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Vor Zeiten regierte einmal ein Schah mit Namen Iskander*1. Vor ihm hatten alle Barbiere furchtbare Angst, denn jeden, der ihm das Haar geschnitten hatte, ließ er hinrichten. Lange Zeit kam niemand hinter das Geheimnis, warum Iskander die Barbiere hinrichten ließ. Eines Tages erschien Iskander in der Stadt Samarkand. Auch dort kostete das vielen Barbieren das Leben. Schließlich war kein einziger mehr übrig. Man suchte hin und her, bis man einen greisen Urgroßvater entdeckte, der in seiner Jugend Barbier gewesen war. Ihn führte man in den Palast, und der Wesir befahl: „Geh und schneide unserem Schah das Haar!“ – „Es soll mir ein Vergnügen sein“, antwortete der Greis. Er wusste ja nicht, dass Schah Iskander keinen einzigen Barbier am Leben ließ. Als der Alte sein Werk begann, entdeckte er plötzlich auf Iskanders Kopf zwei Hörner. Der Barbier sprach kein Wort, beendete seine Arbeit, aber als er weggehen wollte, befahl Iskander plötzlich: „Ruft den Henker!“ – „Habt Gnade mit mir, gütigster Schah!“ flehte der Greis. „Ich habe viele Enkelkinder – was nützt Euch mein wenig Blut?“ Dem Schah tat der Alte leid, und er nahm ihm den feierlichen Eid ab, keinem Menschen zu sagen, dass Iskander Hörner hat. So vergingen viele Tage. Der Alte gedachte seines Eides und bewahrte Stillschweigen. Doch das Geheimnis raubte ihm den Schlaf und ließ ihm keine Ruhe. Es blähte ihn auf, anfangs wie eine Melone, dann wie einen Samowar und schließlich wie eine gewaltige Trommel.
Der Alte konnte das Geheimnis nicht länger mit sich umhertragen. Er flüchtete aus der Stadt in die Berge. An einer öden Stelle fand er einen verlassenen ausgetrockneten Brunnen. Er hielt nach allen Seiten Umschau, beugte sich über den Rand des Brunnens und schrie dreimal:
„Is-kan-der hat Hör-ner!
Is-kan-der hat Hör-ner!
Is-kan-der hat Hör-ner!“
Kaum hatte er diese Worte gerufen, schrumpfte sein Leib ein, und das Geheimnis quälte ihn nicht mehr. Wohlgemut und heiter kehrte er heim. Aus dem Brunnen aber wuchs sehr bald ein schöner, langer Schilfstängel empor. Ein junger Hirt, der in den Bergen Schafe weidete, kam am Brunnen vorbei und sah das Schilfrohr. Erfreut schnitt er es ab und schnitzte sich daraus eine Flöte. Eben wollte er sein Lieblingslied auf ihr zu spielen, da entfuhr es ihm: „Wie sonderbar! Was ist denn das?“ Wie sehr der junge Hirt sich auch bemühte, die Flöte wollte ihm nicht gehorchen, sondern wiederholte in allen Tonarten. „Iskander hat Hörner!“
Sehr bald gelangte das Lied dem auf seinem Thron sitzenden Schah Iskander zu Ohren. Sogleich befahl er den alten Barbier zu holen. Man schleppte den Angst zitternden Greis in den Palast. Zur selben Stunde drang es von den Bergen wieder laut herab: „Iskander hat Hörner!“ Da überlegte Iskander: ‚Fremde Heere müssen ins Land eingefallen sein und meinen Namen verunglimpfen!‘ Darum schickte er seine Krieger ins Gebirge. Die Krieger packten den jungen Hirten und schleppten ihn in den Palast, ohne dass seine Beine auch nur den Boden berührten. Im Bewusstsein seiner Schuldlosigkeit dachte der junge Hirt: ‚Wahrscheinlich möchte der Gebieter meine Musik hören.‘ Unbekümmert trat er vor den zürnenden Schah. „Jetzt gestehe, wie hast du es gewagt, deinen Eid zu brechen?“ fuhr Iskander den Greis an. „Wenn Ihr auf mein Blut verzichtet, dann sage ich es“, flehte er. „Gut, ich verzichte darauf“, erwiderte der Schah. Nun erzählte der Alte, wie sich alles zugetragen hatte. Danach war der Hirt mit dem Erzählen an der Reihe. Er berichtete, wie er im Gebirge zu dem Brunnen kam, das Schilfrohr sah, eine Flöte daraus machte und wie diese Flöte ganz von selbst dieses Lied sang, das er nie gehört hatte. Voller Grimm zerbrach Iskander die Rohrflöte und befahl, den Alten und den Hirten davonzujagen. Aber seither wandert im Volk von Mund zu Mund und von den Vorfahren zu den Enkeln die Sage von den Hörnern des Schahs Iskander. Ich habe sie auch erzählt, jetzt wisst ihr sie auch.
Der Alte konnte das Geheimnis nicht länger mit sich umhertragen. Er flüchtete aus der Stadt in die Berge. An einer öden Stelle fand er einen verlassenen ausgetrockneten Brunnen. Er hielt nach allen Seiten Umschau, beugte sich über den Rand des Brunnens und schrie dreimal:
„Is-kan-der hat Hör-ner!
Is-kan-der hat Hör-ner!
Is-kan-der hat Hör-ner!“
Kaum hatte er diese Worte gerufen, schrumpfte sein Leib ein, und das Geheimnis quälte ihn nicht mehr. Wohlgemut und heiter kehrte er heim. Aus dem Brunnen aber wuchs sehr bald ein schöner, langer Schilfstängel empor. Ein junger Hirt, der in den Bergen Schafe weidete, kam am Brunnen vorbei und sah das Schilfrohr. Erfreut schnitt er es ab und schnitzte sich daraus eine Flöte. Eben wollte er sein Lieblingslied auf ihr zu spielen, da entfuhr es ihm: „Wie sonderbar! Was ist denn das?“ Wie sehr der junge Hirt sich auch bemühte, die Flöte wollte ihm nicht gehorchen, sondern wiederholte in allen Tonarten. „Iskander hat Hörner!“
Sehr bald gelangte das Lied dem auf seinem Thron sitzenden Schah Iskander zu Ohren. Sogleich befahl er den alten Barbier zu holen. Man schleppte den Angst zitternden Greis in den Palast. Zur selben Stunde drang es von den Bergen wieder laut herab: „Iskander hat Hörner!“ Da überlegte Iskander: ‚Fremde Heere müssen ins Land eingefallen sein und meinen Namen verunglimpfen!‘ Darum schickte er seine Krieger ins Gebirge. Die Krieger packten den jungen Hirten und schleppten ihn in den Palast, ohne dass seine Beine auch nur den Boden berührten. Im Bewusstsein seiner Schuldlosigkeit dachte der junge Hirt: ‚Wahrscheinlich möchte der Gebieter meine Musik hören.‘ Unbekümmert trat er vor den zürnenden Schah. „Jetzt gestehe, wie hast du es gewagt, deinen Eid zu brechen?“ fuhr Iskander den Greis an. „Wenn Ihr auf mein Blut verzichtet, dann sage ich es“, flehte er. „Gut, ich verzichte darauf“, erwiderte der Schah. Nun erzählte der Alte, wie sich alles zugetragen hatte. Danach war der Hirt mit dem Erzählen an der Reihe. Er berichtete, wie er im Gebirge zu dem Brunnen kam, das Schilfrohr sah, eine Flöte daraus machte und wie diese Flöte ganz von selbst dieses Lied sang, das er nie gehört hatte. Voller Grimm zerbrach Iskander die Rohrflöte und befahl, den Alten und den Hirten davonzujagen. Aber seither wandert im Volk von Mund zu Mund und von den Vorfahren zu den Enkeln die Sage von den Hörnern des Schahs Iskander. Ich habe sie auch erzählt, jetzt wisst ihr sie auch.
Quelle:
(Usbekistan)