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Hühner-Gretes Familie

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Hühner-Grete war der einzige ansässige Mensch in dem neuen stattlichen Haus, das für die Hühner und Enten auf dem Rittergut gebaut war; es stand da, wo das alte Ritterschloss gestanden hatte, mit Turm, gezacktem Giebel, Wallgraben und Zugbrücke. Dicht daneben war eine Wildnis von Bäumen und Büschen; hier war einst der Garten gewesen, er hatte sich bis hinab an den großen See erstreckt, der jetzt nur noch ein Moor war. Krähen, Dohlen und Elstern flogen mit Schreien und Krächzen über die alten Bäume hin, eine wimmelnde Menge von Vögeln; es wurden ihrer nicht weniger, wenn man in den Schwarm hineinschoss, sie vermehrten sich eher noch. Man konnte sie bis ins Hühnerhaus hinein hören, wo Hühner-Grete saß und die kleinen Entlein ihr über die Holzschuhe liefen. Sie kannte jedes Huhn, jede Ente, von dem Augenblick an, wo sie aus dem Ei krochen. Wie stolz war sie auf ihre Hühner und ihre Enten, stolz auf das stattliche Haus, das jetzt für sie gebaut war. Reinlich und nett war ihre kleine Stube, das verlangte die Frau des Gutsbesitzers, der das Hühnerhaus gehörte; sie kam oft mit ihren feinen vornehmen Gästen hierher und zeigte die Hühner- und Entenkaserne, wie sie das Hühnerhaus nannte.
Da waren ein Kleiderschrank und ein Lehnstuhl, ja, da war auch eine Kommode, und darauf stand eine blankgeputzte Messingplatte aufgestellt, in die das Wort „Grubbe“ eingraviert war, und das war gerade der Name des alten hochadligen Geschlechts, das hier in der Ritterburg gewohnt hatte. Die Platte war gefunden worden, als man hier grub, und der Küster sagte, sie habe keinen weiteren Wert als den einer alten Erinnerung. Der Küster wusste gut Bescheid über das Gut und die alten Zeiten, er hatte seine Gelehrsamkeit aus Büchern; es lag so viel Geschriebenes in seiner Tischschublade. Er wusste viel von den alten Zeiten, aber die älteste Krähe wusste vielleicht doch noch mehr und schrie es auf ihre Sprache in die Welt hinaus, die verstand jedoch der Küster nicht, wie klug er auch war.
Nach einem warmen Sommertag konnte das Moor so dunsten, dass es vor den alten Bäumen, in denen die Krähen, Dohlen und Elstern hausten, dalag wie ein ganzer See; so hatte es hier ausgesehen, als Ritter Grubbe noch lebte und das alte Schloss mit roten, dicken Mauern dastand. Damals reichte die Hundekette ganz bis vor das Tor; durch den Turm gelangte man in den steingepflasterten Gang, der zu den Gemächern führte. Die Fenster waren schmal, die Fensterscheiben klein, selbst in dem großen Saal, wo der Tanz abgehalten wurde, aber zur Zeit des letzten Grubbe war seit Mannesgedenken nicht getanzt worden, und doch lag da eine alte Kesseltrommel, die bei der Musik benutzt worden war. Hier stand ein kunstvoll geschnitzter Schrank, darin wurden seltene Blumenzwiebeln aufbewahrt, denn Frau Grubbe liebte es, zu pflanzen und Bäume und Kräuter zu ziehen; ihr Gemahl ritt lieber aus, um Wölfe und Wildschweine zu schießen und stets begleitete ihn seine kleine Tochter Marie. In einem Alter von fünf Jahren saß sie stolz zu Ross und sah mit großen schwarzen Augen kühn um sich. Es war ihre Lust, mit der Peitsche zwischen die Jagdhunde zu schlagen; der Vater sah es freilich lieber, dass sie zwischen die Bauernjungen schlug, die kamen, um die Herrschaft vorbeireiten zu sehen.
Der Bauer in der Erdhütte dicht am Schloss hatte einen Sohn Sören im selben Alter mit der kleinen hochadeligen Jungfer, er verstand sich auf das Klettern und musste immer in die Bäume hinauf, um Vogelnester für sie auszunehmen. Die Vögel schrieen, so laut sie nur schreien konnten, und einer der größten hackte ihn gerade über das Auge, so dass das Blut herausströmte, man glaubte, das Auge sei mit draufgegangen, aber es hatte doch keinen Schaden gelitten. Marie Grubbe nannte ihn ihren Sören, das war eine große Gunst, und die kam dem Vater, dem dummen Jörn, zugute; er hatte sich eines Tages versehen, sollte gestraft werden und auf dem hölzernen Pferd reiten: das stand auf dem Hofe mit vier Pfählen statt der Beide und einem schmalen Brett als Rücken; darüber solle Jörn rittlings reiten, und ein paar schwere Mauersteine sollten ihm an die Beine gebunden werden, damit er nicht allzu leicht saß; er schnitt schreckliche Grimassen, Sören weinte und flehte die kleine Marie an; sofort befahl sie, dass Sörens Vater heruntersteigen solle, und als man ihr nicht gehorchte, stampfte sie mit den Füßen auf das Steinpflaster und zerrte an des Vaters Rockärmel, so dass er zerriss. Sie wollte, was sie wollte, und sie bekam ihren Willen, Sörens Vater wurde befreit. Frau Grubbe, die herzukam strich ihrer kleinen Tochter über das Haar und sah sie mit sanften Augen an, Marie verstand nicht, weshalb.
Zu den Jagdhunden wollte sie hinein und nicht mit der Mutter gehen, die dem Garten zuschritt, hinab an den See, wo die Wasserrosen in Blüte standen, wo sich Rohrkolben und Wasserviolen zwischen dem Röhricht wiegten; sie betrachtete all die Üppigkeit und Frische.
„Wie angenehm!“ sagte sie. In dem Garten stand ein zu jener Zeit seltener Baum, den sie selbst gepflanzt hatte, „Blutbuche“ wurde er genannt, eine Art Mohr zwischen den andern Bäumen, so schwarzbraun waren die Blätter; er musste starken Sonnenschein haben, sonst würde er im Schatten grün werden wie die andern Bäume und also seine Eigentümlichkeit verlieren. In den hohen Kastanien waren viele Vogelnester, ebenso in den Büschen und zwischen den grünen Kräutern. Es war, als wüssten die Vögel, dass sie hier geschützt waren, hier durfte niemand mit der Flinte knallen.
Die kleine Marie kam mit Sören hierher; dass er klettern konnte, wissen wir, und es wurden Eier und flaumige Junge aus den Nestern geholt. Die Vögel flogen in Angst und Schrecken davon, kleine und große flogen“ Der Kiebitz draußen vom Felde, Dohlen, Krähen und Elstern flogen in die hohen Bäume und schrieen und schrieen, es war ein Geschrei, wie es das Vogelvolk noch heutigentags anstimmen kann.
„Was macht ihr denn da, Kinder? rief die sanfte Frau. „Das ist ja ein gottloses Unterfangen!“
Sören stand ganz verlegen da, die kleine hochadelige Jungfer sah auch ein wenig zur Seite, dann aber sagte sie kurz und energisch. „Mein Vater erlaubt es mir!“
„Raus! Raus!“ schrieen die großen schwarzen Vögel und flogen davon; am nächsten Tage aber kamen sie wieder, denn hier waren sie zu Hause.
Die stille, sanfte Frau hingegen behielt ihr Heim dort nicht lange, der liebe Gott nahm sie zu sich, bei ihm hatte sie auch ihre wirkliche Heimat, weit mehr als hier im Schloss; und die Kirchenglocken läuteten prächtig, als ihre Leiche zur Kirche gefahren wurde, die Augen der armen Leute wurden feucht, denn sie war ihnen eine gute Herrin gewesen.
Als sie heimgegangen war, nahm sich niemand ihrer Anpflanzungen an, und der Garten verfiel.
Herr Grubbe sei ein harter Mann, so sagte man, aber die Tochter, so jung sie auch war, konnte ihn zügeln; er musste lachen, und sie bekam ihren Willen. Jetzt war sie zwölf Jahre alt und starkgliedrig von Wuchs; sie sah mit ihren schwarzen Augen gerade in die Menschen hinein, ritt ihr Pferd wie ein Bursche und schoss ihre Büchse ab wie ein geübter Jäger.
Es kam hoher Besuch in die Gegend der allervornehmste, der junge König und sein Halbbruder und Kamerad, Herr Ulrik Frederik Gyldenlöve; sie wollten dort wilde Schweine schießen und in Herrn Grubbes Schloss übernachten.
Gyldenlöve saß bei Tische neben Marie Grubbe, er nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und gab ihr einen Kuss, als wenn sie miteinander verwandt gewesen wären, sie aber gab ihm einen Schlag auf den Mund und sagte, sie könne ihn nicht ausstehen, und darüber ward weidlich gelacht, als wenn es etwas Ergötzliches sei.
Das ist es vielleicht auch gewesen; denn fünf Jahre später, als Marie ihr siebzehntes Jahr vollendet hatte, kam ein Bote mit einem Brief; Herr Gyldenlöve bat um die Hand der hochadeligen Jungfer; das war etwas!
„Es ist der vornehmste und galanteste Herr im Reich!“ sagte Herr Grubbe. „Das ist nicht zu verachten!“
„Viel mache ich mir nicht aus ihm!“ sagte Marie Grubbe, aber sie wies den vornehmsten Mann des Landes nicht ab, der an des Königs Seite saß.
Silbergerät, Leinenzeug und gewebte Wollstoffe gingen per Schiff nach Kopenhagen; sie machte die Reise zu Land in zehn Tagen. Die Aussteuer hatte widrigen Wind oder gar keinen Wind; es vergingen vier Monate, bis sie ankam, und als sie kam, war Frau Gyldenlöve weg.
„Eher will ich auf hedenem Laken liegen als in seinem seidenen Bett!“ sagte sie. „Lieber gehe ich auf bloßen Beinen, als das ich mit ihm in der Kutsche fahre!“
An einem späten Abend im November kamen zwei Frauen in die Stadt Aarhus geritten, es waren Gyldenlöves Gemahlin, Marie Grubbe, und ihre Magd; sie kamen aus Vejle, dahin waren sie per Schiff von Kopenhagen gekommen. Sie ritten nach Herrn Grubbes festgemauertem Schloss. Er war nicht sehr erfreut über den Besuch. Er empfing sie mit zornigen Worten, gab ihr aber doch eine Kammer, in der sie ausruhen konnte. Speise und Trank erhielt sie, aber keine freundliche Behandlung; all das Böse, das im Vater wohnte, kam gegen sie zum Vorschein, und daran war sie nicht gewöhnt; auch sie war nicht sanften Sinnes, und wie man in den Wald hineinruft, so ruft es wieder heraus; sie gab bissige Antworten und sprach mit Hass und Bitterkeit von ihrem Eheherrn, mit dem sie nicht leben wollte, weil sie zu ehrbar und anständig war.
So verging ein Jahr, und es verging nicht gerade ergötzlich. Es fielen böse Worte zwischen Vater und Tochter, und das sollte niemals sein. Böse Worte tragen böse Frucht. Was für ein Ende sollte das nehmen?
„Wir beide können nicht unter einem Dache bleiben“, sagte eines Tages der Vater. „Ziehe du fort von hier auf unser altes Gut, aber beiße dir eher die Zunge ab, als dass du Lügen in Umlauf bringst!“
Und dann schieden die beiden voneinander; sie zog mit ihrer Magd nach dem alten Gut, wo sie geboren und aufgewachsen war, wo die stille, fromme Frau, ihre Mutter, in der Grabkammer der Kirche lag; ein alter Viehhirt wohnte auf dem Gut, das war die ganze Dienerschaft. In den Zimmern hing Spinnengewebe, schwarz und schwer von Staub, der Garten wuchs so, wie er wollte, Hopfenranken und Winden schlangen ein Netz zwischen Bäume und Büsche, Schierling und Nessel breiteten sich immer dichter und kräftiger aus. Die Blutbuche war überwuchert und stand im Schatten, ihre Blätter waren jetzt grün wie die der anderen gewöhnlichen Bäume, mit ihrer Herrlichkeit war es vorbei. Dohlen, Krähen und Elstern flogen, ein wimmelnder Schwarm, über den hohen Kastanienbäumen hin, da war ein Lärmen und Schreien, als hätten sie einander wichtige Neuigkeiten zu erzählen.
Jetzt war sie wieder hier, die Kleine, die ihre Eier und Jungen hatte stehlen lassen; der Dieb selber, der sie holte, kletterte jetzt draußen auf blätterlosen Bäumen, saß in dem hohen Mast und bekam seine tüchtigen Prügel mit dem Tauende, wenn er sich nicht schickte.
Das alles erzählte in unserer Zeit der Küster; er hatte es gesammelt und aus Büchern und Aufzeichnungen zusammengestellt; es lag mit viel anderem Geschriebenen in der Tischschublade.
„Auf und nieder, das ist der Welt Lauf!“ sagte er. „Es ist wunderlich zu hören!“ – und wir wollen gern hören, wie es Marie Grubbe erging, deswegen vergessen wir doch die Hühner-Grete nicht, sie sitzt zu unserer Zeit in ihrem stattlichen Hühnerhaus. Marie Grubbe saß zu ihrer Zeit auf dem alten Gut, aber nicht mit dem zufriedenen Sinn wie die alte Hühner-Grete.
Der Winter verging, der Frühling und der Sommer vergingen, dann kam wieder die raue, stürmische Herbstzeit mit den nassen, kalten Meernebeln. Es war ein einsames Leben, ein eintöniges Leben dort auf dem Gut.
Da nahm Marie Grubbe ihre Flinte und ging in die Heide hinaus, schoss Hasen und Füchse, schoss, was sie nur treffen konnte. Da draußen begegnete sie mehr als einmal dem adligen Herrn Paale Dyre aus Nörrebak, auch er ging mit seiner Flinte und mit seinen Hunden. Er war groß und stark, des rühmte er sich, wenn sie miteinander redeten. Er hätte sich mit dem seligen Herrn Brokkenhuus auf Egeskov auf Fünen messen können, von dessen Stärke soviel Wesens gemacht wurde. – Palle Dyre hatte nach seinem Beispiel in seinem Tor eine eiserne Kette mit einem Jägerhorn aufhängen lassen, und wenn er nach Hause ritt, ergriff er die Kette, hob sich mit dem Pferd von der Erde und blies auf dem Horn.
„Kommt selbst und seht es Euch an, Frau Marie!“ sagte er. „Auf Nörrebak weht ein frischer Wind!“
Wann sie auf sein Schloss kam steht nicht aufgezeichnet, aber auf den Leuchtern in der Nörrebaker Kirche war zu lesen, dass sie von Palle Dyre und Marie Grubbe auf Nörrebak geschenkt seien.
Körper und Kräfte hatte Palle Dyre, er trank wie ein Schwamm, er war wie eine Tonne, die nicht zu füllen ist, er schnarchte wie ein ganzer Schweinestall; rot und aufgedunsen sah er aus.
„Verschlagen und boshaft ist er!“ sagte Frau Palle Dyre, Grubbes Tochter. Bald hatte sie das Leben satt, aber dadurch wurde es doch nicht besser.
Eines Tages stand der Tisch gedeckt, und das Essen wurde kalt; Palle Dyre war auf der Fuchsjagd, und die Hausfrau war nicht zu finden. – Palle Dyre kam um Mitternacht wieder, Frau Dyre kam weder um Mitternacht noch am Morgen, sie hatte Nörrebak den Rücken gewendet, war ohne Gruß und Abschied davon geritten.
Es war graues, nasses Wetter; der Wind wehte kalt, es flog ein Schwarm schwarzer schreiender Vögel über sie hin, sie waren nicht so obdachlos wie sie. Zuerst zog sie gen Süden, ganz hinunter bis an das Deutsche Reich, ein paar goldene Ringe mit kostbaren Steinen wurden in Geld umgesetzt, dann ging sie gen Osten, dann kehrte sie um und ritt wieder gen Westen, sie hatte kein Ziel vor Augen, sie war zornig auf alle, selbst auf den lieben Gott, so elend war ihr Sinn; bald war auch ihr Körper elend, sie konnte kaum mehr den Fuß rühren. Der Kiebitz flog von seinem Erdhaufen aus, als sie darüber strauchelte; der Vogel schrie: „Du Dieb“ Du Dieb!“, wie er immer zu schreien pflegt. Nie hatte sie ihres Nächsten Gut gestohlen, aber Vogeleier und junge Vögel hatte sie sich als kleines Mädchen aus Erdhaufen und Bäumen holen lassen; daran dachte sie jetzt.
Da, wo sie lag, konnte sie die Dünen am Strande sehen. Dort wohnten Fischer, aber so weit konnte sie nicht kommen, sie war zu krank dazu. Die großen weißen Strandmöwen kamen über sie hingeflogen und schrieen, wie daheim die Dohlen, die Krähen und die Elstern über den Bäumen des Gartens geschrieen hatten. Die Vögel flogen ganz nahe an sie heran, schließlich schien es ihr, als würden sie kohlschwarz, aber dann ward es auch Nacht vor ihren Augen.
Als sie die Augen wieder aufschlug, war sie gehoben und getragen; ein großer, starker Bursche hatte sie auf seine Arme genommen. Sie sah ihm gerade in sein bärtiges Gesicht, er hatte eine Narbe über dem Auge, so dass die Augenbraue gleichsam in zwei Teile geteilt war; er trug sie, so elend sie war, nach dem Schiff, wo er von dem Schiffer mit bösen Worten empfangen wurde. Am Tage darauf segelte das Schiff. Marie Grubbe kam nicht an Land; sie fuhr also mit. Aber sie kam doch wohl zurück? Ja, wann und wo?
Auch davon wusste der Küster zu erzählen, und es war dies keine Geschichte, die er selber zusammensetzte, er hatte den ganzen eigentümlichen Verlauf aus einem glaubwürdigen alten Buch, das wir selber nehmen und lesen können. Der dänische Geschichtsschreiber Ludwig Holberg, der so viele lesewürdige Bücher und die ergötzlichen Komödien geschrieben hatte, aus denen wir so recht seine Zeit und ihre Menschen kennen lernen können, erzählt in seinen Briefen von Marie Grubbe, wie und wo er ihr in der Welt begegnet ist. Es verlohnt sich schon, das zu hören, darum vergessen wir die Hühner-Grete keineswegs, sie sitzt zufrieden und wohlgeborgen in dem stattlichen Hühnerhaus.
Das Schiff segelte von dannen mit Marie Grubbe; da waren wir ja stehen geblieben.
Jahre auf Jahre vergingen.
In Kopenhagen wütete die Pest, es war im Jahre 1711. Die Königin von Dänemark begab sich in ihre deutsche Heimat, der König verließ die Hauptstadt des Reiches, wer konnte, wandte der Stadt den Rücken. Einer von den Studenten, die noch in Borchs Kollegium, der Freiwohnung für Musensöhne, geblieben waren, zog nun auch von dannen. Es war in der Frühe des Morgens um zwei Uhr; er kam mit seinem Ranzen, der mehr mit Büchern und beschriebenen Papieren gefüllt war als gerade mit Kleidungsstücken. Ein kalter, feuchter Nebel lag über der Stadt, auch nicht ein Mensch war in der ganzen Straße zu sehen, die er durchschritt, ringsumher an Haustüren und Torwegen waren Kreuze gemalt, da drinnen herrschte die Seuche, oder die Bewohner waren ausgestorben. Auch in der breiteren, gewundenen Kjödmangergade, wie die Straße hieß, die vom runden Turm auf das Schloss des Königs zuführte, war niemand zu erblicken. Jetzt rasselte ein großer Leichenwagen vorüber; der Kutscher schwenkte die Peitsche, die Pferde jagten im Galopp dahin, der Wagen war mit Toten angefüllt. Der junge Student hielt die Hand vor das Gesicht und roch an einem starken Spiritus, den er auf einem Schwamm in einer Messingbüchse bei sich trug. Aus einer Kneipe in einer der Seitengassen erschollen kreischender Gesang und unheimliches Gelächter von Leuten, die die Nacht vertranken, um zu vergessen, dass die Seuche vor der Tür stand und auch sie auf den Leichenwagen laden wollte zu den andern Toten. Der Student lenkte seine Schritte der Schlossbrücke zu, wo ein paar kleine Schiffe lagen; eins davon lichtete gerade die Anker, um aus der pestverseuchten Stadt fortzukommen.
„Wenn uns Gott am Leben lässt und wir günstigen Wind haben, gehen wir in den Grönsund bei Falster“, sagte der Schiffer und fragte den Studenten, der mitwollte, nach seinem Namen.
„Ludwig Holberg!“ sagte der Student, und der Name klang wie jeder andere Name, jetzt klingt uns darauf einer des stolzesten Namen Dänemarks entgegen; damals war er nur ein junger, unbekannter Student.
Das Schiff glitt an dem Schloss vorüber. Es war noch nicht heller Morgen, als sie in das offene Fahrwasser hinausgelangten. Es kam eine leichte Brise auf, die Segel blähten sich, der junge Student setzt sich so, dass ihm der frische Seewind ins Gesicht blies, und bald war er eingeschlafen. Das war nun auch das Vernünftigste, was er tun konnte.
Schon am dritten Morgen lag das Schiff vor Falster.
„Kennt Ihr hier jemand am Ort, bei dem ich gegen Entgelt Unterkunft finden kann?“ frage Holberg den Kapitän.
„Ich glaube, Ihr werden gut daran tun, zu der Fährfrau im Borrehaus zu gehen!“, sagte der. „Wenn Ihr sehr galant sein wollt, so redet sie Mutter Sören Sörensen Möller an! Doch es kann sein, dass es ihr nicht ansteht, wenn Ihr zu fein mit ihr verkehrt; der Mann sitzt wegen einer Missetat; sie selber führt das Fährboot, ein Paar Fäuste hat sie!“
Der Student nahm seinen Tornister und ging nach dem Fährhaus. Die Tür war nicht abgeschlossen, der Türgriff gab nach, und er betrat eine gepflasterte Stube, in der die Bettbank mit einer großen Felldecke das hauptsächlichste Stück Möbel war. Eine weiße Henne mit Küchlein war an die Bettbank gebunden und hatte den Wassernapf umgestoßen, so dass das Wasser über den Fußboden floss. Weder hier noch in der Kammer nebenan war ein Mensch zu sehen, da war nur eine Wiege mit einem Kind darin. Das Fährboot kam zurück, es saß nur eine Person darin, ob Mann oder Frau, war nicht leicht zu sagen. Ein großer Mantel verhüllte die Gestalt, und der Kopf verschwand in einer Kapuze. Das Boot legte an.
Es war eine Frau, sie kam und trat in die Stube. Sie sah recht ansehnlich aus, als die ihren Rücken gerade reckte; zwei stolze Augen sahen unter den schwarzen Brauen hervor. Es war Mutter Sören, die Fährfrau; Dohlen, Krähen und Elstern würden einen andern Namen schreien, den wir besser kennen.
Unwirsch sah sie aus, viele Reden liebte sie offenbar nicht, aber so viel wurde doch geredet und abgemacht, dass der Student sich auf unbestimmte Zeit bei ihr einmietete, solange es in Kopenhagen so übel stand.
Und nach dem Fahrhaus kamen aus dem nahe gelegenen Städtchen häufig ein paar ehrenwerte Bürger. Da kamen Franz Messerschmidt und Sivert Sackgucker; sie tranken einen Krug Bier im Fährhaus und diskutierten mit dem Studenten; er war ein tüchtiger junger Mann, der seine Praktika, wie sie es nannten, konnte, er las Griechisch und Lateinisch und wusste Bescheid über gelehrte Sachen.
„Je weniger man weiß, desto weniger bedrückt es einen“, sagte Mutter Sören. „Ihr habt es schwer!“ sagte Holberg eines Tages, als sie ihre Wäsche in der scharfen Lauge weichte und selber die Baumknorren für die Feuerung zuhauen musste.
„Das ist meine Sache!“ sagte sie.
„Habt Ihr von klein an so arbeiten und schleppen müssen?“
„Das könnt Ihr doch von meinen Händen ablesen!“ sagte sie und zeigte zwei freilich kleine, aber harte, starke Hände mit abgebissenen Nägeln. „Ihr seid ja gelehrt genug, um lesen zu können!“
Um die Weihnachtszeit begann ein heftiges Schneetreiben; die Kälte biss gar arg, der Wind blies scharf, als führe er Scheidewasser mit sich, um den Leuten das Gesicht damit zu waschen. Mutter Sören ließ sich nicht anfechten, wie warf den Mantel um und zog die Kapuze über den Kopf. Dunkel war es im Hause schon am frühen Nachmittag; Holzscheite und Torf legte sie auf den Herd und setzte sich dann hin und flickte ihre Schuhe, da war niemand sonst, der es hätte tun können. Gegen Abend sprach sie mehr mit dem Studenten, als das sonst ihre Gewohnheit war; sie sprach von ihrem Mann.
„Er hat aus Fahrlässigkeit einen Mord an einem Schiffer aus Dragör begangen und muss deswegen drei Jahre auf der königlichen Schiffswerft in Ketten arbeiten Er ist nur ein gemeiner Matrose, darum muss das Gesetz seinen Lauf haben.“
„Das Gesetz gilt auch für den höheren Stand!“ sagte Holberg.
„Meint Ihr!“ sagte Mutter Sören und sah in das Feuer hinein, dann begann sie aber wieder. „Habt Ihr von Kai Lykke gehört, der eine seiner Kirchen niederreißen ließ, und als der Pfarrer Mads darüber von der Kanzel herabdonnerte, ließ er Herrn Mads in Eisen und Ketten legen, berief ein Gericht und verurteilte ihn selber, dass er seinen Kopf verwirkt habe, der wurde auch abgehauen; das war keine fahrlässige Tötung, und doch ging Kai Lykke damals frei aus!“
„Er war in seinem Recht – nach der damaligen Zeit“, sagte Holberg. „Jetzt sind wir darüber hinaus!“
„Das könnt Ihr Dummen vormachen!“ sagte Mutter Sören, stand auf und ging in die Kammer, wo „das Gör“, das kleine Kind, lag, sie nahm es auf und bettete es frisch, machte dann dem Studenten sein Lager auf der Bettbank zurecht; er hatte die Felldecke bekommen, er war frostiger als sie, und doch war er in Norwegen geboren.
Der Neujahrsmorgen brach mit klarem, hellem Sonnenschein an, der Frost war scharf gewesen und war noch so scharf, dass der gefallene Schnee hartgefroren dalag, so dass man darauf gehen konnte. Die Glocken in der Stadt riefen zur Kirche; Student Holberg nahm seinen wollenen Mantel um und wollte zur Stadt.
Über das Fährhaus flogen mit Gekrächz und Geschrei Dohlen, Krähen, Elstern, man konnte vor dem Lärmen kaum die Kirchenglocken hören. Mutter Sören stand draußen und füllte einen Messingkessel mit Schnee, um ihn über das Feuer zu setzen und Trinkwasser zu schmelzen, sie sah zu dem Vogelgewimmel empor und hatte ihre eigenen Gedanken dabei.
Studiosus Holberg ging in die Kirche; auf dem Wege dahin und auf dem Heimwege kam er an Sivert Sackguckers Haus am Tor vorüber, dort ward er auf ein Schälchen Warmbier mit Sirup und Ingwer eingeladen; die Rede kam auf Mutter Sören, aber der Sackgucker wusste eigentlich nichts über sie zu erzählen, es wisse wohl kaum jemand etwas. Von Falster sei sie nicht, sagte er, etwas Geld habe sie wohl einmal gehabt, ihr Mann sei ein gemeiner Matrose von heftigem Sinn, einen Schiffer aus Dragör habe er totgeschlagen, „Die Frau prügelt er, und doch verteidigt sie ihn“.
„Ich ließe mir solche Behandlung nicht gefallen!“ sagte die Frau des Sackguckers. „Ich bin freilich auch von besserer Herkunft! Mein Vater war königlicher Strumpfweber!“
„Daher habt ihr auch einem königlichen Beamten zum Ehebund die Hand gereicht!“ sagte Holberg und machte eine Reverenz vor ihr und dem Sackgucker.
Es war Heiligendreikönigsabend. Mutter Sören zündete ein Heiligendreikönigslicht für Holberg an, das heißt drei Talglichte, die sie selber gezogen hatte.
„Ein Licht für jeden Mann!“ sagte Holberg.
„Für jeden Mann?“ sagte die Frau und sah ihn starr an.
„Ja, für einen jeden der Weisen aus dem Morgenland!“ sagte Holberg.
„Ach, so war es gemeint!“ sagte sie und schwieg lange. Aber an jedem Heiligendreikönigsabend bekam er mehr zu wissen, als er bisher gewusst hatte.
„Ihr habt einen liebevollen Sinn für den Mann, mit dem Ihr in der Ehe lebt!“ sagte Holberg. „Und doch sagen die Leute, dass er übel mit Euch verfährt!“
„Das geht niemand etwas an außer mir!“ entgegnete sie. „Die Schläge wären mir dienlich gewesen, als ich noch klein war; jetzt kriege ich sie wohl um meiner Sünden willen! Was er mir Gutes getan hat, das weiß ich!“ Und sie richtete sich ganz auf. „Als ich krank auf der Heide lag und niemand etwas von mir wissen wollte außer den Krähen und Dohlen, die nach mir hackten, da hat er mich auf seine Arme genommen und bekam harte Worte für den Fang, den er auf sein Schiff brachte. Ich bin nicht dazu gemacht, krank zu liegen, und so erholte ich mich denn. Ein jeder hat es auf seine Weise, und so auch Sören; man soll den Gaul nicht nach dem Zaumwerk beurteilen! Mit ihm hab ich trotz allem zufriedener gelebt als mit dem, den sie den galantesten und vornehmsten von allen Untertanen des Königs nannten. Ich habe in Ehegemeinschaft mit dem Statthalter Gyldenlöve, des Königs Halbbruder, gelegt; später nahm ich Palle Dyre. Jacke wie Hose! Ein jeder auf seine Weise und ich auf meine. Das war eine lange Erzählung, aber nun wisst Ihr es!“ Und damit ging sie zur Stube hinaus.
Das war Marie Grubbe! Ein so wunderlicher Spielball des Glücks war sie gewesen! Viele Heiligendreikönigsabende sollte sie nicht mehr erleben, Holberg hat niedergeschrieben, dass sie im Jahre 1716 starb, aber er hat nicht niedergeschrieben, denn er wusste es nicht, dass, als Mutter Sören, wie sie genannt wurde, im Borrehaus auf der Leichenbahre lag, eine Menge großer schwarzer Vogel über das Haus hinflogen, ohne zu schreien, als wüssten sie, dass zu einem Begräbnis Stille gehört. Sobald sie in der Erde lag, waren die Vögel nicht mehr zu sehen, aber am selben Abend wurde in Jütland über dem alten Gut eine Unmenge Dohlen, Krähen und Elstern gesehen, sie schrieen laut durcheinander, als hätten sie etwas zu verkündigen, vielleicht von ihm, der als kleiner Knabe ihre Eier und ihre flaumigen Jungen aus dem Neste nahm, von dem Sohn des Bauern, der auf der königlichen Schiffswert ein Strumpfband aus Eisen bekam,, und von der hochadeligen Jungfer, die als Fährfrau am Grönsund endete.
„Brav! Brav“! schrieen sie.
Und die Familie schrie: „Brav! Brav!“, als das alte Schloss niedergerissen wurde. Sie schreien es noch, und da ist nichts mehr, worüber sie schreien könnten!“ sagte der Küster, wenn er erzählte. Die Familie ist ausgestorben, das Schloss ist niedergerissen, und wo es einst stand, da steht jetzt das stattliche Hühnerhaus mit der vergoldeten Wetterfahne und mit der alten Hühner-Grete. Sie ist so glücklich über ihre hübsche Wohnung; wenn sie nicht hierher gekommen wäre, hätte sie im Armenhaus enden müssen.
Die Tauben gurrten über ihr, die Kalekuten plauderten ringsumher, und die Enten schnatterten.
„Niemand kannte sie!“ sagten sie. „Angehörige hatte sie nicht. Es ist ein Werk der Barmherzigkeit, dass sie hier ist. Sie hat weder einen Entenvater noch eine Hühnermutter und keine Nachkommenschaft!“
Aber sie hatte eine Familie; sie kannte sie nur nicht, und der Küster kannte sie auch nicht, wie viel beschriebene Papiere er auch in seiner Tischshublade hatte, aber eine von den alten Krähen wusste davon, erzählte davon Sie hatte von ihrer Mutter und ihrer Großmutter von Hühner-Gretes Mutter und deren Großmutter gehört, die auch wir kennen seit der Zeit, da sie als Kind über die Zugbrücke ritt und stolz um sich sah, als gehörten die ganze Welt und alle Vogelnester ihr, wir sehen sie auf der Heide in den Dünen und zuletzt im Borrehaus. Die Enkelin, die Letzte des Geschlechts, war wieder in die Heimat zurückgekehrt, wo das alte Schloss gestanden hatte, wo die schwarzen, wilden Vögel schrieen. Aber sie saß zwischen den zahmen Vögeln, von ihnen gekannt und mit ihnen bekannt. Hühner-Grete hatte nichts mehr zu wünschen, sie war bereit zu sterben, alt genug, um zu sterben.
„Grab! Grab!“ schrieen die Krähen.
Und Hühner-Grete bekam ein schönes Grab, das niemand kennt außer der alten Krähe, wenn die nicht auch schon tot ist.
Und nun kennen wir die Geschichte von dem alten Schloss, dem alten Geschlecht und von Hühner-Gretes ganzer Familie!

Quelle: Hans Christian Andersen

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