Es war einmal eine Frau, die bekam nie Kinder von ihrem Manne. Eines Tags ging Helios in der Gestalt eines Mönchs an ihrem Hause vorüber und sprach zu ihr: ‚Willst du, dass ich dir zu Kindern verhelfe?‘ – ‚Ja‘, antwortete die Frau. Da gab ihr der Mönch einen Apfel und sagte zu ihr, den möge sie essen, da werde sie ein Kind gebären. Er machte ihr aber zur Bedingung, dass sie das Kind mit ihm theile, also dass es in der einen Hälfte jedes Jahres ihr, in der andren aber ihm gehöre; wolle sie es aber nicht hergeben, so müsse sie ihm dafür jedesmal einen Kuchen backen. Die Frau ging auf diese Bedingung ein. Sie ass also den Apfel, und schon nach wenigen Tagen fühlte sie sich schwanger; sie gebar darauf ein Töchterchen und nannte es Maroula, und das wuchs zu einem sehr schönen Mädchen heran. Eines Tages nun, als es aus der Schule nach Hause ging, begegnete es dem Mönche, und der trug ihm auf seiner Mutter zu sagen, er wolle ihre Tochter oder den Kuchen. Maroula richtete das ihrer Mutter aus, die aber antwortete darauf nichts. Hierüber erzürnt raubte Helios eines Tags Maroula und brachte sie in seine Wohnung hinter den Bergen. Die Mutter wartete auf ihr Kind. Da es sich aber nirgends sehen liess, so ahnte sie, dass der Mönch es würde geraubt haben; da legte sie Trauerkleider an, schloss sich in ihr Haus ein und wollte niemanden sehen noch hören. Helios lebte nun mit dem Mädchen in seiner Wohnung. Aber jeden Morgen stand er frühzeitig auf und ging fort, um seinen Lauf zu vollenden, und Maroula blieb allein. So lebten sie lange lange zusammen. Eines Abends hörte Helios jemanden weinen, er stand also auf, um nachzusehen, wer das sei, da fand er das Mädchen im Garten und hörte es unter Thränen sagen:
‚Wie im Wind der Lattich zittert,
Zittert meiner Mutter Herzchen
Für die Arme, die Maroula.‘
Da sagte er am andern Morgen zu Maroula: ‚Wünschest du zurückzukehren zu deiner Mutter?‘ – ‚O ja,‘ antwortete sie weinend, ‚dass ich das doch erlebte!‘ Da rief Helios am folgenden Tage mit gewaltiger Stimme einem Hirsche zu: ‚Hirschlein, Hirschlein, willst du Maroula zu ihrer Mutter bringen?‘ – ‚Ja,‘ sprach der Hirsch. ‚Aber was willst du unterwegs fressen?‘ fragte Helios weiter. ‚Ich werde von ihrem Fleische fressen und von ihrem Blute trinken.‘ – ‚Fort,‘ sprach Helios, ‚du taugst nicht für mich.‘ Nun rief er einem andern Hirsche zu: ‚Hirschlein, Hirschlein, willst du Maroula zu ihrer Mutter bringen?‘ – ‚Ja, ich bringe sie hin.‘ – ‚Aber was willst du unterwegs fressen?‘ – ‚Ich werde Gräschen fressen und werde Quellchen trinken.‘ – ‚Gut, bringe sie hin,‘ sprach Helios. Da nahm der Hirsch das Mädchen auf seinen Rücken und brachte es zu seiner Mutter zurück. Als sie deren Wohnung nahe kamen, da fingen plötzlich alle Thiere des Hauses an zu rufen: ‚Maroula kommt, Maroula kommt.‘ Die Mutter aber rief den Thieren zu: ‚Schweigt, ihr Thörichten, schweigt, und beunruhigt mich nicht!‘ Allein die Thiere schrieen noch lauter: ‚Maroula ist gekommen, sie ist gekommen.‘ Die Mutter rief wieder: ‚Schweigt, ihr Thörichten, schweigt!‘ Aber auf einmal öffnete sich die Thür, und Maroula trat ein. Auch Helios kam, wieder in Mönchsgestalt, herein, gab sich jetzt der Mutter zu erkennen und sagte ihr, dass er ihr Kind nur deshalb geraubt habe, um ihr mehr Sorgfalt für ihre Familie beizubringen.
[Griechenland: Bernhard Schmidt: Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder – Ebendaher]