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Goldene Hände

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Vor langer, langer Zeit lebte in den Steppen ein greiser Viehhalter. Er hatte eine wunderschöne Tochter. Wenn sie in die Steppe hinausging, verblaßten die Sterne am Himmel, und die Bäche verstummten, weil ihre Augen schöner waren als die Sterne und ihre wohltönende Stimme klangvoller war als das Rauschen der Bäche. Das Mädchen hieß Meftuk. Der Vater liebte und behütete seine Meftuk und erfüllte ihr jeden Wunsch.

,,Wen möchtest du heiraten, meine schöne Tochter?“ fragte er eines Tages. ,,Vater, ich werde nur den Menschen heiraten, der der reichste und gleichzeitig der ärmste auf der Welt ist“, sagte Meftuk. Der Alte dachte nach und schüttelte sein Haupt.

,,Da hast du mir eine hinterlistige Aufgabe gestellt. Wo soll ich dir einen solchen Bräutigam suchen?“

,,Du brauchst nicht zu suchen“, antwortete das Mädchen. ,,Du brauchst nur einen Aufruf zu erlassen, und dann kommen die Freier schon von selbst.“
Da gab der Vater bekannt, daß er seine Tochter, die schöne Meftuk, demjenigen zur Frau gäbe, der der reichste und gleichzeitig der ärmste Mensch auf der Welt sei.
Und er bestimmte den Tag, an dem alle Freier erscheinen sollten.
Der Tag brach an. Schon seit dem frühen Morgen drängten sich die Freundinnen um die Braut, kleideten und schmückten sie. Die eine flocht ihre schwarzen Zöpfe und band Perlen hinein, die zweite legte ihr Brokatgewand zurecht, und die dritte suchte die Ringe aus, die Meftuks schmale Finger zieren sollten.
Und alle Freundinnen schwatzten über die Freier, die sich auf dem Hof versammelten.
,,Einer hat Kamele mitgebracht“, erzählte eine, ,,und alle sind mit wertvollen Stoffballen beladen.“
,,Ein anderer hat tausend Krieger mit wundervollen Waffen hierhergeführt“, sagte eine andere.
,,Einige tragen Kästen mit Diamanten, Perlen und Smaragden“, ging es von einem Mund zum anderen. ,,Ihre Reichtümer sind sicher nicht mit Geld aufzuwiegen.“
,,Bist du fertig, meine Tochter?“ fragte der Alte, als er auf ihrer Schwelle erschien. ,,Die Freier haben sich versammelt und erwarten dich.“
,,Ja Vater, ich bin fertig“, antwortete das Mädchen und trat, vor Schönheit und Schmuck strahlend wie die Sonne, zu den Freiem hinaus.
Alle verneigten sich tief vor der schönen Meftuk und ihrem Vater.
,,Meine Tochter möchte den zum Mann nehmen, der der ärmste und gleichzeitig der reichste Mensch auf der Welt ist. Erzählt uns von euch!“ sagte der reiche Viehhalter und nahm mit seiner Tochter auf einer Bank Platz.
Da traten einige reich gekleidete Männer hervor. Hinter ihnen führten Diener mit Waren beladene Kamele heran und trugen kostbare Gewebe und Geschirr.
,,Wir lieben dich, schönes Mädchen, und wollen um dich freien“, sprachen sie und verneigten sich noch einmal. ,,Wähle den von uns, nach dem dein Herz steht.“
,,Seid ihr alle sehr reich?“ fragte Meftuk.
,,Ja, schönes Mädchen, wir sind reich.“
,,Und weshalb glaubt ihr, daß ihr gleichzeitig die ärmsten Männer auf der
Welt seid?“
,,Weil wir den köstlichsten Schatz auf dieser Erde nicht besitzen — deine
Hand und dein Herz“, antworteten die Jünglinge.
Meftuk begann zu lachen.
,,Nein, das ist es nicht, was ich suche. Ich nehme keinen von euch zum
Mann!“
Nun traten einige ruhmreiche Krieger hervor, und hinter ihnen drängte
sich ihr Heer. ,,Wir sind nicht so reich, Meftuk“, sagten sie, ,,aber mit
Hilfe unserer Soldaten können wir die reichsten Menschen auf der Welt
werden, wenn wir ausziehen, um fremde Länder zu erobern.“
,,Und was könnt ihr selbst tun, ohne eure Soldaten?“ fragte Meftuk.
,,Ohne unsere Soldaten können wir nichts“, antworteten die Krieger.
,,Das bedeutet, daß ihr nicht als Freier taugt“, sagte das Mädchen.
Und nun traten die Freier vor sie hin, die Kästen mit Kostbarkeiten in
ihren Händen hielten.
,,Schau her, Meftuk“, sagten sie, ,,in diesen Kästen befinden sich unzählbare Schätze. Aber wir geben sie dir und werden damit die letzten und ärmsten auf der Welt.“
Das bedeutet, daß ihr reich wart und dann arm seid aber keinesfalls beides gleichzeitig“, sagte Meftuk. ,,Nein, ich brauche eure Kostbarkeiten nicht! Auch ihr seid nicht die Freier, die ich erwartet habe.“ Da trat ein schöner Jüngling in einem groben Kleid eines Armen hervor. Er verneigte sich tief vor der schönen Meftuk.
,,Wie denn, auch du willst meiner Tochter deine Hand anbieten?“ fragte ihn der Vater höhnisch.,, Daß du arm bist, sehen wir. Aber wo ist dein Reichtum?“
,,Meinen Reichtum trage ich immer bei mir“, antwortete der Jüngling fröhlich und zog eine Nadel, einen Hammer und einen Kochlöffel aus der Tasche.
,,Ich bin ein guter Schneider und kann ein Kleid nähen, das sehr viel bes-ser ist als jenes, das du jetzt trägst. Ich bin ein guter Schmied und kann in einer Stunde alle Pferde deiner Herden beschlagen. Ich bin auch Koch und kann ein Mittag zubereiten, wie es noch kein Herrscher in der Welt gegessen hat. Ohne Kamele, ohne Waren und ohne Krieger kann ich so viel verdienen, daß ich reicher bin als jeder dieser Freier; denn mein Reichtum liegt in meinen Händen und in meiner Handfertigkeit.“
„Das ist der richtige Freier!“ rief Meftuk aus. ,,Er hat goldene Hände.“ Und so nahm sie einen Handwerker zum Mann.

Quelle:
(Baschkirisches Märchen)

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