Ein König und eine Königin hatten eine kleine Tochter, die Lilla Rosa genannt wurde. Auch wenn man überall in der Welt suchen würde, könnte man kein hübscheres Kind als Lilla rosa finden. Doch sie war nicht nur hübsch, sondern auch lieb und gut, so daß sie von allen geliebt wurde.
Der König, die Königin und ihre zauberhafte kleine Tochter waren sehr glücklich miteinander. Doch dann brach eine Zeit der Trauer an, denn die Königin starb, und der König – er hätte es eigentlich besser wissen müssen, war aber nicht so klug – nahm sich wieder eine Frau. Diese Frau war Witwe, hatte einen durchtriebenen Charakter und eine Tochter namens Lange Leda, die so hässlich und böse war wie Lilla Rosa schön und gut. Die beiden Prinzessinnen wuchsen miteinander im königlichen Palast auf. Die neue Königin, dies schlimme Stiefmutter, und ihre häßliche Tochter, Lange Leda, haßten die arme Lilla Rosa.
Sie drangsalierten sie und behandelten sie wie eine Sklavin, befahlen ihr, dies oder das zu holen und für sie zu schleppen, und bürdeten ihr alle möglichen schweren Arbeiten auf, die eine junge Prinzessin eigentlich nie tun mußte. Lilla Rosa beklagte sich nicht, sondern gab sich große Mühe, die beiden zu lieben und ihnen zu Gefallen zu sein, worauf die Stiefmutter sie nur noch erbittert haßte. Eines Tages spazierte die Stiefmutter mit den beiden Mädchen im Garten umher und hörte zufällig, daß der Obergärtner einem Gehilfen auftrug, eine Axt aus dem Wald zu holen, die dort vergessen war. Darauf sagte die Königin: „Dein Gehilfe hat andere Dinge zu tun. Lilla Rosa soll die Axt holen!“
„Das ziemt sich doch wohl kaum für die Tochter eines Königs, Eure Majestät“, wagte der Gärtner zu widersprechen.
„Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“ sagte die Königin.
„Wenn ich einen Befehl erteile, erwarte ich, daß er befolgt wird. Mach dich auf den Weg, Lilla Rosa. Also ging Lilla Rosa in den Wald hinein und fand die Axt unter einer Eiche.
Drei weiße Tauben saßen auf dem Holzschaft der Axt.
„Liebe kleine Vögelchen, ihr müsst nun wegfliegen, weil ich diese Axt zu meiner Stiefmutter bringen soll“, sagte Lilla Rosa.
„Aber bevor ihr wegfliegt, bekommt ihr noch etwas von mir.“
Sie nahm ein Stückchen Kuchen aus ihrer Rocktasche, zerkrümelte es und hielt es den Tauben auf der Handfläche hin. Die Tauben flatterten von der Axt hoch und schwebten über Lilla Rosas ausgestreckter Hand und fraßen die Krumen auf. Dann riefen sie: Ku-ru, ku-ru“ ,plusterten ihr Gefieder und flogen in die Krone der Eiche hinauf. Lilla Rosa ergriff die Axt und ging nach Hause. Zwischen den Zweigen der Eichen unterhielten sich die Tauben.
„Kur – ru, ku- ru! Womit sollen wir dieses liebe, schöne Mädchen belohnen?“ Da sagte die erste Taube: „Ich mache ihr zum Geschenk, daß sie noch schöner wird. Sie soll so schön werden, wie die Welt es noch nie gesehen hat.“
Die zweite Taube sagte: „Von mir bekommt sie, daß ihr Haar fein gesponnenem Gold gleicht.“
Und die dritte sagte: „Ich verleihe ihr die Gabe, daß Perlen und Diamanten von ihren Lippen fallen, wenn sie lacht.“
Dann breiteten die Tauben ihre Flügel aus und flogen davon.
Als Lilla Rosa mit der Axt zurückkam, geriet jeder, der ihr begegnete, in große Verwunderung. Sie war zwar die gleiche Lilla Rosa, doch es gab gewisse Veränderungen. Sie war nun mit ihrem golden glänzenden Haar so schön wie die Sonne selbst. Als sie ein wenig lachte, geschah ein Wunder. Von ihren Lippen fielen Perlen und Diamanten. Die Stiefmutter geriet außer sich vor Zorn. Sie hatte Lilla Rosa schon immer gehasst, doch nun verdreifachte sich ihr Haß. Was Lange Leda betraf, so sah sie jetzt im Vergleich zu Lilla Rosa geradezu abscheulich aus. Das konnte die Stiefmutter nicht ertragen. Sie versetzte Lilla Rosa eine kräftige Ohrfeige und befahl ihr, ins Badezimmer zu gehen und sich die Haare zu waschen. Lilla Rosa wusch sich folgsam die Haare, worauf sie noch mehr schimmerten und glänzten.
Daraufhin rief die Stiefmutter den Obergärtner zu sich und sagte, daß er die Axt in den Wald zurückbringen und dort liegen lassen solle, wo sie zuvor gelegen hatte. Außerdem schrieb sie ihm vor, welche Worte er sprechen sollte, wenn sie wieder mit der Langen Leda im Garten herumspazierte.
„Gib acht“, sagte sie – „Wenn du nicht genau das tust und sagst, was ich von dir verlange, werde ich dich mit der neunschwänzigen Katze auspeitschen lassen.“
Der Obergärtner war alles andere als begeistert, aber was blieb ihm schon übrig? Eine Königin war eine Königin, und man mußte ihr gehorchen. Also brachte er die Eiche wieder zurück in den Wald. Am nächsten Tag ging die Königin und Lange Leda zu ihrem Vergnügen im Garten spazieren. Der Obergärtner pflanzte mit seinem Gehilfen Rosenbüsche. Als er die beiden Frauen kommen sah, sagte er mit lauter Stimme: „Bob, ich habe die Axt unter der Eiche im Wald liegen lassen. Geh und hole sie.“ Darauf sagte die Stiefmutter: „ Nein, nein, dein Gehilfe ist mit anderem beschäftigt. Die lange Leda soll die Axt herbeiholen.“
Daraufhin erwiderte der Obergärtner, das was ihm die Königin befohlen hatte: „ Das ziemt sich wohl kaum für die Tochter eines Königs, Eure Majestät.“
„Kümmere dich um deinen eigenen Kram“, sagte die Stiefmutter. „Wenn ich einen Befehl gebe, erwarte ich, daß er befolgt wird. Mach dich sofort auf den Weg, Lange Leda, und schaff mir die Axt herbei.“ Murrend und schimpfend ging Lange Leda in den Wald. Als sie die Axt unter den Eichen fand, hockten drei Tauben auf dem Schaft.
„Weg mit euch!“ schrie Lange Leda, hob eine Handvoll Erde und warf sie nach den Tauben. Die Tauben brachten sich in der Krone der Eiche in Sicherheit, während Lange Leda mit der Axt nach Hause ging. Zwischen den Zweigen berieten sich die Tauben.
„Ku-ru, ku- ru! Womit sollen wir dieses garstige Mädchen betrafen?“
Da sagte die erste Taube: „Ich bestrafe sie damit, daß sie zweimal so scheußlich aussieht wie bisher.“
Die zweite Taube sagte: „Von mir wird sie daduch bestraft, daß ihre Haare einem Dornengestrüpp gleichen.“
Und die dritte Taube sagte: „Zur Bestrafung soll ihr bei jedem Lachen eine Kröte aus dem Mund hüpfen.“
Dann breiteten die Tauben ihre Flügel aus un d flogen davon.
Als Lange Leda wieder den Garten betrat, warfen der Obergärtner und sein Gehilfe nur einen Blick auf sie, bevor sie eilig davonrannten. Die Königin aber stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht. Lange Ledas Gesicht war inzwischen so hässlich geworden, daß man es gar nicht beschreiben kann, und ihr Haar stand von ihrem Kopf ab wie ein Dornengestrüpp. Als sie über den davonlaufenden Gärtner lachen mußte, sprang ihr eine Kröte aus dem Mund. Folglich ist ziemlich wahrscheinlich, was uns berichtet wurde: sie habe nie mehr in ihrem Leben gelacht. Wenn die Stiefmutter Lilla Rosa zuvor gehasst hatte, so kannte ihr Haß nun keine Grenzen mehr. Sie sagte bei sich: „ Lilla Rosa muß sterben und wird auch sterben!“ Sie ließ den Kapitän eines Schiffes zu sich rufen, der Vorbereitungen traf, in ein fernes Land zu segeln. Die Stiefmutter sagte zu ihm: „Ich gebe Euch tausend Goldstücke, wenn Ihr die Prinzessin Lilla Rosa mitnehmt, und sie auf hoher See über Bord werft. Falls Ihr Euch weigert, meinen Befehl auszuführen, werde ich Euch aufs Rad flechten lassen.“
Da erwiderte der Kapitän: „ Gut, dann gebt mir tausend Goldstücke, den ich will wahrlich nicht aufs Rad geflochten sein.“
Noch in derselben Nacht, als Lilla Rosa tief und fest schlief.- die Stiefmutter hatte ihr heimlich Schlafmittel gegeben-, trug der Kapitän sie auf sein Schiff und setzte die Segel. Sie sah so wunderschön, so zauberhaft aus, als sie schlafend dalag, daß er zu sich sagte: „Nein, ich bringe es nicht über mich. Ich werde sie zu jenem fernen Land mitnehmen und sie dort lassen. Woher soll die Königin erfahren, daß Lilla Rosa noch am Leben ist, wenn ich allein zurückkehre?“
So sahen die Pläne des Kapitäns aus, doch es sollte anders kommen. Auf hoher See brach ein gewaltiger Sturm los und zerstörte das Schiff. Der Kapitän und seine Mannschaft konnten sich in das Rettungsboot flüchten und ruderten weg, ohne ein Gedanke an Lilla Rosa zu verschwenden. War das also das Ende der armen Lilla Rosa? Nein, das war es nicht.
Anscheinend hatten selbst die rauen, tobenden Wogen Mitleid mit ihr. Sie trugen sie hinweg, weiter und immer weiter, bis Lilla Rosa schließlich an den Strand einer kleinen grünen Insel gespült wurde. Auf dieser kleinen grünen Insel lebte Lilla Rosa ganz für sich allein, aß wilde Beeren und Wurzeln,
trank das Wasser einer kleinen klaren Quelle und schlief auf einem Lager aus Farn. Manchmal war ihr sehr traurig zumute.
Und wie oft stand sie am sandigen Strand und schaute über die glitzernden Wellen in der Hoffnung, daß ein Schiff vorbei gesegelt käme! Doch kein Schiff ließ sich blicken.
Eines Tages aber tauchte etwas auf. Während sie am Ufer stand, schwemmten die Wellen ihr zwei dinge vor die Füße.
Das eine war eine Kokosnuß, das andere eine kleine, schlanke Galionsfigur von irgendeinem gekenterten Schiff. Diese Galionsfigur war eine Meerjungfrau, trug eine goldene Krone, hatte die Hände über der Brust gefaltet, und ihre Lippen lächelten, obwohl ihre Augen eher streng blickten. Lilla Rosa hob Kokosnuß und Galionsfigur auf und trug sie zu einem engen Tal voller Farne, wo sie ihr Ruhelager hatte. Mit einem spitzen Steinsplitter durchstach sie die Löcher an der Oberseite der Kokosnuß und trank die Milch. Oh, das war gut!
Dann ergriff sie einen großen Stein und hämmerte und hämmerte auf der Kokosnuß herum, bis die Schale entzweibrach. Nachdem sie ein wenig davon gegessen hatte, dachte sie: „Ich wollte diesen Festschmaus eigentlich mit den Vögeln teilen!“ Und was tat sie nun? Sie nahm die Meerjungfrau, stellte sie auf ihren Schwanz und band sie mit ihrem Gürtel aufrecht an einen Baumstumpf fest.Dann setzte sie die aufgebrochene Kokosnuß auf die Krone der Meerjungfrau und rief: „Hier ist ein Frühstück für euch, kleine Vögel!“ Dann entfernte sie sich ein Stückchen und setzte sich zwischen die Farne und wartete.
Die Sonne schien warm, die Luft war mild, und die Wellen, die sich am Ufer brachen, flüsterten: „Husch!“ und immer wieder „Husch!“ Lilla Rosa gähnte, schloß die Augen und schlief ein.
Ihr träumte, sie lausche einem schönen, innigen Lied, einem Lied, schöner als alles, was sie bisher je gehört hatte. Als sie aufwachte, hörte sie den Gesang noch immer. Also stand sie auf, folgte der Melodie und kam dorthin zurück, wo sie die Meerjungfrau an den Baumstumpf gebunden hatte. Doch was bekam sie dort zu sehen? Keinen Baumstumpf, keine Meerjungfrau und keine Kokosnuß, sondern einen blühenden, duftenden, süß duftenden Lindenbaum, auf dessen höchstem Zweig eine Nachtigall saß und sang. Doch nicht nur die Nachtigal sang, sondern auch jedes kleinste Blatt am Baum machte Musik. Es erklang die herrlichste Harmonie, die je ein Mensch auf Erden gehört hatte.
„Oh“, sagte Lilla Rosa, “Oh. Ich glaube, ich werde nie mehr traurig sein.”
Wenn sie danach an irgendeinem Tag fürchtete, gleich wieder traurig zu werden, dann mußte sie sich nur unter die Linde setzen und der singenden Nachtigall und den musizierenden Blättern zuhören, und ihre Trauer verwandelte sich in Glückseligkeit. Sie stand nun auch nicht mehr so häufig am Meeresstrand und hielt nach einem Schiff Ausschau, das ja doch nicht kam. Als schließlich zu guter Letzt tatsächlich ein Schiff auftauchte, bemerkte sie es nicht, weil sie unter der Linde saß und dem Gesang der Nachtigall und der Musik der Blätter lauschte. Es war ein prächtiges weißes Schiff, das da herbeigesegelt kam, und es gehörte einem jungen Prinzen. Der Prinz war selbst an Bord, da es sein besonderes Vergnügen war, überall in der Welt herumzufahren. Das Meer war ruhig, der Wind kam vom Lande.
Als sich das Schiff der Insel näherte, erklang betörend schöne Musik. Darauf sagte der Kapitän: „Euer Hoheit, sicher ist diese Insel verzaubert.“ Am liebsten hätte er sofort kehrtgemacht und wäre weggesegelt, doch der Prinz widersprach: „Nein, ich will an Land gehen und herausfinden, woher diese Musik kommt.“ Und er ging an Land und gelangte dorthin, wo die Nachtigall und die Lindenblätter Musik machten. Und dort saß Lilla Rosa im Gras unter dem Baum.
„Oh! Oh! Das Herz des Prinzen schien ihm aus der Brust hüpfen zu wollen, denn er hätte nie geglaubt, daß jemand so schön sein könnte. Lilla Rosa war überglücklich, nach den langen Monaten der Einsamkeit endlich wieder einen Menschen zu erblicken, sprang auf und lief mit ausgestreckten Armen auf den Prinzen zu. Dann erzählte sie dem Prinzen ihre traurige Geschichte, worauf er sagte: „ Ich werde dich nach Hause mitnehmen, und du sollst nie mehr einsam sein.“
Er führte sie zu seinem Schiff und machte sich auf die Heimfahrt in sein Heimatland. Lilla Rosa war gewiß selig, die Insel verlassen zu können, doch andererseits…….Nun ja, sie war ein wenig traurig darüber, daß sie diese wundervolle Musik nun nie mehr hören würde. Wie? Nie mehr? Liebe Lilla Rosa, deswegen brauchst du nicht besorgt zu sein. Die Musik flutet über das Wasser…… Oh, Wunder aller Wunder, die Linde hat sich selbst entwurzelt
und kommt durch die Luft hinter dem Schiff hergeflogen.
Die Nachtigall sitzt noch immer auf dem höchsten Zweig und macht mit den Blättern besonders schöne und volle Musik. Zu den Klängen dieser Musik brachte der Prinz Lilla Rosa heim zu seinem Palast. Dort segelte die Linde sacht in den Garten hinab; Lilla Rosa und der Prinz nahmen je einen Spaten zur Hand und pflanzten sie in die Erde.
Zu den Klängen dieser Musik verliebten sie sich und heirateten. Nach einiger Zeit gebar Lilla Rosa einen wunderschönen Knaben. Ihr Glück war nun übergroß, und Lilla Rosa schickte ihrem Vater, dem König, einen Brief, in dem sie nun alles berichtete, was ihr widerfahren war. Sie schrieb nicht, daß ihre Stiefmutter die Ursache all ihere beschwerlichen Abenteuer gewesen war. Sie dachte sich nämlich: „Warum soll ich Unglück stiften? Vergangenes soll auch vergessen sein!“
Als der König diesen Brief erhielt, war er selig vor Freude. Er wollte am liebsten ein Schiff besteigen und Lilla Rosa besuchen. Doch die Stiefmutter sagte: „Was? Damit während deiner Abwesenheit dein Reich zerfällt und zugrunde geht?
Nein, nein, das kommt nicht in Frage! Lange Leda und ich werden dorthin fahren und Lilla Rosa, ihren Mann und ihren kleinen Knaben hierher zurückbringen.!“
Obwohl der König nur ungern nachgab, tat er es schließlich doch, denn er hatte um es ehrlich zu sagen, Angst vor seiner Frau. Die Stiefmutter und die Lange Leda bereiteten ihre Abreise vor. Als erstes ging die Stiefmutter zu einer Hexe, die ihre ganz besondere Freundin war. Von dieser Hexe bekam sie ein Gewand aus vielfarbiger Seide, das mit Gold bestickt war.
Das Gewand war herrlich anzusehen……doch wehe dem, der es anzog! Die Stiefmutter zeigte das Gewand dem König und sagte: „Ich bringe Lilla Rosa dieses Kleid mit als Geschenk von uns beiden.“
„Sehr hübsch! Aber bring vor allem möglichst rasch Lilla Rosa zu mir, denn mein Herz sehnt sich nach ihr“, sagte der König.
Die Stiefmutter und Lange Leda stachen mit ihrem Schiff in See. Sie kamen ohne Zwischenfälle im Land des Prinzen an, und Lilla Rosa empfing die beiden huldvoll, das sie hoffte, die alte Feindschaft wäre endgültig begraben. Ihr Ehemann, der Prinz, war allerdings alles andere als entzückt über diesen Besuch. Er sagte zu sich selbst: „Daraus kann nichts Gutes werden.“ Er hatte nicht vergessen, wie grausam die Stiefmutter Lilla Rosa behandelt hatte. Und Lange Leda war so abgrundhäßlich, daß er ihren Anblick nicht ertragen konnte.
Immer machte sie ein finsteres Gesicht, was daher rührte, daß sie nicht zu lachen wagte, daß ja sonst eine Kröte aus ihrem Mund hüpfte. Als die Stiefmutter sagte, daß sie und Lange Leda sich nun wieder auf die Heimfahrt machen müßten, wünschte er ihnen von Herzen Lebewohl. Die Stiefmutter erwähnte kein Wort davon, daß sie Lilla Rosa mit sich zurücknehmen wollte, weil der alte König sich so sehr nach ihr sehnte. Nein, daß gehörte ganz und gar nicht zu ihrem Plan. Bevor sie ging, bat sie Lilla Rosa in ihr Zimmer und sagte: „Liebe kleine Tochter, ich habe ein Geschenk für dich von deinem Vater.“ Und sie packte das kostbare Gewand von vielfarbiger Seide aus, das mit Gold bestickt war.
„Oh, wie hübsch!“ rief Lilla Rosa und fügte hinzu, daß sie das Gewand noch am gleichen Abend anziehen wolle, um den Prinzen damit zu überraschen. Die Stiefmutter lachte und sagte: „ Jaja, ich bin sicher, er wird sehr überrascht sein.“
Dann ging sie mit Lange Leda an Bord ihres Schiffes und segelte fort.
Am Abend nahm Lilla Rosa das Gewand und es hielt es sich vor einem hohem Spiegel probeweise vor den Körper. Sie lächelte vor Entzücken, als sie sah, wie herrlich die vielfarbige Seide schimmerte und wie hell die Goldstickerei glänzte. Doch dann kam es ihr vor, als hörte sie ein leises Seufzen oder Flüstern: „Nein, Lilla Rosa, zieh es nicht an!“
Einem Moment überlegt sie hin und her.
Doch dann dachte sie :“ Ach was! Ich darf nicht so töricht und ängstlich sein. Dies ist schließlich ein Geschenk meines lieben Vaters!“ Und sie streifte sich das Gewand über den Kopf………………..Oh weh! Lilla Rosa verschwand, und vor dem Spiegel stand dessen eine große goldene Gans. Diese goldene Gans stieß einen klagenden Schrei aus und flog aus dem offenen Fenster. Von Stund an hörten die die Lindenblätter auf, Musik zu machen, und auch der Gesang der Nachtigall war nicht mehr zu hören.
Der Prinz war ganz von Sinnen vor Kummer und suchte Lilla Rosa überall. Alle versuchten ihn zu beruhigen und sagten, Lilla Rosa sei sicher mit ihrer Stiefmutter und Lange Leda weggefahren, um ihren Vater, den König, zu besuchen. Doch der Prinz sagte: „ Nein, das würde sie nie tun, ohne es mir vorher zu sagen.“ Er weinte und war untröstlich. Lilla Rosas kleiner Sohn jammerte und schluchzte in einem fort.
In einer ruhigen Vollmondnacht sah einer der Fischer des Prinzen einen großen goldenen Vogel in der Spiegelung des Mondes heranschwimmen. Völlig verblüfft – er hatte nämlich nie zuvor einen so wundervollen Vogel gesehen – stützte er sich auf seine Ruder und hielt unwillkürlich den Atem an, weil er das Tier auf keinen Fall erschrecken wollte. Der goldene Vogel wirkte über alles andere als furchtsam. Er schwamm an die Seite des Bootes und begann zu sprechen. Ja, ja, tatsächlich, er sprach mit menschlicher Stimme:
„Guten Abend, Fischersmann.
Wie steht’s zu Hause im Königspalast?
Macht meine Linde Musik?
Singt meine Nachtigall?
Lacht mein kleiner Sohn bei Tag und Nacht?
Ist mein Gemahl immer fröhlicher Stimmung?“
Wie im Traum antwortete der Fischer:
„Zu Hause, im Königspalast, da steht es schlecht.
Eure Linde macht keine Musik.
Eure Nachtigall singt nicht mehr.
Euer kleiner Sohn weint bei Tag und bei Nacht.
Euer Gemahl ist nie mehr fröhlicher Stimmung.“
Die wunderschöne goldene Gans seufzte und sagte:
„Ich Arme,
die ich nun mal auf den blauen Wasser treibe
und nie wieder sein kann, was ich gewesen!
Gute Nacht, Fischersmann.
Ich komme noch zweimal wieder, dann aber niemehr!“
Und damit schwamm der Vogel fort. Der Fischer war völlig durcheinander, ruderte ans Ufer, eilte zum Prinzen und berichtete, was er gesehen hatte. Darauf sagte der Prinz;
„Wenn du mir diesen Vogel einfängst und herbringst, mache ich dich so reich, daß du für dein Leben ausgesorgt hast!“
Am nächsten Abend nahm der Fischer ein Netz und ruderte zu der See hinaus, wo er den goldenen Vogel gesehen hatte. Es war pechschwarze Nacht. Eine Zeitlang schaute er hierhin und dorthin, konnte aber nichts sehen. Doch dann ging der Mond auf und beleuchtete die Wellen. Und auf der silbernen Mondbahn kam der große goldene Vogel geschwommen.
Als er an der Seite des Bootes war, sagte er wie in der vergangenen Nacht:
„Guten Abend, Fischersmann………………“
Und der Fischersmann antwortete:
„Zu Hause im Königspalast……………………“
Und wieder sang der große goldene Vogel:
„Ich, Arme, die ich nun wieder auf den blauen Wassern treibe…….“
Als der Vogel wegschwimmen wollte, lehnte sich der Fischer über den Bootsrand und warf das Netz über ihn.
Da schlug die Gans heftig mit ihren Schwingen und rief mit lauter Stimme: „Laß rasch los oder halte das Netz fest!“
Im gleichen Moment verwandelte sie sich eine große Schlange. Die Schlange zuckte, wand und ringelte sich und schlug auf das Netz ein. Der Fischer war zu Tode erschrocken, hielt das Netz aber mit aller Kraft fest. Die Schlange peitschte das Netz mal hierhin, mal dorthin, doch der Fischer hielt immer noch fest. Die Schlange wand sich und zuckte und rief mit lauter Stimme: „Laß rasch los oder halte das Netz fest.
Und gleich darauf war sie in einen langen, riesigen, feuerspeienden Drachen verwandelt, der das Netz zurückriß, worauf der Fischer in Panik geriet, eiligst zum Ufer ruderte und zum Palast rannte, um dem Prinzen alles zu berichten.
Am nächsten Abend fuhr er mit dem Fischer aufs Meer hinaus und wartete darauf, daß der Mond aufginge. Doch dunkle Wolken bedeckten den Himmel, und der Prinz konnte kaum einen halben Meter weit sehen. Das Boot wurde von den tobenden Wellen hin und her gestoßen.
„Mein Prinz, sollen wir nicht lieber zurückrudern?“ fragte der Fischer. „Nein, nein, nein !“ erwiderte der Prinz heftig. Und auf einmal teilten sich die Wolken, der Mond schien hell, und der große goldene Vogel kam auf sie zugeschwommen – mal auf einem Wellenkamm, dann wieder in einem Wellental. Der Vogel schwamm ganz dicht an das Boot heran und sprach:
„Guten Abend, Fischersmann, guten Abend, mein Prinz!
Wie steht’s zu Hause im Königspalast?
Macht meine Linde Musik?
Singt meine Nachtigall?
Lacht mein kleiner Sohn Bei Tag und bei Nacht?
Ist mein Gemahl immer fröhlicher Stimmung?“
Darauf antwortete der Prinz:
„Zu Hause im Königspalast, da steht es schlecht.
Eure Linde macht keine Musik.
Eure Nachtigall singt nicht mehr.
Euer kleiner Sohn weint bei Tag und bei Nacht.
Und ich. Euer Gemahl, bin nie mehr fröhlicher Stimmung.“
Der wunderschöne goldene Vogel seufzte und wirkte bekümmert, als er sagte:
„Ich Arme,
die ich nun auf den blauen Wellen treibe
und nie mehr sein kann, wie ich gewesen.
Gute Nacht Fischersmann, gute Nacht, mein lieber Gemahl.
Nun komme ich nie mehr wieder.“
Der goldene Vogel wollte gerade wegschwimmen, als ihn der Prinz mit beiden Armen packte und festhielt. Der Vogel schrie und wand sich und schlug mit den Schwingen. Dann rief er laut: „ Laß rasch los oder halte mich fest!“ Sofort wurde aus dem goldenen Vogel eine riesige Schlange. Die Schlange zuckte und wand sich und wollte den Armen des Prinzen entgleiten, doch er hielt sie eisern fest. Da schlug sie ihre Fänge in seine Arme und peitschte ihn mit ihrem Körper und rief wieder: „ Laß rasch los oder halte mich fest!“
Und damit verwandelte sie sich in einen grauenvollen Drachen, der dem Prinzen Feuer ins Gesicht spie.
„Mein Prinz, mein Prinz“, rief der verängstigte Fischer.
„Laßt das Ungeheuer los!“ Doch der Prinz ließ den Drachen nicht los, sondern klammerte sich noch fester an ihn.
Da stieß der Drache schnaubend hervor: „ Laß rasch los oder halte mich fest! Und war im gleichen Moment zu einem mächtigen Geier geworden, der mit den Schwingen schlug und mit seinem scharfen Schnabel zustieß und die Haare des Prinzen mit den Wurzeln ausriß. Der Prinz schloß die Augen und wandte den Kopf ab, packte den Geier aber mit aller Kraft, die ihm verblieben war. Und der Geier schrie:
„Laß rasch los oder halte mich fest!“ und wurde zu einem prachtvollen goldenen Hirsch, der mit dem Geweih angriff und mit den Hufen schlug. Doch immer noch klammerte sich der Prinz fest.
Das Wesen wandelte sich von einem tobenden Tier in das nächste und kämpfte immer weiter und schrie: „Laß los oder halte mich fest!“ Und doch ließ der Prinz nicht los. Am ganzen Körper zitternd, halb ohnmächtig und nur noch mühsam atmend, klammerte er sich an dieses Etwas, das kämpfte, stieß, biß und kratzte, zischte und spuckte.
Und dann lag es nach einem letzten Schrei regungslos in seinen Armen…………
Und das Etwas, das der Prinz nun umklammerte, war seine eigene, geliebte Frau, seine liebe Lilla Rosa. Er hüllte sie in seinen Mantel, und der Fischer ruderte beide nach Hause.
Die Geschichte nähert sich ihrem Ende, denn es gibt nur noch weniges zu berichten.
Am nächsten Morgen gingen der Prinz, Lilla Rosa und ihr kleiner Sohn an Bord eines Schiffes und stachen in See, um Lilla Rosas Vater einen Besuch abzustatten. Als das Schiff landete, stieg Lilla Rosa als erste aus. Als die Stiefmutter sie erblickte, packte sie die Lange Leda beim Arm und stahl sich mit ihr aus dem Palast. Wohin die beiden geflohen sind, weiß keiner, und es interessiert auch keinen.
Der alte König war überglücklich, Lilla Rosa wiederzusehen, denn die Stiefmutter hatte ihm berichtet, seine Tochter sei tot.
Nach einem langen, glücklichen Zusammensein machte sich der Prinz, Lilla Rosa und ihr kleiner Sohn wieder auf den Heimweg in ihr eigenes Land.
Und dort machte die Linde Musik, und die Nachtigall singt.
Lilla Rosas Sohn lacht bei Tag und Nacht, und dort ist der Prinz immer fröhlicher Stimmung.
Quelle: Ruth Manning – Sanders Märchen – Schweden