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Märchenbasar

Hildur, die Königin der Elbe

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Es war einmal ein Bauer, der auf einem Hof oben zwischen den Bergen lebte. Eine Frau hatte er nicht, aber eine Haushälterin, die Hildur hieß. Von ihrer Familie aber wußte man nichts. Sie war eine fleißige Frau, kümmerte sich um den Hausstand, wie es nicht besser sein konnte, und sie war auch immer zu allen freundlich. Und deshalb hatten die Leute auf dem Hof sie sehr gern. Und der Bauer mochte sie. Die Wirtschaft des Bauern war sehr gut, und er konnte damit zufrieden sein, wenn die Sache nicht mit den Hirten gewesen wäre. Er hatte es nämlich schwer, für einen Schafhirten, wenn der gestorben war, immer einen Nachfolger zu bekommen. Da er aber ein wohlhabender Schafbauer war und seine Herde überaus groß, konnte er auf einen Hirten nicht verzichten. Doch die Schwierigkeiten, die der Bauer mit seinen Hirten hatte, waren sehr merkwürdig; denn hatte er wieder einmal einen neuen in seinen Dienst einstellen können, lag der am Morgen nach der Weihnachtsnacht tot in seinem Bett. In jenen Zeiten war es im ganzen Land Sitte, am Heiligabend Gottesdienst abzuhalten. Und es wurde für ebenso feierlich gehalten, sich dann zur Kirche zu begeben wie am ersten Feiertag selbst. Aber auf den Gebirgshöfen, die weit von der Kirche entfernt lagen, war es für die, welche noch mit ihrer Arbeit beschäftigt waren und deshalb den Hof noch nicht verlassen konnten, bis der Stern zwischen Morgen und Mittag stand, recht beschwerlich, zum Gottesdienst zu kommen. Und es war üblich, daß die Hirten bei diesen Bauern nicht früher nach Hause kamen. Wohl brauchten sie nicht den Hof zu hüten, wie es üblich war, daß es der eine oder andere in der Weihnachts- und Silvesternacht tat, während die übrigen Leute in der Kirche waren. Denn seit Hildur zu dem Bauern gekommen war, hatte sie sich stets von selbst dazu erboten, und in der Zeit besorgte sie alles das im Hause, was zum Fest gemacht werden mußte: Essen kochen und anderes, was nötig war, und sie war bis spät in die Nacht noch wach, so daß die, die in der Kirche gewesen waren, oft schon lange schliefen, ehe sie sich selbst zu Bett legte. Als es eine Reihe von Jahren so gegangen war, daß die Hirten des Bauern immer plötzlich in der Heiligen Nacht starben, fing man an, in den Ortschaften darüber zu sprechen. Und es fiel deshalb dem Bauern sehr schwer, jemand für diese Arbeit zu bekommen. Und je mehr starben, desto schwerer wurde es. Und der Bauer nahm sich das auch sehr zu Herzen und wußte gar nicht, was er machen sollte. Eine Schuld konnte ihn nicht treffen, auch nicht seine Leute; denn eine Wunde oder irgendeine besondere Verletzung, war an den Leichen nicht zu entdecken. Schließlich sagte der Bauer, daß er es nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren könne, Hirten zu dingen, die den sicheren Tod zu erwarten hätten, und nun das Schicksal darüber zu bestimmen hätte, was mit seinem Vieh und seinem Hab und Gut werden würde. Als der Bauer diesen Entschluß gefaßt hatte und keinen mehr in seinen Dienst nehmen wollte, kam einmal ein munterer und kräftiger Mann zu ihm und bot ihm seinem Dienst an. Der Bauer sagte: „So nötig habe ich deinen Dienst nicht, daß ich dich nehmen müßte.“ Der Fremde fragte: „Hast du einen Hirten für den nächsten Winter gedungen?“ – „Nein“, war des Bauern Antwort. Und er erklärte ihm, daß er sich für die kommende Zeit entschieden habe, niemand zu dingen. „Und du hast wohl gehört“, fuhr er fort, „wie schrecklich es bisher meinen Hirten ergangen ist.“ – „Gehört habe ich davon“, sagte der Fremde, „aber ihr Schicksal soll mir keine Furcht einjagen.“ Da gab der Bauer nach, weil er dem eindringlichen Wunsch des Fremden nicht widerstehen konnte. Und er nahm ihn als Schafhirten in seinen Dienste. So verging nun die Zeit. Und der Bauer und der Hirt waren sehr zufrieden miteinander, und den Hirten hatte jeder gern; denn er war ein freundlicher, munterer und tüchtiger Mann. Bis zum Heiligabend geschah nichts Besonderes. Am Heiligabend zog der Bauer mit seinen Leuten zur Kirche, seine Haushälterin blieb auf dem Hof zurück und der Hirte bei seinen Schafen. Es ging auf den Abend zu, ehe der Hirt wie gewöhnlich nach Hause kam. Er aß seine Grütze und legte sich dann hin. Da dachte er bei sich, es wäre wohl besser, wach zu bleiben als zu schlafen, falls tatsächlich etwas passieren sollte. Furcht hatte er nicht, blieb aber doch sicherheitshalber wach.

Spät in der Nacht kamen die Kirchengänger zurück. Sie bekamen noch etwas zu essen und gingen dann ins Bett. Bis jetzt war noch nichts geschehen, als aber der Hirt glaubte, daß alle schon schlafen gegangen waren, fühlte er sich auch sehr müde, was ihn nach den Anstrengungen des Tages nicht weiter wunderte, und er wollte auch einschlafen. Doch im letzten Augenblick wurde ihm klar, daß das gefährlich werden könnte, und er zwang sich darum, weiter wach zu bleiben. Es dauerte auch gar nicht lange, da hörte er, wie jemand an sein Bett trat. Und er meinte, daß das die Haushälterin Hildur war, die hier ihr Unwesen trieb. Er stellte sich schlafend und spürte, daß sie ihm etwas in den Mund steckte. Er fühlte, daß das ein Zaum für den Hexenritt war und ließ sich ruhig aufzäumen. Als sie ihm das Zaumzeug angelegt hatte, befestigte sie die Zügel, wie es ihr am bequemsten war, setzte sich auf seinen Rücken und ritt in fliegender Fahrt fort, bis sie, wie es ihm schien, an einen Graben oder eine Spalte im Erdboden kam. Da sprang sie auf einen Stein, ließ die Zügel hängen und verschwand vor seinen Augen in dem Erdspalt. Dem Hirten kam es schlimm und rätselhaft vor, daß Hildur einfach so verschwand, ohne daß er wußte, wohin sie wollte und wo sie geblieben war. Er merkte aber auch, daß er in seinem Zustand nichts unternehmen konnte, weil ihm das Zaumzeug ja angelegt war, durch das sie ihn verzaubert hatte. Deshalb begann er sich an dem Stein, auf den sie gesprungen war, so lange den Kopf zu reiben, bis er sich das Zaumzeug abgescheuert hatte. Er ließ es nun einfach dort liegen und sprang in die Spalte, in der Hildur gerade verschwunden war. Ihm war so, als wäre er in der Spalte noch gar nicht so tief hineingekommen, als er auch schon wieder Hildur erblickte, die ihren Weg über schöne Wiesen nahm. Nach alledem, was er jetzt erlebt hatte, war ihm nun klar, daß es bei Hildur nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Und daß sie sicher allerlei geheimnisvolle Sachen verbarg, wenn sie sich oben so ehrbar unter den Menschen aufhielt. Da ihm bewußt war, daß sie ihn sehen könnte, wenn er jetzt hinter ihr herging, nahm er einen Stein aus einer Tasche, der ihn unsichtbar machte, und verbarg ihn mit der linken Hand. Dann lief er nur so schnell er konnte, hinter ihr her. Als er weiter auf der Wiese angekommen war, sah er eine große prächtige Halle. Und Hildur folgte dem Weg, der direkt dorthin führte. Nun sah er, wie ihr eine große Schar von Menschen aus der Halle entgegenkam. An ihrer Spitze ging ein Mann, der am prächtigsten von allen gekleidet war. Und es schien ihm, als begrüße er seine Frau und hieß sie willkommen. Die anderen aber, die in seinem Gefolge waren, begrüßten sie fröhlich als ihre Königin. Mit dem König kamen Hildur zwei halberwachsene Kinder entgegen, die voller Freude ihre Mutter begrüßten. Als sie alle der Königin ihre Huldigung dargebracht hatten, führten sie sie und den König in die Halle, wo ihr ein ehrenvoller Empfang bereitet wurde. Man kleidete sie in königliche Gewänder und streifte herrlich goldene Reifen auf die Arme. Der Hirte kam nun auch bald in die Halle, blieb jedoch dort, wo am wenigsten Leute waren, konnte aber trotzdem von seinem Platz aus alles genau beobachten. Soviel Glanz und Pracht, wie er hier in der Halle zu sehen bekam, hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Tische wurden herbeigeschafft und gedeckt, und er konnte nur über all die Herrlichkeit staunen. Eine Weile später sah er Hildur, aufs prächtigste gekleidet, in die Halle schreiten.
Nun wurde jedem sein Platz angewiesen. Königin Hildur erhielt den Ehrensitz neben dem König. Und zu beiden Seiten ließ sich dann das Gefolge nieder. Und jetzt begannen alle mit dem Essen. Danach wurden die Tische wieder abgedeckt, und die Männer und Frauen tanzten oder gingen anderen Vergnügungen nach. Der König und die Königin aber saßen da und redeten miteinander. Und ihr Gespräch, so schien es dem Hirten, war sowohl mit Freude wie mit Kummer vermischt. Während sie so miteinander redeten, kamen noch drei jüngere Kinder zu ihnen und umarmten freudig und voller Glück ihre Mutter. Königin Hildur küßte sie voller Liebe, nahm dann das jüngste Kind auf den Schoß und streichelte es. Aber das Kind war quengelig und wurde unruhig. Da setzte die Königin es ab, streifte sich einen Ring von ihrem Finger und gab ihn dem Kind zum Spielen. Da wurde das Kind auch ruhig, spielte eine Weile mit dem goldenen Ring, verlor ihn aber schließlich auf dem Fußboden. Der Hirt, der nicht weit von dem spielenden Kind stand, hatte das gesehen, konnte den Ring erwischen und ihn gut bei sich verstecken, ohne daß jemand das merkte. Aber es schien allen sehr merkwürdig, daß der Ring nirgends zu finden war. Als der größte Teil der Nacht vergangen war, machte sich Königin Hildur zum Fortgehen fertig. Aber alle, die da waren und sahen, daß sie nun fort wollte, baten sie, doch noch zu bleiben, und waren sehr traurig, als sie merkten, daß das nicht half.

Der Hirt aber hatte beobachtet, daß in einer Ecke in der Halle ein altes Weib saß, das furchtbar häßlich war. Sie war die einzige von allen, die sich weder über die Ankunft von Königin Hildur gefreut, noch sie gebeten hatte zu bleiben. Als der König sah, daß seine Frau sich jetzt zum Abschiednehmen entschlossen hatte, und noch so viele Bitten, zu bleiben, sie nicht umstimmen konnten, ging er zu der alten Frau und sagte: „Nimm nun deine Flüche zurück, Mutter, und erhöre meine Bitten, damit mir meine Königin nicht mehr fern zu sein braucht und meine Freude über unserer Zusammenkünfte von so kurzer Dauer ist.“ Da antwortete ihm die Alte voller Zorn: „Alle meine Flüche werden weiter bestehen, und nichts soll mich erweichen, sie zu widerrufen!“ Als das der König hörte, verließ er schweigend seine Mutter und ging tieftraurig zu seiner Frau, legte den Arm um sie, küßte sie und flehte sie noch einmal an, bei ihm zu bleiben. Aber die Königin sagte, die Flüche seiner Mutter trieben sie fort, man könnte wohl kaum hoffen, daß sie sich öfter sehen könnten; denn das Schicksal sei nun einmal über sie verhängt, und die Tötungen, die ihretwegen stattfänden und die nun schon so zahlreich seien, könnten nicht länger ein Geheimnis bleiben, und sie werde wohl dafür ihre Strafe hinnehmen müssen, obwohl es ihre Schuld gewiß nicht sei. Als sie so klagte, verließ der Hirt rasch die Halle. Er hatte nun gehört, wie die Dinge standen, und ging geradewegs über die Wiese nach der Spalte. Und aus ihr kam er dann auch wieder schnell nach oben, versteckte seinen Zauberstein, zäumte sich wieder auf und wartete, bis Hildur kam. Kurze Zeit später erschien sie allein und mit trauriger Miene, setzte sich auf seinen Rücken und ritt nach Hause. Als sie dort angekommen waren, legte sie ihn wieder in sein Bett, zäumte ihn ab und ging dann selbst schlafen. Obwohl der Hirte die ganze Zeit über hellwach gewesen war, stellte er sich doch schlafend, damit Hildur nichts merken sollte. Als sie aber zu Bett gegangen war, gab er seiner Vorsicht nach und fiel in einen tiefen Schlaf, der bis zum nächsten Morgen währte.

Früh am anderen Tag war der Bauer bereits wach geworden; denn es ließ ihm keine Ruhe zu erfahren, ob der Schafhirt noch am Leben war; denn er befürchtete, daß es ihm wie den anderen in der Nacht ergangen sei. Während sich nun der Bauer anzog, wachten auch die anderen auf und zogen sich ebenfalls an. Als nun der Bauer an das Bett seines Schafhirten trat und ihn berührte, merkte er, daß er am Leben war, und dankte Gott dafür. Da wachte auch der Hirt frisch und fröhlich auf und zog sich an. Währenddessen fragte ihn der Bauer, ob in der Nacht etwas geschehen sei. Der Schafhirt sagte: „Nein, aber ich habe einen sehr merkwürdigen Traum gehabt.“ „Was war denn das für ein Traum?“ wollte der Bauer wissen. Da begann der Hirt zu erzählen. Er berichtete seinem Bauern alles ganz genau, von dem Augenblick an, wo Hildur an sein Bett getreten war und sie ihm dann den Zaum angelegt hatte. Und dann teilte er dem Bauern alles Weitere mit, woran er sich erinnern konnte. Als er mit seiner Erzählung fertig war, saßen alle schweigend da; nur Hildur sagte zu ihm: „Alles, was du gesagt hast, ist gelogen, wenn du nicht durch ein deutliches Zeichen beweisen kannst, daß es so zugegangen ist, wie du es erzählt hast.“ Der Hirt ließ sich dadurch nicht in Verlegenheit bringen, sondern holte den Ring hervor, den er in der Nacht vom Boden aufgehoben hatte, und sagte: „Wenn man mich auch nicht dazu zwingen kann, einen Traum durch deutliche Zeichen zu beweisen, so trifft es sich doch so glücklich, daß ich einen klaren Beleg dafür habe, daß ich in der Nacht bei den Huldren gewesen bin. Oder ist dies nicht dein Fingerring, Königin Hildur?“ Darauf antwortete Hildur: „So ist es. Und Gott segne dich dafür, daß du mich von dem Fluch befreit hast, den mir meine Schwiegermutter auferlegt hatte. Nur widerwillig beging ich alle Missetaten, die sie mir auferlegt hatte.“

Und dann begann Königin Hildur ihre Geschichte: „Ich war ein Elbemädchen von geringer Herkunft. Aber der, welcher jetzt König von Elbenheim ist, wurde von Liebe zu mir erfaßt und nahm mich wider den Willen seiner Mutter zur Frau. Da wurde die Mutter so böse, daß sie ihrem Sohn nur kurze Freude an mir versprach und wir uns nur ganz selten sehen sollten. Ich aber soll Dienstmagd bei den Menschen werden und jedesmal zur Weihnachtszeit den Tod eines Menschen verursachen. Und das sollte so geschehen, daß ich ihn aufzäumen mußte, während er schlief, und auf ihm den Weg reiten mußte, den ich auch in der Nacht auf dem Hirten ritt, um meinen Gatten zu besuchen. Und das sollte so lange dauern, bis ich wegen dieser Bosheit überführt und deswegen getötet würde, falls ich nicht einen so kecken Mann fände, der mir ins Elbenheim zu folgen wagt und dann beweisen kann, daß er dorthin gekommen sei und gesehen habe, womit sich die Leute dort beschäftigten. Ihr seht also, daß sämtliche Hirten meinetwillen getötet wurden, seitdem ich hier war. Aber ich hoffe, daß man mir das nicht anrechnen wird, was gegen meinen freien Willen geschehen ist. Denn niemand hat den unterirdischen Weg gefunden und ist aus Neugier in die Behausung der Huldren eingedrungen vor diesem mutigen Mann, der mich nun aus meinem Magddienst von dem schlimmen Fluch erlöst hat. Und ich werde ihn dafür belohnen, auch wenn das nicht gleich geschieht. Jetzt kann ich nicht länger hierbleiben. Habt Dank für die Güte, die ihr mir erwiesen. Aber die Sehnsucht zieht mich nach meinem Heim.“ Nachdem sie so gesprochen hatte, verschwand Königin Hildur. Und man sah sie später nie mehr unter den Menschen. Der Schafhirt aber heiratete im Frühjahr und gründete einen Hausstand. Und das konnte er auch; denn der Bauer zeigte sich ihm gegenüber, als er aus seinem Dienst ging, sehr freigiebig. Und dann war er auch selbst nicht ohne Mittel. Alle Leute in seinem Bezirk fragten ihn um Rat und baten ihn um Beistand. So beliebt war er und glücklich, daß die Leute nicht so recht begreifen konnten, wie es zuging, und glaubten, bei ihm hätte jedes Tier zwei Köpfe. Er aber wußte nur zu gut, daß es Königin Hildur war, der er seinen Wohlstand zu verdanken hatte.

Ein Märchen aus Island

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