Geschafft! Endlich hat das mühselige Klettern ein Ende! Nun ist der Pfad kein steiniger Berg mehr, sondern eine glatte Wiese. Glorry muss nicht mehr die Kutte raffen, um nicht auf ihren Saum zu treten, er muss nicht mehr um seine Sandalen fürchten und sein Knotenstock ist ihm wieder mehr Zierde als Stütze. Sein dichtes, weißes, welliges Haar zaust ein lauer Wind, sein noch immer klarer, fast jungenhaft wirkender Blick schweift weit über das Tal in die Ebene hinaus. Wohlgefällig ruht sein Blick auf dem sauberen Dorf, das satt und behäbig zwischen den reichen Gärten und gut bestellten Feldern in der Mittagssonne liegt. Alle Dächer sind heil, niemand haust in schäbiger Kate. Glorry sieht einige Dörfler, die wohlgenährt und zweckmäßig gekleidet ihren unterschiedlichen Verrichtungen nachgehen. Auf den Feldern wogt der schwere gelbe Weizen, Kartoffeln und Rüben stehen gut. Es wird eine reiche Ernte geben.
Aber das alles kümmert Glorry nicht. Er ist nicht wegen der schönen Aussicht hier oben. Er ist auf der Suche nach einem gleichgesinnten Wesen, bei dem er die letzten Jahre seines Lebens in Ruhe und Geborgenheit verbringen könnte, ein Wesen, an das er die letzten Zärtlichkeiten seines Leibes verschwenden könnte. Er war gewillt, bis ans Ende der Welt zu gehen, auch wenn er dort nur ein Hutzelweiblein treffen sollte, er war ja schließlich auch kein Jüngling mehr. Seufzend hebt er den Blick zum Gipfel des Berges. Der scheint zum Greifen nah! Glorry stapft weiter bergauf. Er spürt mehr, als dass er es sieht, wie der Berg einen Spalt an seiner Seite öffnet, so als wolle er nur mal kurz einatmen. Glorry lächelt ungläubig bei dem Gedanken, dass seine letzte Wirkungsstätte im Innern eines Berges liegen könnte, doch er fühlt sich von der Öffnung magisch angezogen. Er hat lange genug für sein Volk gearbeitet, er kann sich eine kleine Torheit leisten. Und niemand wird ihn vermissen. Sei s drum!
Heiter dringt Glorry in die Höhle ein. Dass sie sich nach seinem Eintreten schließt, empfindet er als zum Spiel gehörend. Riesige Irrlichter – so groß wie Teetassen – erleuchten den Weg, der in sanften Windungen tiefer und tiefer in den Berg hineinführt. Glorry schreitet rüstig voran und kommt bald an eine Nische, die mit mannigfaltigen Schmuckstücken reich übersät ist. Edle Metalle, Perlen, Edelsteine und Halbedelsteine aller Art und Größe, roh oder bearbeitet, schimmern und funkeln und schmeicheln den Sinnen. Im huschenden Zickzack der Irrlichter werfen die geschliffenen Edelsteine ihre vielfarbigen Blitze in alle Richtungen. Auf kleinen Hügeln erlesener Perlen funkeln goldene und silberne Ketten, Broschen, Kronen und Diademe, dass ein Menschenauge fast erblinden könnte von all der Pracht. Glorry bleibt stehen und bewundert den Schatz offenen Mundes.
Er streckt die Hände nicht nach dem Feenschatz aus – was einem nicht gehört, das berührt man auch nicht. Will er ein Schmuckstück genauer betrachten, so tritt er etwas näher. Und was sollte er wohl mit dem Geschmeide? Niemand würde ihm das Feengold abkaufen. Und das geliebte Wesen, zu dem er unterwegs ist, hätte gewiss keine Freude an etwas Gestohlenem. Glorry würde sich auch schämen, es ihm anzubieten.
Endlich hat Glorry sich satt gesehen an dem unermesslichen Reichtum und geht weiter. Das Geräusch schwer fallender einzelner Wassertropfen verrät ihm, dass er sich einem Wasserbecken nähert. Hinter der nächsten Wegbiegung weitet sich die Höhle zu einem unterirdischen Saale aus, in dessen Mitte ein klarer See schimmert. Ab und zu fällt ein Wassertropfen von der Decke herunter und erzeugt konzentrische Kreise auf der Seeoberfläche. Glorry tritt näher und sieht sein bartloses Gesicht im Wasserspiegel. Er erinnert sich lächelnd an jenen Tag, da ihm das erste Barthaar wuchs. Er hatte es mitsamt Wurzel ausgerissen und verfuhr so mit jedem weiteren Barthaar, genau, wie es die nordamerikanischen Indianer einst taten. Zeitaufwendige Rasur kannte er nicht.
Glorry kann tief in den See hineinsehen, das Wasser ist kristallklar. Er sieht allerlei buntschillernde Fische, die sich im Wasser tummeln und einen sehr gesunden Eindruck machen. Vielleicht sind sie sogar nahrhaft? Aber wer tötet etwas, das so wunderschön anzusehen ist?
Nun sieht er auch gelb-rot gefleckte Salamander und flinke, dunkle Schlangen. „Auch euch tu ich nichts!“, denkt Glorry und schreitet zur gegenüberliegenden Grottenöffnung. Er lässt geruhsam den See mit seinem klingenden Geräusch der fallenden Wassertropfen hinter sich und hört in der Ferne voraus eine allmählich lauter werdende beschwingte Musik. Nach einigen Wegkrümmungen hat er eine lichtüberflutete Höhle vor sich, wo auf einer großen Blumenwiese etliche Elfen einen anmutigen Reigen tanzen. Sie sind von unterschiedlicher Größe und auch unterschiedlichen Alters, doch alle sind schlank und rank, haben hübsche, anziehende Gesichter. Alle haben langes, reiches Haar unterschiedlichster Färbung – die ganze Palette des Regenbogens wurde ausgeschöpft. Alle sind in knöchellange hauchzarte Gewänder gehüllt, die in milden Pastelltönen – kontrastierend zu den Blüten und Blumenkränzen in ihren Haaren – gefallen. Die Elfen wirken fast wie Glockenblumen mit ihren weit schwingenden Gewändern.
Glorry schaut dem Elfenreigen zu, lauscht dem lieblichen Gesang, der einige Takte der Musik begleitet und geht weiter auf dem Weg, ohne die Elfen zu stören und ohne von ihnen beachtet zu werden. Sie lächeln, tanzen und singen weiter und sind davon ganz erfüllt. Nach einem kurzen Gang durch eine düstere Grotte, die scheinbar nur durch das Funkeln ihrer Stalaktiten und Stalagmiten erhellt wird, kommt er wieder ans Tageslicht, wo ihn munteres Vogelzwitschern begrüßt. Wie hatte er im Berge das Sonnenlicht, die Vögel und die frische Luft vermisst!
Glorry spaziert durch den Wald und sieht: Hier gibt es essbare Pilze und Beeren. Die satten Farne und bunten Waldblumen auf dem bruchholzfreien Waldboden daneben konnten es durchaus mit Edelsteinen aufnehmen. Glorry wusste, dass die Dorfjugend den Wald sauber hält, damit er gesund bleibt und sie alle Jahre wieder reichlich Beeren, Pilze, Brennholz und auch Wildbret haben können – die Maie und den Weihnachtsbaum nicht zu vergessen.
Er erblickt hoch in einem Wipfel das Nest eines Raubvogels und schmunzelt: Für dich da oben gibt es auch genug zu fressen! Hilf den Dorfkatzen, die Mäuse zu fangen!
Dann wendet er sich zum Berge um und betrachtet ihn im Geiste: Auf der einen Seite steil, kahl und steinig und auf der anderen mit einem herrlichen Wald bestanden – ja, so ungleich ist so manches auf der Welt. Was wollte ich nur auf diesem Berg? Ach ja, ich wollte zum Ende der Welt. Wie lächerlich! Jedenfalls genug erlebt, um ein hübsches Märchen zu erzählen . . .
Unbewusst schreitet er schneller aus in Richtung Dorf. Er hat keine eigenen Enkel, aber es sind gewiss genug Kinder da, die sich über ein gut erzähltes Märchen freuen können!
Quelle: flammarion