Ein Junge und ein Mädchen gehen durch den Wald. Sie haben den Blick suchend auf den Boden gerichtet. Schließlich bleibt das Mädchen stehen und stöhnt: „Jetzt suchen wir schon seit Stunden, aber all unsere Wegmarkierungen sind verschwunden. Ich bin müde und hungrig!”
Der Junge antwortet: „Ich weiß auch nicht, was wir machen können! Wir finden nie mehr nach Hause zurück. Und schrecklichen Hunger habe ich auch!”
Plötzlich fasst er das Mädchen am Arm, zeigt zu einer kleinen Waldlichtung und ruft: „Sieh mal, da drüben! Ein Haus! Komm, lass uns hingehen! Dort können wir nach dem Weg fragen und sicher auch zu Hause anrufen. Vielleicht bekommen wir auch etwas zu essen!”
Das Mädchen seufzt erleichtert: „Ach, ein Glück! Komm, lass uns schnell hingehen!”
Als die beiden Kinder aber näher kommen, bemerkt der Junge: „Ein komisches Haus ist das! Sieht so aus als sei es aus Lebkuchen!”
Das Mädchen lacht und stößt ihn in die Rippen.
„Ach was, das denkst du nur, weil du so hungrig bist! Ich hätte lieber ein Haus aus Pommes Frites oder Pizza!”
Während die beiden auf das Haus zugehen, sehen sie plötzlich ein Mädchen mit einer roten Baseballkappe zwischen den Bäumen. Da hat das rotbemützte Kind sie auch schon entdeckt und kommt auf sie zugelaufen.
„Hallo ihr beiden! Was macht ihr denn hier?”
„Hallo! Wir haben uns verlaufen, aber eben haben wir da drüben ein Haus entdeckt und wollen hingehen und um Hilfe bitten. Wohnst du da?”
Das Mädchen schüttelt den Kopf. „Nein, zum Glück nicht! Da wohnt eine ganz unheimliche Frau, über die man sich viele Geschichten erzählt! Um das Haus mache ich lieber einen Bogen! Das solltet ihr auch besser tun.”
Die beiden Kinder werden neugierig und fragen: „Was für Geschichten sind denn das?”
„Ach, genau weiß ich das auch nicht. Sie haust dort ganz allein. Und dauernd backt sie Kuchen, aber es geht nie jemand zu Besuch hin. Was macht sie also mit all dem Kuchen? Niemand weiß es! Wie heißt ihr übrigens?”
„Ich heiße Greta, und das ist mein Bruder Hannes. Und wer bist du?“
„Hmmm, na ja, eigentlich heiße ich … ach, ist ein blöder Name. Ein Fehler meiner Eltern! Jedenfalls nennt mich jeder Rotkäppchen- warum, werdet ihr ja wohl sehen”, antwortet Rotkäppchen.
Greta und Hannes starren das Mädchen verblüfft an. „Rot – käpp – chen!?! Wie im Märchen?”, fragt Greta.
„Was denn für ein Märchen? Das kenne ich nicht”, antwortet Rotkäppchen.
Hannes erklärt: „Das Rotkäppchen im Märchen hatte auch eine rote Mütze auf, genau wie du. Es sollte zu seiner kranken Oma gehen und ihr Kuchen und Wein bringen …”
Bei diesen Worten stellt Rotkäppchen seinen Korb ab, packt Kuchen und Wein aus und hält sie hoch.
„… aber es ist vom Weg abgegangen, um Blumen für die Oma zu pflücken …”
Rotkäppchen hält wortlos den Blumenstrauß hoch.
„Da kam ein Wolf, um das Mädchen auszuhorchen über die Adresse der Oma. Der Wolf ist dann vorgelaufen und hat zuerst die Oma und später dann auch noch Rotkäppchen gefressen.”
Rotkäppchen macht ein entsetztes Gesicht. „Aber das ist ja furchtbar! Ich bin tatsächlich auf dem Weg zu meiner kranken Oma. Bisher ist alles so wie in eurem Märchen! Nur der Wolf fehlt noch. Das kann ja heiter werden! Im Bauch eines Wolfes will ich nicht enden, und meine Oma frisst auch keiner, das lasse ich nicht zu!”
Hannes tröstet sie: „Keine Sorge, wir bleiben erst mal bei dir und vielleicht fällt uns etwas ein, um den Wolf zu überlisten. Wir können dich ja bis zu deiner Oma begleiten. Sicher finden wir von dort aus unseren Heimweg! Aber trotzdem brauchen wir erst mal was zu essen, sonst machen wir bald schlapp. Dort drüben an dem Haus habe ich Lebkuchen gesehen. Vielleicht können wir ja ganz schnell einen stibitzen, bevor die alte Frau was merkt!”
Jetzt ist es an Rotkäppchen, erstaunt zu gucken. „He, wartet mal! Greta? Hannes? Lebkuchen? Das erinnert mich doch an das Märchen von Hänsel und Gretel!”
„Hänsel und Gretel? So nennen uns unsere Eltern immer”, sagt Greta.
„Aber das Märchen kennen wir nicht”, setzt Hannes hinzu, „erzähl doch mal!”
Rotkäppchen beginnt: „Hänsel und Gretel hatten sich im Wald verlaufen, genau wie ihr. Da kamen sie an ein Lebkuchenhaus und haben, gerade so, wie Hannes es eben vorgeschlagen hat, von dem Kuchen gegessen. Sie waren aber nicht schnell genug und die alte Frau – es war eine Hexe – hat sie ins Haus gelockt, weil sie Hänsel erst mästen und dann braten und essen wollte. Die beiden waren die Gefangenen der Hexe!”
„Schrecklich”, jammert Greta, „das möchte ich lieber nicht erleben. Aber hungrig sind wir trotzdem!”
Rotkäppchen grinst. „Ach, wisst ihr was, meine Mutter hat mal wieder übertrieben, wie immer. Sie hat meiner Oma so viel Kuchen gebacken, das kann so eine alte Frau ja alleine gar nicht essen! Wird am Ende nur schimmelig! Ich gebe euch einfach etwas davon ab, das merkt keiner!”
Dankbar nehmen Hannes und Greta den angebotenen Kuchen.
Nach dem letzten Bissen sagt Hannes: „So, jetzt geht es mir besser. Nun lasst uns mal nachdenken, was wir machen, wenn der Wolf kommt.”
„Ich hab eine Idee”, ruft Greta, „warum erzählst du dem Wolf nicht einfach, dass deine Oma in dem Lebkuchenhaus da wohnt?”
Rotkäppchen ist von dem Vorschlag begeistert. „Wow, super Idee! Das mache ich. Spitze! Versteckt euch dort im Gebüsch! Denn der Wolf kommt sicher nicht, wenn er uns hier zu dritt sieht.”
„Ja”, meint Hannes, „und dann können wir dir notfalls helfen, wenn nicht alles nach Plan verläuft.”
Kaum sind die beiden Kinder hinter einem Busch verschwunden, da erscheint auch schon der Wolf. Er geht zu dem Blumen pflückenden Rotkäppchen und sagt mit einschmeichelnder Stimme: „Guten Tag, mein Kind! Was machst du denn so alleine hier im Wald? Solltest du nicht in der Schule sein?”
„Nein”, antwortet Rotkäppchen, „es sind doch Ferien! Außerdem bin ich gar nicht all- äh, ich meine, ich bin auf dem Weg zu meiner Großmutter! Sie ist krank, und ich soll ihr Kuchen und Wein bringen, damit sie bald wieder gesund wird. Aber vorher pflücke ich noch schnell ein paar Blumen, das freut sie sicher!”
„Ja, ja, ganz gewiss”, stimmt der Wolf zu, „pflück nur einen recht großen Strauß! Hast du es denn noch weit bis zu deiner Großmutter?”
„Nein, überhaupt nicht”, antwortet Rotkäppchen, „sie wohnt da drüben in dem Pfefferkuchenhaus! Man kann es ja von hier aus sehen!”
„Ah, interessant”, lacht der Wolf, „in-ter-es-sant! Also, ich muss jetzt los, zu deiner Gr- äh, ich meine, zu meiner Arbeit. Sieh mal, da hinten, da wachsen ganz viele Blumen! Dort solltest du pflücken!”
„Gute Idee, das mache ich! Viel Vergnügen bei der Hex- äh, bei der Arbeit!”
Während er Wolf auf das Lebkuchenhaus zugeht, macht Rotkäppchen ein paar Schritte in Richtung Blumenwiese, dreht dann um und rennt zu dem Gebüsch, hinter dem Greta und Hannes hocken. Als die beiden aus ihrem Versteck herauskommen, ist der Wolf schon im Haus verschwunden.
„Schnell, lasst uns wegrennen, ehe der Wolf etwas merkt”, drängt Greta.
Aber die Kinder können nur ein, zwei Schritte machen, als aus dem Haus ein lautes Knallen, Zischen und Heulen ertönt und Rauch aufsteigt. Die drei bleiben erstarrt stehen.
Hannes stammelt: „Jetzt hat der Wolf die Hexe gefressen!”
„Nein”, meint Greta, „die beiden kämpfen miteinander!”
„Oder die Hexe hat den Wolf verhext”, flüstert Rotkäppchen.
Da öffnet sich die Tür des Hexenhauses und heraus treten eine junge Frau und ein junger Mann. Der Mann sieht sich suchend um, zeigt dann auf die Kinder und ruft: „Da, das Mädchen mit der roten Mütze hat mich hergeschickt! Bei ihm müssen wir uns bedanken!”
Die beiden gehen auf die verblüfften Kinder zu. Der Mann sagt zu Rotkäppchen: „Ich bin der Wolf, den du vor fünf Minuten in das Pfefferkuchenhaus geschickt hast. Und das hier ist die alte Hexe, die dort wohnte. Wir waren verzaubert und verdanken es dir, dass wir wieder unsere normale Gestalt annehmen konnten. Allerdings hast du ja etwas geschwindelt- sie ist gar nicht deine Großmutter!”
„Nee, stimmt”, gibt Rotkäppchen grinsend zu, „ich wollte nicht, dass du meine Großmutter auffrisst! Das hättest du nämlich getan, wenn das stimmt, was Hänsel und Gretel mir erzählt haben! Ich bin übrigens Rotkäppchen!”
Die junge Frau sagt: „Hänsel und Gretel! Ja, ich kenne euch! Ich war als Hexe dazu verdammt, euch zu fangen und Hänsel zu mästen!”
„Und ich sollte erst die Großmutter und dann Rotkäppchen fressen! So steht es im Märchen”, fügt der junge Mann hinzu.
Die Frau erklärt: „Wir waren beide verzaubert von einem bösen Zauberer. Er hat uns in sein Schloss gelockt und uns gut bezahlte Arbeit versprochen. Von wegen Arbeit! Er hat uns als Versuchskaninchen für seine Zaubereien benutzt. Als was er uns nicht alles verzaubert hat! Furchtbar! Aber am Abend eines jeden Tages hat er uns immer unsere normale Gestalt zurückgegeben. Nur an jenem verhängnisvollen Tag ging das nicht …” Der entzauberte Wolf fährt fort: „…weil da nämlich so ein Kater mit Stiefeln ins Schloss kam und den Zauberer dazu gebracht hat, sich in eine Maus zu verwandeln. Der Zauberer war dumm genug, das zu tun, und kaum war er eine Maus …”
„ …da hat der Kater ihn verschlungen”, fällt Greta ihm ins Wort.
Erstaunt sagt die Frau: „Ja! Genau! Woher wißt du das?”
Hannes erklärt: „Das ist doch das Märchen vom „Gestiefelten Kater“! Das kennt doch jeder!”
„Und wieso ist der Zauber nun plötzlich beendet”, will Rotkäppchen wissen,
„und was habe ich damit zu tun?”
„Nun, der Zauberer hat vorsichtigerweise immer bei seinen Verzauberungen eine Entzauberungsklausel mit eingebaut. Er war nämlich etwas vegesslich und hat manchmal den richtigen Spruch für die Entzauberung nicht mehr gewusst. Dann musste ich ganz einfach Sarah einen Kuss geben und der Spuk war vorbei!”
„Normalerweise war das ja kein Problem, da Robin und ich meist gemeinsam verzaubert wurden”, fügt Sarah hinzu, „aber ausgerechnet an diesem Tag wussten wir voneinander nicht, in was der Zauberer uns verwandelt hatte. Außerdem hatte er uns beide einzeln mit einem Auftrag aus dem Schloss geschickt. So mussten wir versuchen, einander zu finden und zu erkennen. Gar nicht so einfach!”
Robin übernimmt den Rest der Erklärung: „Und als nun du, Rotkäppchen, mich ins Knusperhaus geschickt hast, wollte ich die alte Hexe ja eigentlich fressen, aber als ich sie mit der Schnauze berührt habe, muss das wohl wie ein Kuss gewirkt haben! Wir sind dir jedenfalls sehr dankbar!”
„Eigentlich war das ja der Plan von Hänsel und Gretel, dich zu der Hexe statt zu meiner Oma zu schicken”, stellt Rotkäppchen richtig.
„ Na, dann bedanken wir uns bei euch allen. Wie wäre es, wenn wir alle zusammen den Kuchen, den Wein und die Blumen zu deiner Oma brächten? Und vorher bekommt jeder noch ein Stück Lebkuchen von meinem Knusperhaus! Nun könnt ihr es ohne Gefahr plündern”, verspricht Sarah.
„Und bei unserer Hochzeit seid ihr natürlich unsere Ehrengäste“, fügt Robin hinzu.
Quelle: Eva Zimmermann