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Kater Fritz und die verwunschenen Jungfrauen

1.4
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Es begab sich, dass ein junger Edelmann zu Pferde durch ein weites, einsames Waldgebiet reiste. Seit dem Morgen war ihm keine Menschenseele begegnet, nur das Lied der Vögel begleitete ihn und dann und wann kreuzte ein Tier seinen Weg. Es dämmerte bereits, und er sehnte sich nach einer kräftigen Mahlzeit und einer bequemen Herberge für die Nacht. In der Hoffnung, vor Einbruch der Dunkelheit ein Dorf oder wenigstens einen kleinen Weiler zu erreichen, trieb er sein Pferd zur Eile an. Doch der Wald schien kein Ende nehmen zu wollen. Selbst der Himmel war von einem grünen Blätterdach verdeckt.

Endlich teilte sich das Blattwerk und gab den Blick auf eine kreisrunde Lichtung frei, durch deren Mitte sich plätschernd ein Bächlein schlängelte. Am Ufer des Baches wuchsen wilde Blumen, die eben im Begriff waren, ihre Blüten vor der bevorstehenden Nacht zu verschließen. Der Abend war lau und das Gras am Boden der Lichtung wirkte dicht und weich. So beschloss der erschöpfte Ritter, die Nacht an Ort und Stelle zu verbringen. Hungrig verschlang er den kargen Rest seiner Wegzehrung. Dann legte er sich ins Gras und war alsbald eingeschlafen.

Er erwachte von leisem, glockenhellem Gesang. Als er die Augen aufschlug, bemerkte er, dass der Mond voll am Himmel stand. Rasch setzte er sich auf, um zu sehen, was ihn geweckt hatte.

Er traute seinen Augen kaum. Auf der Lichtung, gar nicht weit von ihm entfernt, tanzte eine Schar junger Mädchen im silbernen Mondlicht. Die Mädchen hielten Schleier in den Händen, die sie in ihrem nächtlichen Reigen auf und nieder schweben ließen, und deren Farben so kräftig waren, dass sie selbst im Mondschein leuchteten. Er sah einen gelben Schleier, dann einen blauen und einen, der blütenweiß schimmerte. Der Schleier des Mädchens, das ihm am nächsten tanzte, war von einem tiefen Rot.

Jedes der Mädchen war eine Augenweide, doch schon bald vermochte er den Blick nicht mehr von der Schönen mit dem roten Schleier zu lösen. Nie zuvor war er einem solch liebreizenden Geschöpf begegnet. Er konnte sich einfach nicht satt sehen an der zarten, weißen Haut und dem vollen, rötlich glänzenden Haar, das ihr bis zu den sanft gerundeten Hüften reichte. Obgleich sie ihn nicht bemerkte, wollte es ihm scheinen, als tanze sie nur für ihn. Aus Sorge, sie zu verschrecken, verhielt er sich jedoch ganz still und rührte sich nicht.

Als der erste Lichtstreif des Morgens die Baumwipfel erreichte, stieg ein dichter Nebel über dem Wasser auf, der sich über die Wiese ausbreitete und die Tänzerinnen einhüllte, bis sie nur noch schemenhaft und schließlich überhaupt nicht mehr zu erkennen waren. Als der Dunst sich kurze Zeit später legte, waren auch die Mädchen fort. Es war, als habe der Nebel sie verschlungen. Er suchte sie überall auf der Lichtung und zwischen den umstehenden Bäumen, doch sie blieben verschwunden. So blieb ihm nichts weiter übrig, als sich wieder ins Gras zu legen und abzuwarten, ob sie zurückkämen. Da seine Nachtruhe jedoch nur von kurzer Dauer gewesen war, fiel er bald wieder in einen tiefen Schlummer.

Als er zu sich kam, stand die Sonne bereits im Zenit. Er erfrischte sich im Bach und bewunderte die zarten Blumen an dessen Ufern, deren leuchtende Farben ihn auf eigentümliche Weise an die Schleier der geheimnisvollen Tänzerinnen erinnerten. Doch nun, im hellen Tageslicht, erschienen ihm die wundersamen Geschehnisse der vergangenen Nacht so unwirklich, dass er glaubte, er müsse geträumt haben. So setzte er seinen Weg fort, wenngleich seine Gedanken bei dem wunderschönen Mädchen mit dem roten Schleier verweilten.

Er war noch nicht weit gekommen, als er plötzlich ein klägliches Miauen vernahm. Verwundert sah er sich um und entdeckte eine verängstige Katze, die hoch oben im Geäst eines Baumes kauerte. Offensichtlich war das Tier bei der Jagd auf einen Vogel dort hinaufgeklettert und wusste nun nicht mehr, wie es hinuntergelangen sollte. Da der Ritter ein gutes Herz besaß, beschloss er, die Katze aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Behände erklomm er den Baum und verhalf dem Tier auf sicheren Boden. „Seid bedankt, junger Herr!“, sprach die Katze, während sie aus grünen, mandelförmigen Augen zu ihm aufblickte. Dem Jüngling indes blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen: „Du kannst sprechen?“
„Nun ja“, schnurrte die Katze, während sie sich verlegen ein Blatt aus dem grauen Pelz zupfte, „es würde mein Zusammenleben mit den Menschen nur unnötig erschweren, wenn sie wüssten, dass ich sie verstehe. Doch da Ihr mich nicht im Stich gelassen habt, will ich Euch mein kleines Geheimnis nicht vorenthalten, wenn ich Euch auch inständig bitte, Stillschweigen darüber zu bewahren. Seid stets willkommen im Revier von Fritz, dem Kater. Und nehmt dies!“ Mit den Pfoten zupfte sich der Kater drei seiner prächtigen Schnurrhaare aus. „Solltet Ihr einmal in Not geraten, so legt eines dieser Haare in Eure Handfläche und pustet es fort. Der Wind wird es zu mir tragen, und ich werde wissen, dass Ihr meine Hilfe benötigt.“ Dankend nahm der Recke die Barthaare an, erkundigte sich nach dem kürzesten Weg ins nächste Dorf und empfahl sich.

Nach kurzer Zeit lichtete sich der Wald, und er erreichte das Dorf, wo er einige Tage rasten und seine Vorräte auffüllen wollte. Abends im Wirtshaus hörte er einen fahrenden Händler von geheimnisvollen Jungfrauen berichten, die in Vollmondnächten ganz in der Nähe auf einer versteckten Waldlichtung tanzen und den zufälligen Beobachter ins Verderben stürzen sollten. Er beeilte sich, den Händler nach Einzelheiten zu fragen, doch es stellte sich heraus, dass der Mann, dem die Geschichte kürzlich in einer der benachbarten Ortschaften zugetragen worden war, nichts Näheres zu sagen wusste. Einige der Dorfbewohner, die der Edle daraufhin ansprach, hatten zwar ebenfalls von den tanzenden Jungfrauen reden hören, doch niemand konnte ihm Auskunft geben, wer die Mädchen waren oder woher sie kamen.

Da erinnerte sich der Jüngling an den klugen Kater Fritz, der auf seinen Streifzügen gewiss so manches aufschnappte. In der Kammer, die ihm die Wirtsleute für die Nacht zur Verfügung gestellt hatten, legte er sich eines der Schnurrhaare in die Handfläche und blies es aus dem Fenster, wo es von einer Windbö erfasst wurde. Bald darauf öffnete sich knarrend die Tür, und hereinspaziert kam Kater Fritz, den er sogleich nach den Jungfern befragte. „Nun“, brummte dieser verschmitzt, „von rassigen Katzendamen weiß ich zu berichten, doch derlei Geschichten kenne ich nicht. Aber ich glaube, ich weiß, wer Euch helfen kann!“ Der Kater führte ihn zu einer winzigen, windschiefen Kate am Rande des Dorfes, in der ein uraltes Weiblein hauste.

Nachdem der Ritter die Alte um ein Schälchen Milch für den Kater gebeten hatte, trug er sein Anliegen vor und erfuhr so von einer mächtigen Zauberin, die auf einer Burg ganz in der Nähe lebte. Vor langer Zeit hatte die Zauberin ihren Wachleuten befohlen, sämtliche hübschen Mädchen und Frauen aus den umliegenden Dörfern zu töten, auf dass man allein ihre eigene Schönheit bewundern sollte. Einer kleinen Gruppe Jungfrauen war es jedoch gelungen, sich im nahen Wald zu verstecken. Die erzürnte Hexe hatte die Mädchen daraufhin mit einem grausamen Zauber belegt. Als unsichtbare Nebelwesen, die den Wald nicht mehr verlassen konnten, mussten sie seither ihr Dasein fristen. Einzig der volle Mond vermochte den Zauber in klaren Nächten soweit zu schwächen, dass den Mädchen für kurze Zeit ihre menschliche Gestalt zurückgegeben wurde. Doch verbrannte jedes Wesen, das vom Blick eines der verzauberten Mädchen getroffen wurde, sofort zu Asche.

Noch am selben Abend machte sich der tapfere Ritter auf zur Burg der Zauberin. Als er jedoch am Tor um Einlass bat, wurde er von den Torwächtern überwältigt und in ein finsteres Verlies geworfen. Während er verzagt auf einen Ausweg sann, spürte er plötzlich einen frischen Luftzug an der Wange. So entdeckte er eine winzige, vergitterte Luke hoch oben im Mauerwerk. Darunter stand ein altes Wasserfass, das einen Rest fauliger Brühe enthielt. Geschwind stieg er auf das Fass, holte Fritzens zweites Barthaar hervor und pustete es nach draußen. Er musste auch dieses Mal nicht lange warten, bis er des Katers leuchtend grüne Augen durch die Gitterstäbe funkeln sah. Im Maul trug Fritz den Schlüssel zu seinem Gefängnis, den er zuvor den Wächtern stibitzt hatte.

Wieder auf freiem Fuß, ritt der Jüngling noch einmal zur Lichtung, um dem Mädchen mit dem roten Schleier wenigstens noch ein einziges Mal nahe zu sein, ehe der Mond seine runde Gestalt verlor. In der Tasche trug er ein Stück festen Tuches. Wie schon in der Nacht zuvor, tanzten die Mädchen im Mondschein und wieder war ihr Tanz von betörender Anmut.

Hinterrücks pirschte er sich nahe genug an die Erwählte heran, dass er einen Arm um ihre Hüften schlingen konnte, ehe sie begriff, wie ihr geschah. Während er mit der freien Hand ihre Augen bedeckte, zog er sie blitzschnell in den Schutz der Bäume. Der Schleier, der sich aus der Nähe betrachtet als zartes Geflecht aus Mohnblüten entpuppte, fiel zu Boden. „Vertrau mir, ich komme als Freund!“, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie zitterte vor Schreck, doch als er vorsichtig die Hand von ihren Augen nahm, öffnete sie sie nicht. Rasch nahm er das mitgebrachte Tuch aus der Tasche und legte ihr eine stramme Augenbinde an, so dass ihr Blick ihm keinen Schaden zufügen konnte. Dann drehte er sie zu sich herum und nahm sie fest in die Arme, um sie zu küssen. Er schmeckte die verführerische Süße ihrer Lippen und war hingerissen, als sie seinen Kuss nach anfänglichem Zögern zu erwidern begann. Doch als er sich schließlich von ihr löste, sah er mit Entsetzen, wie ihr schönes Gesicht im Nebel verschwamm. „Ich bin der Tau auf der Mohnblüte“, hörte er sie flüstern. Noch ehe ihre Worte verklungen waren, war sie fort. Dort, wo sie eben noch gestanden hatte, war nur noch ein grauer Dunststreifen zu sehen, der sich rasch verzog.

Voll Kummer suchte er das Bachufer auf. Als er die Mohnblume fand, bemerkte er staunend, dass die Tautropfen auf den Blütenblättern funkelten, als wären es winzige Diamanten. Auch auf der Butterblume, der Glockenblume und all den anderen Blüten hatten sich feine, glitzernde Tröpfchen niedergeschlagen. In diesem Augenblick begriff er, dass er keine Ruhe mehr finden würde, ehe er die Jungfrauen von ihrem Fluch erlöst und das Mohnblumenmädchen zu der Seinen gemacht hatte. Und so rief er denn mithilfe des dritten Barthaares abermals den listigen Kater herbei. Aufmerksam lauschte Fritz den Sorgen seines einstigen Retters, um bald darauf auf flinken Pfoten ins Dorf zu eilen.

Als der Tag zur Neige ging, hatten sich an die zwei Dutzend Katzen von der Burg der Zauberin versammelt, um in der Dunkelheit ihr misstönendes Lied anzustimmen. Die Burgwächter warfen mit Steinen nach den Tieren, doch die wendigen Katzen wichen den Geschossen ohne Mühe aus und wollten einfach nicht verstummen. Der unerträgliche Katzenjammer schmerzte furchtbar in den Ohren der Bediensteten, und so stahl sich einer nach dem anderen davon. In den frühen Morgenstunden schließlich stürmte die Hexe selbst die Treppe zum Tor hinab, um nachzusehen, weshalb denn niemand dem Lärm ein Ende bereitete. Kater Fritz, der auf diesen Augenblick nur gewartet hatte, sprang ihr zwischen die Füße und brachte sie zu Fall. Mit einem markerschütternden Kreischen stürzte sie die Stufen hinab, wo sie mit zerschmettertem Genick liegen blieb.

Als der Ritter vom Tod der Hexe erfuhr, machten er und Fritz sich sofort auf den Weg in den Wald, um zu sehen, ob auch der Zauber gebrochen war. Sie hatten die Lichtung noch nicht erreicht, da hörten sie bereits das Lachen der Mädchen. Jubelnd liefen sie ihren Befreiern entgegen und dankten dem tapferen Ritter von ganzem Herzen. Als sie erfuhren, dass eigentlich Fritz es gewesen war, der die Zauberin besiegt hatte, herzten und kraulten sie den Kater, bis sein wohliges Schnurren den Wald erfüllte. Dann hob der Ritter seine Auserwählte zu sich aufs Pferd und führte sie heim auf die Burg der Hexe, die er nun sein Eigen nennen durfte. Bald darauf wurde Hochzeit gefeiert, und der einst so düstere Bau erstrahlte in frischem Glanz. Es war ein ausgelassenes Fest. Die Gäste waren sich einig, noch nie zuvor eine so schöne Braut gesehen zu haben. Doch auch die übrigen Mädchen, die selbstverständlich die Brautjungfern waren, eroberten so manches Herz im Sturm. Das Butterblumenmädchen tanzte die ganze Nacht mit einem jungen Prinzen, der sie bald darauf zu seiner Gemahlin und damit zur künftigen Königin seines Landes machte.

Der Ritter und seine junge Frau lebten fortan glücklich auf der Burg. Im Garten, in dem zu Zeiten der bösen Zauberin kein Grashalm hatte wachsen wollen, erblühten plötzlich wilde Blumen in einer Pracht, die ihresgleichen suchte. Im Burghof hingegen waren meist einige Katzen anzutreffen, denn in der Burgküche hielt man immer einen Leckerbissen für die liebenswerten Streuner bereit. Für Kater Fritz war stets ein warmes Plätzchen auf der Ofenbank reserviert, wo er so manche eisige Winternacht verschlief. Eines Abends folgte ihm eine schlanke Katzendame mit glänzend schwarzem Fell. Fortan verbrachten sie die kalten Nächte gemeinsam vor dem Ofen, wo sie sich aneinander kuschelten und sich verliebt die Köpfchen leckten.
Als die Rittersfrau ihrem Mann im Frühjahr einen kräftigen Sohn gebar, konnte auch Fritz sich über Nachwuchs freuen. Stolz präsentierte das Katzenpaar dem Ritter vier stramme Junge. Die beiden Mädchen hatten das herrliche, schwarze Fell von ihrer Mutter geerbt, während eines der Katerchen grauschwarz getigert und damit eine gelungene Mischung seiner Eltern war. Der zweite Kater jedoch besaß einen dichten, grauen Pelz und strahlend grüne, mandelförmige Augen. Als der Ritter den stolzen Vater leise fragte, ob der Kleine denn auch sprechen könne, zwinkerte dieser ihm verschwörerisch zu.

Quelle: Alba

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