Es war einmal eine kleine, weiße Ziege. Den ganzen Tag tat sie das, was diese Tiere nun einmal am besten können: Sie meckerte.
Mal war ihr das Gras nicht saftig genug, mal war es zu feucht. Dann wieder schien ihr die Sonne zu hell oder sie beklagte sich über den Regen. Heute gefiel ihr die Farbe ihres Fells nicht, morgen ärgerte sie sich um eine Fliege, die ihr um die Nase brummte.
Wen wundert es, dass alle sie nur Meckerziege nannten?
Darüber jedoch ärgerte sie sich mehr als über alles andere zusammen.
„Es reicht mir nun wirklich“, meckerte sie laut. „Ich verschwinde von hier. Mit euch will ich nichts mehr zu tun haben!“
Schon wandte sie ihrer Herde das Hinterteil zu und wanderte entschlossen davon.
Nachdem sie einige Zeit gegangen war, wurde ihr Hals trocken und sie rief: „Nicht einmal Wasser gibt es unterwegs. Das kann ja wohl nicht wahr sein!“
Entrüstet kickte sie mit ihren Hüfchen gegen einen dicken Stein, der am Weg lag.
Doch was war das? Plötzlich rückte der Felsbrocken zur Seite und machte Platz für einen tiefen Brunnen voll von köstlichem Wasser.
„Bäh, das Zeug da ist bestimmt bitter und schmutzig!“, begann das Zicklein wieder zu schimpfen.
„Nein, mein Quell ist klar und süß“, antwortete eine tiefe Stimme. „Trink nur!“
Durstig beugte sich die Meckerziege über die Brunnenöffnung und schlürfte sich satt.
„Bleib noch ein wenig und schau!“, forderte der Brunnen sie auf.
Meckerziege wollte nicht unhöflich sein. Der Brunnen hatte ihr ja sein gutes Wasser geschenkt. So verweilte sie ein bisschen. Da es ihr überall gleich schlecht gefiel, war das ja egal. Sie hatte sowieso kein Ziel.
Über das Brunnenloch gebeugt sah das Tier in das stille Wasser. Die Ziege erblickte die goldene Sonne, deren wunderbare Strahlen ihr das Fell wärmten. Die Reisende sah kleine weiße Wolken, die lustig tanzten. Grüne Bäume spiegelten sich, die ihr Schatten spendeten. Sie spürte den lauen Wind, der ihr das Fell streichelte.
„Blicke noch einmal hinein!“, verlangte das Wasser.
Meckerziege schaute noch einmal hin. Nun konnte sie auch das grüne, köstliche Gras sehen, das sie so gut satt machte. Bunte Blumen spiegelten sich im Brunnenwasser.
„Nun sieh noch ein drittes Mal in mich hinein“, bat der Brunnen.
Da alles, was sie bisher gesehen hatte, Meckerziege so gut gefiel, tat sie ihm den Gefallen und blickte noch einmal in den Brunnenschacht.
Dort sah sie sich in ihrem weißen Fell. Die Stirn war in Unmutsfalten verzogen, der Mund zum Meckern geöffnet und die spitzen Hörner stoßbereit. „Bäh, was für ein hässliches Biest“, meckerte sie.
Neben dem Bild im Wasser tauchte nun ein Zweites auf, das eine Zwillingsschwester hätte sein können. Dieses Tier sah glücklich aus, der Mund war zu einem Lächeln verzogen, die Augen blickten klar und freundlich und die Ohren wackelten verspielt hin und her.
„Na, welche Ziege gefällt dir besser?“, fragte der Brunnen ruhig.
Meckerziege brauchte nicht lange zu überlegen, dachte an Sonne, Wolken, Gras und Lächeln und stieß ein glückliches Blöken aus.
„Danke, du Zauberwasser!“, rief sie laut.
Dann nahm sie alle vier Beinchen in die Hand und rannte fröhlich zu ihrer Herde zurück, die sie freundlich wieder aufnahm.
Von jenem Tag an war sie die zufriedenste Ziege der Welt und durfte Lächelziege heißen.
Quelle: Maria Sassin