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Märchenbasar

Mischoscha oder der Magier vom oberen See

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Zur Zeit, als es noch weniger Menschen in der Welt gab als heutzutage, wohnte eine aus Mann, Frau und zwei Kindern bestehende Familie hoch oben am Oberen See. Da es an Wild nicht mangelte, so war diesen Leuten der Hunger unbekannt, und sie hätten auch sicherlich sonst ein recht glückliches Leben geführt, wenn die Frau nicht mit einem jungen Mann auf allzu vertrautem Fuß gestanden hätte. Ja sie hatte sogar mit ihm ausgemacht, ihren Mann zu töten, denn sie wußte recht gut, daß es ihr sicherer Tod sein würde, sobald er sie auf verbrecherischen Wegen ertappe.
Ihr Gemahl, der um diese Umtriebe und auch um jenen schwarzen Plan wußte, bewachte sie nun auf Weg und Steg und war auch wirklich eines Tages so glücklich – oder unglücklich –, das Liebespaar aus einem Versteck beobachten zu können. Er hatte Pfeil und Bogen zur Hand; doch nicht ihn, sondern sie wollte er züchtigen. Darauf ging er schweigend nach Hause, setzte sich gedankenvoll in eine Ecke und überlegte sich die Sache etwas ruhiger. Sie zu ermorden, schien eine Grausamkeit gegen seine beiden Kinder zu sein; doch mit ihr weiterzuleben, konnte er auch nicht. Er packte also seine sämtlichen Jagd- und Fischergeräte zusammen und ging fort.
Als darauf die Frau nach Hause kam und ihren Mann noch nicht zurück sah, dachte sie, er habe sich etwa auf der Jagd verirrt und käme zu seinem Tod immer noch zeitig genug; doch als er nach Ablauf von vier Tagen noch nichts von sich hören und sehen ließ, da ahnte sie, was los war, und ließ ihre Kinder nahrungslos in der Hütte sitzen, um unbelästigt ihrem Geliebten folgen zu können.
Die Kinder mußten bald danach ebenfalls die Hütte verlassen, denn das bißchen Fleisch, das sie noch vorfanden, war bald verzehrt, und im Wigwam wuchs kein frisches. Da der jüngere Knabe schwächlich war und noch nicht gut marschieren konnte, so mußte ihn sich sein Bruder häufig auf den Rücken packen und ihn tragen.
Überhaupt nahm sich der ältere Knabe seiner recht liebevoll an; er sammelte Beeren und sonstige Früchte für ihn und gab in jeder Beziehung acht, daß er keine Not litt. Da er ein Messer bei sich hatte, so machte er sich Pfeil und Bogen und schoß allerlei Vögel damit. Wohin sie wanderten, wußten sie natürlich selbst nicht. Zuletzt fanden sie sich am Ufer eines großen Sees.
Während Panigwun, der ältere Knabe, am Ufer den eßbaren Samen einer Pflanze sammelte, amüsierte sich der Kleine damit, daß er Pfeile in den Sand schoß, wobei ihm aber das Unglück passierte, daß einer davon zufällig ins Wasser flog. Panigwun, der dies gesehen hatte, watete gleich hinein, um ihn wieder zu holen, doch als er ihn eben fassen wollte, fuhr auf einmal ein Kanu pfeilschnell an ihn heran, und ein alter Magier ergriff ihn fest am Arm und hob ihn hinein.
»Aber Großvater«, sagte Panigwun, »ich kann doch meinen Bruder nicht so allein zurücklassen; nimm ihn doch auch mit, er wird ja sonst verhungern!«
Doch Mischoscha lachte dazu und fuhr mit der gleichen Schnelligkeit wieder ab. Bald befanden sie sich auf einer großen Insel, wo die Wohnung des Alten stand, die von dessen zwei Töchtern in Ordnung gehalten wurde. Einer davon führte er den jungen Mann zu und sagte: »Hier, meine Tochter, bringe ich dir deinen Gemahl, den ich dir schon so lange versprochen habe.«
Gemahl? dachte diese bei sich selbst. Das ist wohl wieder so ein Unglücklicher, der seiner Schwarzkunst zum Opfer gefallen ist. Doch sie fürchtete sich, etwas zu sagen.
Panigwun gab auf alles genau acht, was um ihn vorging. Am Abend hörte er die beiden Schwestern leise miteinander sprechen. »Ach«, klagte die älteste, »ich dachte, unser Vater würde sich mit seinem letzten Opfer begnügen, und nun hat er schon wieder eins in den Klauen. Der arme Jüngling! Ach, ehe es noch einmal dunkel sein wird, wird es wohl anders um ihn aussehen.«
Als nun Panigwun merkte, daß sie ihn in seiner Lage bedauerten, nahm er die erstbeste Gelegenheit wahr, ihnen sein ganzes Schicksal zu erzählen und daß sein Bruder wahrscheinlich verhungern werde, wenn er nicht irgendwie Hilfe bekäme.
Darauf gaben sie ihm den Rat, zu warten, bis der Alte fest schlafe, und sich dann leise aufzumachen und sich ins magische Kanu zu setzen, das ihn blitzschnell zu seinem Bruder führen würde. Er könne ihm dann Nahrungsmittel mitnehmen, ihm eine kleine Hütte bauen und bequem vor Tagesanbruch wieder zurück sein.
Das tat er denn auch; das Kanu gehorchte ihm und brachte ihn zur rechten Zeit wieder wohlbehalten zurück. Er versuchte es nun jede Nacht.
Doch einst erwachte der alte Mischoscha und vermißte seinen Schwiegersohn. Seine Tochter, die er deshalb fragte, sagte ihm, er sei auf einige Augenblicke vor die Tür gegangen und werde bald hereinkommen. Er glaubte es auch, und als er Panigwun am Morgen wieder an seiner bestimmten Schlafstelle erblickte, freute er sich herzlich, daß seine Töchter die Wahrheit gesprochen hatten.
Als darauf die Sonne aufgegangen war, sagte Mischoscha zu Panigwun: »Höre, Schwiegersohn, ich weiß eine Insel in der Nähe, die voller Seemöweneier liegt, und ich hätte große Lust, mein Kanu damit zu füllen, wenn du mich dahin begleiten willst.«
Da diesem nun augenblicklich keine stichhaltige Ausrede einfiel, so setzte er sich zum Alten ins magische Schifflein, und gleich waren sie am Ufer des besagten Eilands, das mit Eiern dicht übersät war.
»Geh und sammle die Eier«, sagte Mischoscha; »ich will im Kanu bleiben.«
Panigwun gehorchte; doch als er das Land betrat, fuhr der Alte plötzlich ab und rief: »Hört, ihr Seemöwen! Schon vor langer Zeit habe ich euch ein delikates Mittagsmahl versprochen; nehmt’s nicht übel, daß ich dieses Versprechen erst jetzt halte!«
Darauf flogen denn von allen Seiten ganze Wolken von Vögeln herbei, daß sie die Luft völlig verdunkelten.
Dem ersten, der auf Panigwun zukam, schnitt dieser jedoch den Kopf ab, schmückte sich mit seinen Federn und rief: »Seht! So mache ich’s mit jedem von euch, der sich in meiner Nähe sehen läßt! Euer Verlangen, Menschenfleisch zu fressen, ist ungerecht und sündhaft; denn der Große Geist hat euch dazu bestimmt, uns zur Nahrung zu dienen, und nicht umgekehrt! Doch wenn ihr mich auf eure Flügel nehmen und zurück in die Hütte des Magiers tragen wollt, so sollt ihr sehen, daß ich nicht undankbar sein werde.«
Die Möwen ließen sich auch wirklich dazu überreden und trugen ihn hin. Die Töchter steckten verwundert ihre Köpfe zusammen, als er wieder wohlbehalten ankam; doch Panigwun sagte kein Wort und tat überhaupt, als sei gar nichts vorgefallen.
Am nächsten Tag sagte Mischoscha: »Mein Sohn, heute will ich dich auf eine Insel führen, die mit silberglänzenden Edelsteinen bedeckt ist; du mußt mir aber helfen, einige einzusammeln. Sie liefern den schönsten Schmuck, den du dir denken kannst, und besitzen außerdem noch viele medizinene Eigenschaften.«
Panigwun stieg zu ihm ins Boot, und bald war dieses an der bestimmten Insel.
Mischoscha blieb darin sitzen und ließ den jungen Mann allein suchen. »Immer weiter, mein Sohn!« rief er ihm ständig zu. »Dort oben auf der Felsenspitze findest du die schönsten!«
Panigwun kletterte auch wirklich hinauf, doch als er oben war, ruderte der Alte schnell ab und rief: »Komm, großer Fischkönig, und labe dich an dem Opfer, das ich dir schon so lange versprochen habe!«
Augenblicklich kroch ein gräßliches Fischungeheuer an Land und drohte den Jüngling zu verschlingen.
Aber Panigwun trat ihm keck und furchtlos entgegen, zog sein Messer und sprach: »Wo hat sich jemals ein Fisch erkühnt, einen Menschen anzufallen? Der Große Geist hat die Fische zu unserer Nahrung bestimmt, aber nicht umgekehrt. Drum höre nicht auf die Worte des bösen Magiers, sondern trage mich zurück in seine Hütte, und ich werde es dir mit einem großen Stück roten Tuches lohnen!«
Da sich der Fischkönig schon längst ein solches Tuch gewünscht hatte, um sich in seinem Wasserpalast ein königlicheres Aussehen zu geben, so zögerte er keinen Augenblick und trug Panigwun heim. Die Töchter schlugen wieder die Hände vor Verwunderung zusammen, und Mischoscha meinte brummend, sein Schwiegersohn müsse über gewaltige Manitus gebieten; er wolle ihm morgen eine härtere Nuß zu knacken geben.
Am nächsten Morgen sagte er zu ihm: »Komm mit, mein Sohn, denn du mußt mir heute einige junge Adler fangen helfen, deren Nester ich kürzlich ausfindig gemacht habe.«
Bald brachte sie das magische Kanu auf eine Insel, auf der eine hohe Fichte mit den bewußten Nestern stand, und Panigwun mußte hinaufklettern.
Als er oben war, rief Mischoscha: »Wachse ein wenig höher, alter Baum!« Und augenblicklich schoß dieser himmelhoch empor, und der Magier sprach weiter: »Hört, ihr Adler, dort ist der Mann, der eure Jungen stehlen wollte; zeigt ihm einmal, was ihr mit euren Krallen zu leisten vermögt!«
Doch Panigwun zog sein Messer und schrie den von allen Seiten herbeiströmenden Raubvögeln zu: »Wage es keiner, mir nahe zu kommen, denn wer hat euch befohlen, Menschenfleisch zu fressen, da ihr doch uns zur Nahrung dienen sollt? Wenn ihr verschont bleiben wollt, so ladet mich auf eure Flügel und bringt mich zu Mischoschas Hütte zurück!«
Der Adler ließen sich bereden und erfüllten seinen Wunsch.
Am nächsten Tag lud ihn der Alte zu einer Jagdpartie ein. Sie bauten sich auf einer einsamen Insel eine kleine Hütte, und der Zauberer ließ auf einmal die grimmigste Kälte kommen. Als sie sich am Abend zur Ruhe begaben, hängte Panigwun seine Beinkleider neben das Feuer, um sie zu trocknen.
In der Nacht aber stand Mischoscha auf, nahm einen Teil davon und warf ihn ins Feuer. Am Morgen streckte er sich und rief: »Mein Sohn, was mag denn eigentlich aus deinen Beinkleidern geworden sein? Da fehlt ja ein Stück! Wir leben doch wohl nicht in dem Monat, in dem das Feuer anzieht?«
Panigwun ahnte gleich die Absicht, daß er ihn zu Tode frieren wolle; er tat aber, als kümmere es ihn nicht, und erzählte ihm von seinen mächtigen Schutzgeistern, die ihn nie verlassen würden. Danach zog er das übriggebliebene Stück seiner Beinkleidung an das eine Bein, schwärzte das andere mit Kohlen und erklärte sich dann fertig zum Weitermarsch. Ein schreckliches Schneegestöber pfiff durch die Luft, und der Alte glaubte, Panigwun würde mit jedem Augenblick zusammenstürzen. Aber er kam doch wohlbehalten nach Hause.
Nun wollte Panigwun auch einmal seine medizinenen Kräfte an dem Alten versuchen und ihn womöglich umbringen – ein Vorhaben, mit dem die beiden Töchter von Herzen einverstanden waren. »Großvater«, sagte er eines Tages zu ihm, »ich habe dich schon häufig bei deinen Fahrten begleitet und hoffe daher, daß du auch einmal mit mir gehst; ich möchte nämlich gerne meinen kleinen Bruder holen.«
Der Alte war’s zufrieden und fuhr mit.
Der Knabe stand am Fuß einer mit Weidengebüsch bewachsenen Anhöhe und bat Mischoscha flehentlich, ihm doch einige von den Weiden abzuschneiden, damit er sich einen stärkenden Trank daraus bereiten könne.
»Recht gern, mein Sohn«, sagte der Alte schmunzelnd; »oder denkst du vielleicht, daß ich schon zu alt bin, dort hinaufzuklettern?«
Als er nun oben war, sprangen die beiden Brüder schnell in das magische Boot, Panigwun sprach seinen Medizinspruch, und bald befanden sie sich bei den lieblichen Mädchen in der Hütte. Diese freuten sich ungemein und gaben ihnen den Rat, stets die Hand am Boot zu lassen, damit es nicht zum Alten zurückkehre.
Panigwun bewachte es also bis zu dem Tag, wo ihn dann sein Bruder ablösen sollte. Doch ehe dieser kam, übermannte ihn der Schlaf; das Schiff fuhr wieder zu seinem alten Herrn und brachte diesen auch gleich danach zurück.
Da sagte Panigwun: »Großvater, ich möchte gerne meine Kunst im Jagen versuchen; jedoch nicht ohne deine Gesellschaft.«
Mischoscha war’s zufrieden, und er ging mit.
Als sie mehrere Hirsche und Raubvögel geschossen hatten und es Abend geworden war, bauten sie sich schnell eine kleine Hütte, machten Feuer an und legten sich nieder. In der Nacht aber stand Panigwun heimlich auf, nahm die Beinkleider des Alten, warf sie ins Feuer und bat dann seinen Manitu um den greulichsten Schneesturm, der je auf Erden getobt habe.
Dieser machte sich denn auch bald so bemerklich, daß die beiden erwachten.
»Aber Großvater«, sagte Panigwun, »wo sind denn eigentlich deine Beinkleider hingekommen? Oder ist jetzt etwa der Monat, in dem das Feuer anzieht?«
Mischoscha antwortete nicht; er wurde totenbleich und zitterte wie Espenlaub. Bei jedem Schritt wurde er schwächer und schwächer, und anstatt seiner Wohnung näher zu kommen, entfernte er sich mehr und mehr davon, denn Panigwun führte ihn unbemerkt im Kreis herum. Endlich konnte er nicht mehr weiter; seine Beine wurden steif und blieben zuletzt sogar am Boden hängen. Allmählich wuchsen große Wurzeln daran, die Federn auf seinem Kopf wurden zu Zweigen und Blättern, und Mischoscha entpuppte sich als wilder Feigenbaum, der sich dem See zuneigte.
Nun sprang Panigwun ins magische Kanu, fuhr nach Hause und erzählte den Mädchen vom Ende des Alten. Sie freuten sich darüber so sehr, daß sie sterbliche Körper annahmen, die beiden Jünglinge heirateten und mit ihnen das Festland bezogen, wo sie bis zu ihrem Ende ein recht glückliches Leben geführt haben sollen.

Quelle: Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas

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