Ottokars Vater war Förster. Wie jeden Morgen führte ihn sein Weg zuerst am kleinen Bach entlang, der sich zierlich durch den Wald schlängelte und fröhlich vor sich hinplätscherte.
Plötzlich krachte es. Sofort wusste der Förster, dass in der Nähe ein Fangeisen zugeschnappt war und pirschte sich an die vermeintliche Stelle heran. Was er sah, ärgerte ihn furchtbar. „Wieder so ein verflixter Wilderer! Na, wenn ich den erwische!“ Beruhigend sprach er auf den Hasen ein, der in die Falle gegangen war. Schicksalergeben ließ sich das Tier befreien. „Dich nehme ich erst einmal mit. Meine Kinder werden dich gesundpflegen. Dann kannst du wieder herumhoppeln“, sprach der Förster sanft, streichelte das weiche Fell des Hasen und trug ihn umgehend nach Hause.
Ottokar fütterte gerade gemeinsam mit seiner Mutter die Hühner, als er den Vater entdeckte. Neugierig flitzte er ihm entgegen. „Oh, ein Hase! Auch du je, sein Hinterbein ist ja ganz blutig! Hella, es gibt jemanden zu verarzten!“, rief der Junge in Richtung Haus und nahm seinem Vater das verwundete Tier ab.
„So, hier ist es schön warm, mein Kleiner. Gleich kommt meine Schwester und dann bist du bald wieder gesund“, redete Ottokar auf den Hasen ein und legte ihn im Kaninchenstall auf einen Strohballen. Hella stand kurz darauf mit Omas Heilkräuteraufguss, einem sauberen Lappen, Ringelblumensalbe nebst einer Binde neben ihrem Bruder und begann den Patienten zu behandeln.
„Na, wen hat denn euer Vater diesmal mitgebracht?“ Oma Trudi stand in der Tür und beobachtet die Kinder neugierig.
„Einen Hasen! Guck mal, Oma! Er hat ganz blaue Augen! Sooo, …fertig!“ Das Mädchen begutachtete noch einmal den Verband, schnappte sich Schüssel, Lappen sowie die Salbe und trug alles zurück ins Haus.
„So, so! Ein Hase mit blauen Augen also! Seltsam! So einer ist mir mal als Kind begegnet. Das war in der Nacht zum Ostersonntag. Er hatte eine blaue und eine rote Vorderpfote.“ Sie schlurfte langsam zum Verschlag und betrachtete das Tier näher. Beide schauten sich in die Augen. Dann zwinkerte der Hase, sein Mäulchen verzog sich wie zu einem Grinsen und er streckte ihr seine Vorderpfoten entgegen.
„Meister Möppel? Das kann doch nicht sein … ist doch nicht möglich!“ Oma Trudi konnte kaum glauben, was sie sah.
„Das ist wohl der Hase aus deiner Kindheit was?“, lachte Ottokar. „Aber bunte Pfoten hat er nicht!“
„Noch nicht!“, lächelte Trudi versonnen, sprach leise auf den Hasen ein und wackelte nun mit froher Miene zurück ins Haus. Der Junge starrte ihr fassungslos nach, winkte dann aber ab. „Oma wird wunderlich!“
Doch Omas Lächeln verschwand an diesem Abend nicht mehr aus ihrem Gesicht. Das fiel den Kindern natürlich auf.
Nach dem Abendessen brachte Trudi ihre Enkel wie gewohnt zu Bett. „Und nun erzähl uns noch was Schönes“, bettelten ihre Lieblinge, denn Trudi dachte sich immer wieder die tollsten Geschichten aus. Sie holte tief Luft und überlegte einen kurzen Moment.
„Ihr wisst ja, dass Urgroßvater, ebenso wie Großvater und nun euer Vater, Förster war. Auch er brachte mir eines Tages einen verletzten Hasen mit. Und ihr werdet es nicht glauben. Es war der gleiche, der bei uns heut im Stall hockt. Das ist Meister Möppel, da bin ich mir ganz sicher!“
Die Kinder schauten ihre Oma ungläubig an.
„Aber so lange lebt doch niemals ein Hase“, winkte Ottokar ab.
„Und Osterhasen gibt es gar nicht, ist doch was für Babys!“, schmollte Hella.
„Sicher kein gewöhnlicher Hase. Aber dieser ist ein Osterhasenmeister. Wie alt sie werden können, weiß niemand. Einmal im Jahr können sie mit den Menschen sprechen und das ist heute, einen Abend vor Ostersonntag“, erzählte Trudi weiter.
„Das ist ja kaum zu glauben…“, flüsterte Hella ganz aufgeregt. „Da gehe ich nachher gleich mal zu ihm und wünsche mir, dass er für meine bunten Eier nicht so schwere Verstecke aussuchen soll.“
„Das würde ich dir nicht raten. Kann sein, dass du dann gar nichts bekommst. Neugierige Kinder mag er nämlich gar nicht. Ich hab das am eigenen Leib erfahren. Damals verzauberte er alle Kaninchen im Stall zu Osterhasenhelfern. Mitten im Hof entfachte er mehrere Feuer, über denen Kessel mit Wasser hingen. Die Kaninchen holten alle Eier zusammen, welche von den fleißigen Hennen in dieser Zaubernacht zusätzlich gelegt wurden, kochten und bemalten sie. Sogar Farben und Pinsel zauberte Meister Möppel herbei.“
„Aber so ein Osterhase hat doch gar keinen Zauberstab“, entgegnete Hella.
„Meister Möppel hat damals einfach einen Strohhalm über seine langen Ohren geschwungen. Aus dem Halm wurde ein Stöckchen, das hielt er sich an die Nase und murmelte fortwährend Worte, die ich in meinem Versteck nicht richtig verstehen konnte. Irgendwie muss ich seine Aufmerksamkeit erregt haben. Schnurstracks hoppelte er auf mich zu, grinste breit, hob seine bunten Pfoten und sagte: ‚Na so was, ein neugieriges Mädchen! Was machen wir denn da?’ Ich stand da und starrte ihn an. Er redete weiter. Seine blauen Augen blitzten.
‚Du hast Glück! Ich, Meister Möppel, werde dich nicht bestrafen, da ich gerade ausgesprochen gute Laune habe. Um eines jedoch möchte ich dich bitte. Erzähle niemandem, was du hier gesehen hast. Einverstanden? Wenn nicht, wirst du zu keinem Osterfest jemals wieder ein buntes Ei finden!’
Er grinste noch einmal und hoppelte zurück zu den anderen. Ich konnte nicht fassen, dass ein echter Osterhase mit mir geredet hatte. Schnell lief ich ins Haus und warf mich ängstlich aufs Bett. Wem sollte ich das denn erzählen? Niemand würde mir glauben, dachte ich bei mir. So, Kinder‚ wenn ihr diese Nacht irgendwelche Geräusche hört, bleibt besser in euren Betten!“ Oma Trudi schlurfte lächelnd in ihr eigenes Zimmer. Ottokar und Hella machten sehr nachdenkliche Gesichter und gingen ohne ein weiteres Wort zu Bett.
Am nächsten Morgen kitzelte die Sonne die beiden Kinder aus dem Schlaf. Hella nieste kräftig und war hellwach. Nach einem herzhaften Frühstück ging es ans Eiersuchen. So viele hatten die Geschwister noch nie gefunden.
Am Nachmittag fielen Hella Omas Worte ein und sie ging in den Stall. Alle Kaninchen schliefen total erschöpft. Vorsichtig besah sie sich die Pfoten. Tatsächlich hatten alle eine blaue und eine rote Pfote. Da zwinkerte ihr Meister Möppel plötzlich zu und schien zu grinsen.
„Also gibt es dich doch“, flüsterte Hella erstaunt und flitzte zur Stalltür hinaus.
Am Ostermontag war Meister Möppel verschwunden und tauchte nie wieder auf.
Hella fand Jahre später zwei Gläser mit roter und blauer Farbe im Keller. Daneben lag ein Pinsel. Sie lächelte und flüsterte: „Ach, Oma Trudi! Damit hast sicher du damals die Kaninchenpfoten bemalt.“
Der jungen Frau kam es vor, als ob Oma Trudi vom Himmel auf sie herabsah und herzlich lachte.