorfreude auf die erstaunten Gesichter seiner Lieben summte er vor sich hin.

Doch als er sich der heimatlichen Hütte näherte, lief ihm kein Kind entgegen, erwartete ihn keine Frau mit fragendem Blick vor der Tür. Nicht einmal Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Eiskalt wurde es dem Mann ums Herz. Er stellte den Käfig mit dem Huhn auf den Boden, ließ die Kuh stehen und rannte zur Hütte. An der geschlossenen Tür hing ein kleiner Zettel mit der Aufschrift: Nicht öffnen! Aber hinter der Hütte konnte er Stimmen hören. Schnell bog er um die Ecke und blieb erstarrt stehen. Überall lagen Hühnereier, hunderte Eier. Das Fenster zur Stube stand offen. Seine Frau und seine älteste Tochter reichten den drei anderen Kindern Eier aus dem Fenster, die diese sorgfältig am Boden auflegten.

„Was ist denn hier los?“, rief der Mann seinen Lieben zu. Vorsichtig über die Eier steigend kamen die Kinder zu ihm und erzählten gleichzeitig, was passiert war. Der Vater konnte kein Wort verstehen. Mit einem kurzen Befehl verschaffte er sich Ruhe und bahnte sich einen Weg zum Stubenfenster. Dort lehnte seine erschöpfte Frau. In ihren Augen spiegelten sich Unverständnis, Verzweiflung und blankes Erstaunen.

„Was ist geschehen?“, wollte der Mann wissen.

„Ich weiß nicht“, schluchzte seine Frau. „Die Kinder haben in der Schule erzählt, dass unsere Henne gestorben ist. Am Nachmittag kam die Pfarrersköchin und brachte uns ein paar Eier. Kaum war sie gegangen, passierte es. Plötzlich war die Hütte voll Eier. Überall stapelten sie sich. Ich kann mir das nicht erklären.“

Obwohl der Vater sicher war, das Rätsel lösen zu können, fragte er vorher noch: „Wie viele Eier hat denn die Pfarrersköchin gebracht? Lass mich raten. Waren es fünf?“

„Woher weißt du das? Es waren fünf. Aber das ist doch egal. Jetzt haben wir sicher ein paar tausend Eier.“

„Nein, es ist nicht egal. Fünf ist von nun an für uns eine magischen Zahl.“ Bei diesen Worten winkte der Vater seine Kinder herbei und erzählte ihnen, was er erlebt hatte.

Von diesem Tag an hatte die Not ein Ende. Allerdings musste jedes Familienmitglied genau aufpassen, wie viele Stück es von einer Sache hatte. Wenn die Buben Steine sammelten, zählten sie genau mit. Und wenn sie vier hatten, dann hoben sie als nächstes zwei Steine gleichzeitig auf, damit es sechs waren. Die Mädchen hingegen alberten herum und malten sich aus, wie es einmal sein würde, wenn eine von ihnen fünf Verehrer hätte.

In einem besonderen Gefäß bewahrte der Vater sechs kleine Kupfermünzen auf. Und nur, wenn er sich überhaupt nicht anders zu helfen wusste, gab er eine von ihnen aus. So hatte die Not in der kleinen Hütte am Rande des dichten Waldes für alle Zeit ihr Ende.

 
Quelle: Sissi Schrei

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